Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 94 (Auslegung & Kommentar)


Inhalt

Der Dichter dieses Psalms sieht, wie die Übeltäter in voller Gewalt stehen, und leidet empfindlich unter ihrem Druck. Seine Überzeugung von der Oberherrschaft Gottes (von der ja auch der vorhergehende Psalm gesungen hatte) veranlasst ihn, sich an Gott als den erhabenen Richter aller Welt zu wenden. Das tut er mit starker Gemütserregung und großem Ungestüm; er bäumt sich auf, nicht wider Gott, aber wider die Geißelhiebe der Tyrannen. In dem klaren Bewusstsein von Gottes Dasein und in der festen Überzeugung, dass der Höchste auf das Tun der Menschenkinder achte, schilt er seine gottesleugnerischen Widersacher und verkündet triumphierend, dass er durch Gott überwinden werde. Er deutet auch die quälenden Führungen der Vorsehung als heilsame, lehrreiche Züchtigungen und preist darum diejenigen glücklich, die sie erdulden. Der Psalm ist eigentlich - in neuer, ergreifender Form - das alte Rätsel: Warum geht es den Gottlosen so wohl? Wir haben hier wiederum das Beispiel eines frommen Mannes, der in der Anfechtung, die ihm das Trotzen und Pochen der Gottlosen bereitet, sein Herz stillt, indem er ihm vorführt, dass es trotz alledem einen Herrscher im Himmel gibt, der schließlich alles zum Besten lenkt.

Einteilung. In den ersten sieben Versen bringt der Psalmist seine Klage vor gegen die boshaften Unterdrücker. V. 8-11 wendet er sich gegen den Wahn ihres Unglaubens, als nehme Gott keine Kenntnis von dem, was die Menschen tun. Dann zeigt er V. 12-15, dass der HERR die Seinen dennoch segnet und rettet, wiewohl sie eine Zeit lang gezüchtigt werden mögen. Dann fleht er wieder um Hilfe, V. 16, und bezeugt, wie völlig er von Gott abhängig sei, V. 17-19. In V. 20.21 bringt er seine Klage zum dritten Mal vor, und dann schließt er, V. 22.23, mit der zuversichtlichen Erklärung, dass seine Widersacher und alle andern Gottlosen den gerechten Lohn ihrer Taten gewisslich ernten und schreckliche Vertilgung vom HERRN erfahren werden.


Auslegung

1. HERR, Gott, des die Rache ist,
Gott, des die Rache ist, erscheine!
2. Erhebe dich, du Richter der Welt;
vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen!
3. HERR, wie lange sollen die Gottlosen,
wie lange sollen die Gottlosen prahlen
4. und so trotzig reden
und alle Übeltäter sich so rühmen?
5. HERR, sie zerschlagen dein Volk
und plagen dein Erbe.
6. Witwen und Fremdlinge erwürgen sie
und töten die Waisen
7. und sagen: "Der HERR siehet’s nicht,
und der Gott Jakobs achtet’s nicht."


1. HERR, Gott, des die Rache ist, Gott, des die Rache ist, erscheine! Eine sehr natürliche Bitte, wenn die Unschuld mit Füßen getreten, die Bosheit aber gefeiert wird. Ist es überhaupt in der Ordnung, dass das Recht gehandhabt wird - und wer wollte das leugnen? - dann ist es auch ganz geziemend, zu begehren, dass es geschehe. Dieser Wunsch kommt bei dem Psalmdichter gewiss nicht aus persönlicher Rachsucht - denn bei wem das der Fall ist, der würde es doch kaum wagen, sich so offen an Gott zu wenden - sondern aus Liebe zum Recht und aus Mitgefühl für diejenigen, welche ungerechterweise leiden müssen. Wer kann zusehen, wie ein Volk geknechtet oder auch nur ein einzelner zu Boden getreten wird, ohne den HERRN anzurufen, dass er sich erhebe und der gerechten Sache zum Sieg helfe? Dass das Unrecht sich so breit machen kann, wird hier dem Umstande zugeschrieben, dass der HERR sich in die Verborgenheit zurückgezogen hat, und es wird angedeutet, dass sein bloßes Erscheinen genügen würde, den Tyrannen ihr Unterdrücken zu verleiden. Gott braucht sich nur zu zeigen, so siegt die gerechte Sache. Wir bedürfen fürwahr in diesen bösen Tagen einer durchgreifenden Offenbarung seiner Macht; denn die alten Feinde Gottes und der Menschen setzen wieder alle Kraft ein, die Oberhand zu gewinnen, und wehe den Heiligen Gottes, wenn es geschähe!

2. Erhebe dich, du Richter der Welt. Steig auf deinen Richtstuhl und lass dir als dem Allherrscher der Menschen huldigen. Ja noch mehr, erhebe dich, wie Menschen es tun, wenn sie mit aller Wucht einen Hieb führen wollen; denn die übermächtige Sünde der Menschenkinder erfordert einen gewaltigen Schlag deiner Hand. Vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen; erstatte ihnen, was sie andern angetan. Es sei Maß um Maß, eine gerechte Vergeltung, Schlag für Schlag, Hieb für Hieb. Verächtlich schauen die Stolzen auf die armen Frommen hinab und hauen von oben her auf sie ein, wie etwa ein Riese auf seinen Widersacher die Streiche niedersausen lassen würde. Wohlan, HERR, so erhebe dich gleicherweise und lass es die Hoffärtigen erfahren, dass du unendlich viel höher bist über ihnen, als sie es jemals über dem geringsten ihrer Mitmenschen sein könnten. So erfleht der Psalmist mit unverblümten Worten, dass die Gerechtigkeit ihr Vergeltungsamt übe, und seine Bitte entspricht genau derjenigen, welche die leidende Unschuld betet, wenn sie, stumm und doch beredt, ihre schmerzerfüllten Blicke gen Himmel richtet.

3. HERR, wie lange sollen die Gottlosen, wie lange sollen die Gottlosen prahlen? Soll denn das Unrecht immer herrschen? Sollen Knechtung, Raub und Gewalttat nimmer aufhören? So gewiss es einen gerechten Gott im Himmel gibt, der mit Allmacht gewappnet ist, muss früher oder später die Übermacht der Bosheit ein Ende nehmen, muss die Unschuld einmal ihren Beschützer und Rächer finden. Das "Wie lange!" unseres Textes ist die bittere Klage aller Gerechten aller Zeiten und drückt das Staunen aus über das große Rätsel der Vorsehung, nämlich das Bestehen und das Vorherrschen des Bösen in der Welt. Wie oft ist wohl schon dieser trübe Klageseufzer aus den Kerkern der Inquisition, von den Geißelpfählen der Sklaverei und aus den Elendshöhlen der Bedrückung zu Gott emporgestiegen! Zu seiner Zeit wird Gott fürwahr auf die bange Frage seine Antwort hören lassen; aber noch ist das letzte Ende nicht da.

4. Sie sprudeln über, führen vermessene Reden. (Grundtext) Die Gottlosen lassen sich nicht an Taten der Ungerechtigkeit gegen die Frommen genug sein, sondern fügen noch harte Reden, vermessene Prahlereien, freche Drohungen und schändliche Beleidigungen hinzu. Worte verwunden oft mehr als Schwerter; sie sind manchmal so hart, dass man mit ihnen ein Herz zu Tode steinigen kann. Und zwar sprudeln solch böse Reden, wie der Grundtext sagt (vergl. Ps. 59,8), in mächtigem Schwall aus dem Innersten dieser Gottlosen hervor; sie stoßen sie in Menge heraus, wie ein mächtiger Quell das Wasser oder ein speiender Vulkan die glühende Lava. Und dies ist nicht nur hie und da der Fall, sondern es ist ihnen zur Lebensgewohnheit geworden, sie führen solche Worte alltäglich. Werden diese vermessenen Reden nicht endlich die Gerechtigkeit des HERRN also reizen, dass er dazwischen fährt? Es rühmen sich (wörtl. wahrscheinlich: überheben sich) alle Übeltäter. Sie treten bei aller Bosheit gar anmaßend auf, sie brüsten sich mit ihren Übeltaten, als täten sie etwas Gutes, wenn sie die Armen und Elenden zu Boden drücken und über die Gottseligen ihr Gift ausspeien. Es ist die Art der Gottlosen, hochfahrend und großmäulig zu sein, gerade wie die Demut ein Kennzeichen guter Menschen ist. Soll dieses ihr großsprecherisches Wesen von dem erhabenen Richter, der alles hört, was sie sagen, immerdar geduldet werden? Lang, sehr lang haben sie das Feld für sich allein gehabt, und laut, sehr laut haben sie Gott gelästert und seine Heiligen verhöhnt; wird der Tag nicht bald anbrechen, an welchem sie das ihnen verheißene Erbe ewiger Schmach und Schande ausgeteilt bekommen werden?
  So ringen die hart bedrückten Gläubigen mit ihrem Gott und Herrn. Und wird Gott nicht seinen Auserwählten Recht schaffen? Wird er nicht vom Himmel her mit dem Widersacher reden und ihm zurufen: Was verfolgest du mich?

5. HERR, sie zerschlagen dein Volk. Sie zermalmen es unter ihrem Druck und reiben es auf durch ihre höhnenden Reden. Und doch sind diejenigen, welche so von ihnen vergewaltigt werden, das Volk Gottes und werden eben deshalb, weil sie das sind, so hart verfolgt. Der Grundtext hebt das durch die Wortstellung mit allem Nachdruck hervor: Dein Volk, o Jehovah, zermalmen sie! Das ist fürwahr ein dringender Grund für Gott, dreinzufahren! Und plagen dein Erbe. Das im Hebräischen wiederum nachdrücklich vorangestellte dein Erbe oder Besitztum deutet an, dass die Heiligen von dem HERRN selbst zum Eigentum erkoren sind, Gott darum auch besonderes Wohlgefallen an ihnen hat und an ihrem Ergehen den regsten Anteil nimmt. Dies uralte Bundesverhältnis ist eine ganze Rüstkammer voller Beweggründe, welche die Gläubigen ihrem treuen Gott vorbringen können. Wird der HERR nicht für die Seinen einstehen, wenn die Gottlosen sie plagen, sie durch schwere Demütigungen in den Staub drücken, ihre Hoffnung tief darniederschlagen und so auf alle Weise das Volk des HERRN zu vernichten suchen? Wer wollte wohl sein Erbgut verlieren, oder wer würde mit Gleichmut zusehen, wie sein Eigentum geschändet wird? Die so zu Boden gestreckt sind und mit Füßen getreten werden, sind keine Fremden, sondern die erkorenen Lieblinge Jehovahs; wie lange wird er sie eine Beute der grausamen Feinde sein lassen?

6. Witwen und Fremdlinge erwürgen sie und töten die Waisen. Sie lassen ihren Übermut in der schrecklichsten Weise an denen aus, die doch vor allen andern Gegenstand des Mitleids und Erbarmens sein sollten. Gottes Gesetz empfiehlt diese Bedauernswerten in besonderer Weise dem Wohlwollen der rechtschaffenen Menschen, und es ist eine absonderliche Gottlosigkeit, gerade sie als Opfer der Hinterlist und Mordlust herauszusuchen. Muss solch unmenschliches Verhalten den HERRN nicht reizen? Sollen die Tränen der Witwen und das Blut der Waisen umsonst vergossen werden? Sollen die Seufzer der Fremdlinge ungehört verhallen? So gewiss es einen Gott im Himmel gibt, wird er diejenigen heimsuchen, die solche Gräuel begehen. Ob es auch scheint, als sei er säumig über seinen Auserwählten, wird er ihnen doch Recht schaffen, und das in Kürze. (Lk. 18,7.)

7. Und sagen: "Der HERR siehet’s nicht." Das war der Grund ihrer Vermessenheit und zugleich der Höhepunkt ihrer Bosheit. Sie verübten blindlings eine Ruchlosigkeit nach der andern, weil sie von einem blinden Gott träumten. Wenn Menschen glauben, dass Gottes Augen erloschen seien, ist es kein Wunder, wenn sie ihren tierischen Leidenschaften alle Zügel schießen lassen. Die Leute, von welchen hier die Rede ist, hegten den gottlosen Unglauben nicht nur im Herzen, sondern hatten auch den Mut, ihn offen zu bekennen, indem sie den ungeheuerlichen Satz aufstellten, dass Gott viel zu fern sei, als dass er das Tun der Menschen gewahr werden könnte. "Und der Gott Jakobs achtet’s nicht." Welch abscheuliche Lästerung und handgreifliche Lüge! Ist Gott wirklich seines Volkes Gott geworden und hat er seine sorgsame Liebe gegen seine Auserwählten in tausend Gnadentaten erwiesen, wie dürfen dann die Gottlosen die Behauptung wagen, er werde die Untaten, welche die Frommen erdulden müssen, nicht beachten? Die Frechheit eines vom Unglauben aufgeblasenen Menschen kennt keine Grenzen, sonst müsste die Vernunft schon ihn zügeln; aber er hat eben die Schranken des gesunden Menschenverstandes durchbrochen. Den Jakob hatte sein Gott am Jabbok gnädiglich erhört, hatte ihn sein Leben lang geleitet und behütet und von ihm und seinem ganzen Geschlecht gesprochen: "Tastet meine Gesalbten nicht an und tut meinen Propheten kein Leid!"(Ps. 105,15) Und dennoch geben diese unvernünftigen Menschen vor, zu glauben, dass er die gegen die Auserwählten verübte Unbill weder sehe noch achte! Wahrlich, an solchen Ungläubigen geht das Sprichwort in Erfüllung: Wenn Gott einen strafen will, so lässt er ihn zuvor blind werden.


8. Merkt doch ihr Narren unter dem Volk!
Und ihr Toren, wann wollt ihr klug werden?
9. Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören?
Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen?
10. Der die Heiden züchtigt, sollte der nicht strafen,
der die Menschen lehrt, was sie wissen?
11. Aber der HERR weiß die Gedanken der Menschen,
dass sie eitel sind.


8. Merkt doch, ihr Narren unter dem Volk. Die Gottlosen hatten gesagt, Gott merke nichts, und nun ruft der Psalmist, nach dem Grundtext eben dasselbe Wort gebrauchend, ihnen zu, doch aufzumerken und der Wahrheit Beachtung zu schenken. Er nennt sie Narren, oder eigentlich viehisch dumme Leute, und so ist es recht gesagt; und er fordert sie auf, doch zu bedenken und zu verstehen, wenn sie überhaupt dazu fähig seien. Sie hielten sich selbst für klug, ja sie meinten, sie seien die einzigen Pfiffigen in der Welt; er aber schilt sie die Unvernünftigen oder Narren unter dem Volke. Ja, gottlose Leute sind Narren, und je mehr sie wissen, desto närrischer werden sie. Je gelehrter, je verkehrter ist ein wahres Sprichwort. Ist ein Mensch mit Gott fertig, dann ist er auch mit seiner eigenen Menschheit fertig und hat sich dem Ochsen und Esel zugesellt oder vielmehr sich unter sie erniedrigt, denn ein Ochse kennet seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn. Anstatt uns in der Gegenwart wissenschaftlich gebildeter Ungläubigen sehr kleinmütig zu fühlen, wäre es vielmehr an uns, sie zu bedauern. Sie blicken von den Stelzen ihrer Gelehrsamkeit mit Verachtung auf uns nieder; aber, Mann an Mann gemessen, haben wir vielmehr Ursache, auf sie hinabzusehen. Und ihr Toren, wann wollt ihr klug werden? Ist’s nicht hohe Zeit? Ihr seid auf den Wegen der Torheit wohl bewandert; welchen Nutzen habt ihr auf ihnen erreicht? Ist euch denn kein Rest von Vernunft geblieben, kein Körnchen gesunden Menschenverstandes? Wenn in eurem Hirn noch ein Fünklein Erkenntnis glimmt, so hört doch auf Vernunftgründe und erwäget die Fragen, die euch jetzt vorgelegt werden.

9. Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören? Gott hat dies wunderbare Organ gebildet und an der allergeeignetsten Stelle, nahe dem Gehirn, angebracht, und sollte selber taub sein? Er ist einer solchen kunstvollen Erfindung fähig und sollte nicht wahrnehmen können, was in der Welt, die er selber gemacht hat, vorgeht? Er schenkte euch das Gehör und sollte selbst nicht hören können? Die Frage leidet keine Antwort; sie überwältigt den Zweifler, dass er von Verwirrung gepackt wird. Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen? Er gibt uns das Gesicht; ist es denkbar, dass er selbst ohne Sehvermögen sei? Mit Meisterhand hat er den Sehnerv und den Augapfel mit seinem ganzen wunderbaren Mechanismus gebildet; ist es dann nicht ganz widersinnig, dass er selbst außer Stande sein soll, die Handlungen seiner Geschöpfe wahrzunehmen? Gibt es einen Gott, so muss er ein persönliches, mit Vernunft erfülltes Wesen sein, dessen Erkenntnisvermögen keine Schranken gesetzt werden können.

10. Der die Heiden züchtigt, sollte der nicht. strafen? Er weist ganze Völker zurecht; sollte er es nicht an den einzelnen tun können? Die Geschichte zeigt durchweg, dass Gott die Sünden der Völker mit Völkergerichten heimsucht; und er wüsste nicht mit einzelnen Leuten fertig zu werden? - Die folgende Frage ist ebenso kraftvoll, wird aber mit einem Eifer vorgebracht, der dem Frager das Wort abschneidet, so dass der Satz unvollendet bleibt. Sie fängt an: Der die Menschen lehrt, was sie wissen - da stockt die Rede plötzlich; die Folgerung ist zu selbstverständlich, als dass man sie in Worte zu fassen brauchte. Es ist, als ginge dem Schreiber die Geduld aus, sich mit den Unverständigen noch weiter abzugeben. Es ist dem ernstgesinnten Gläubigen manchmal zu Mute, als müsste er den Toren sagen: "Geht eurer Wege! ihr seid es nicht wert, dass man euch mit Beweisen nachläuft! Wäret ihr vernünftige Leute, so würden euch diese Dinge von selbst einleuchten, dass niemand sie euch sagen brauchte. Ich verzichte auf den Versuch, euch zu überführen!" Alles, was die Menschen an Erkenntnis besitzen, kommt von Gott. Die ersten Grundlagen des Wissens wurden unserem Stammvater Adam schon von Gott beigebracht, und jeden späteren Fortschritt hat die Menschheit der göttlichen Hilfe zu verdanken; und der Urheber und Lehrer alles Wissens sollte selber nicht wissen?

11. Ob die Menschen es nun aber zugeben oder leugnen, dass bei Gott Wissen ist, eins erklärt der Psalmist nun aufs bestimmteste: Der HERR weiß die Gedanken der Menschen; denn sie (die Menschen) sind ein (bloßer) Hauch. (Grundtext) Nicht nur hört er ihre Worte und sieht ihre Werke, sondern er nimmt auch die geheimen Regungen ihres Herzens wahr. Es fällt ihm nicht schwer, die Menschen so bis ins Innerste zu durchschauen; denn, sagt der Psalmist, vor ihm sind sie ein bloßer Hauch. Nach des HERRN Schätzung ist es nichts Großes, die Gedanken solch durchsichtiger Eitelkeitsgebilde, wie die Menschen es sind, zu erkennen; er rechnet, was sie alle zusammen sind, in einem Nu und zieht das Ergebnis: ein Nichts! lauter Eitelkeit und Nichtigkeit! Auf die Menschen selbst geht nach dem Grundtext dieses Urteil; aber es besteht auch zu Recht, wenn wir es mit Luther auf die Gedanken beziehen: die Gedanken, der beste Teil, das Geistigste am Menschen, selbst diese sind lauter Eitelkeit und weiter nichts. Der arme Mensch! Und doch brüstet sich dieser elende Wurm, spielt den Alleinherrscher, tyrannisiert seine Staubesgenossen und trotzt seinem Gott! Torheit mengt sich mit der menschlichen Eitelkeit, wie Rauch mit dem Nebel, und macht diese garstiger, aber kein bisschen solider, als sie es für sich allein wäre.
  Wie töricht sind doch die Leute, die meinen, Gott kenne ihre Taten nicht, während es sich in Wahrheit so verhält, dass sogar alle ihre eiteln Gedanken von ihm durchschaut werden! Wie unsinnig ist es, sich aus Gott nichts zu machen, während wir tatsächlich nichts sind vor seinen Augen!


12. Wohl dem, den du, HERR, züchtigst
und lehrst ihn durch dein Gesetz,
13. dass er Geduld habe, wenn’s übel geht,
bis dem Gottlosen die Grube bereitet werde!
14. Denn der HERR wird sein Volk nicht verstoßen
noch sein Erbe verlassen.
15. Denn Recht muss doch Recht bleiben,
und dem werden alle frommen Herzen zufallen.


12. Wohl dem, den du, HERR, züchtigst. Das Gemüt des Psalmisten wird nun ruhig. Er jammert nicht mehr vor Gott und streitet nicht weiter mit den Menschen; er stimmt seine Harfe zu sanfteren Tönen, denn es wird ihm im Glauben klar, dass es um den Gläubigen, auch wenn er aufs schwerste heimgesucht wird, dennoch wohl steht. Das Gotteskind mag sich nicht sonderlich glücklich fühlen, so lange es unter der Zuchtrute des HERRN seufzen muss, aber ein glückliches Menschenkind ist es dennoch; es ist Gott lieb und wert, sonst würde der HERR sich nicht die Mühe geben, es zu züchtigen, und gar köstlich und Glück bringend werden die Wirkungen seiner Heimsuchung sein. Und lehrst ihn durch dein Gesetz. Lehrbuch und Rute, Unterweisung und Züchtigung gehen zusammen und sind gerade in ihrer Verbindung zwiefach heilsam. Trübsal ohne das Wort ist wohl ein heißer Tiegel, aber es fehlt der Fluss, der die Läuterung bewirkt 1: Das Wort Gottes ersetzt diesen Mangel und macht so die feurige Prüfung wirksam. Es bleibt doch dabei: wahres Glück ist vielmehr bei denen, die unter Gottes züchtigender Hand leiden, als bei denen, die anderen Leiden zufügen. Es ist wahrlich besser, als ein Mann 2 sich unter die gewaltige Hand des himmlischen Vaters zu beugen und zu seufzen, als wie ein wildes Tier zu brüllen und zu toben und sich den Todesstoß zuzuziehen von dem, der alles Böse niederschlagen wird. Der mit Trübsal heimgesuchte Gläubige ist in der Lehre; er wird für etwas Höheres und Besseres zubereitet, und alles, was ihm widerfährt, dient zu seinem höchsten Guten. Darum ist er ein gesegneter, glücklicher Mensch, wie sehr immer seine äußere Lage anscheinend das Gegenteil beweist.

13. Dass er Geduld habe, wenn’s übel geht,3 bis dem Gottlosen die Grube bereitet werde. Die züchtigende Hand und das lehrreiche Buch werden uns gesegnet, so dass wir zur inneren Ruhe kommen, indem wir uns gläubig dem Herrn überlassen. Wir sehen es ein, dass sein Ziel unser ewiges Wohlergehen ist; darum halten wir unter schmerzlichen Führungen und heftigen Verfolgungen still und warten in Geduld das Ende ab. Der gewaltige Jäger bereitet inzwischen die Grube für diejenigen, die sich wie wilde Tiere gebärden. Jetzt schleichen sie noch beutehungrig umher und zerreißen die Schafe, aber bald werden sie gefangen und umgebracht sein. Darum lernen Gottes Kinder sich in Zeiten des Ungemachs still verhalten und Gottes Stunde erharren. Vielleicht sind die Gottlosen noch nicht reif zur Strafe oder die Strafe ist noch nicht bereit für sie. Die Hölle ist ein wohl zubereiteter Ort für wohl zubereitete Leute. Wie die Tage der Gnade den Gläubigen für die Herrlichkeit ausreifen, so beschleunigen die Tage der Begier beim Sünder das Verfaulen zum ewigen Verderben.

14. Denn der HERR wird sein Volk nicht verstoßen. Er mag sie niederwerfen, aber wegwerfen kann er sie niemals. Während heftiger Verfolgungen denken die frommen Dulder leicht, der HERR habe seine Schafe im Stich gelassen und dem Wolf preisgegeben; aber das ist noch nie der Fall gewesen und wird nie der Fall sein, denn der HERR wird ihnen seine Liebe nicht entziehen noch sein Erbe verlassen. Für eine Weile mag er wohl sich den Seinen ferne stellen mit der Absicht, dadurch ihr geistliches Wohl zu fördern, aber nimmer kann er sie völlig dahingeben.

15. Denn zur Gerechtigkeit wird das Recht (die jetzt von den Gottlosen mit Füßen getretene Rechtsübung) zurückkehren. (Wörtl.4 Der allerhabene Richter wird kommen, das Reich der Gerechtigkeit wird erscheinen, das von den Gottlosen jetzt mit Füßen getretene Recht wird doch schließlich zu seinem Recht kommen, und dann werden alle redlichen Herzen sich freuen. Der Wagen der Gerechtigkeit wird im Triumpfe durch unsere Straßen ziehen, und dem werden alle frommen Herzen sich anschließen. (Wörtl.) Eine entzückende Hoffnung wird uns hier in einem poetischen Bilde von hoher Schönheit vorgeführt. Die Weltherrschaft ist für eine Zeit lang in den Händen solcher gewesen, die ihre Macht zu den niedrigsten und frevelhaftesten Zielen ausgenutzt haben; aber das Seufzen der Gottesfürchtigen wird die Gerechtigkeit wieder auf den Thron bringen, und dann wird jedes rechtschaffene Herz seinen Anteil an der Freude haben.


16. Wer steht bei mir wider die Boshaften?
Wer tritt zu mir wider die Übeltäter?5


16. Wiewohl der Psalmdichter überzeugt war, dass schließlich alles wohl ausgehen werde, konnte er doch zu der Zeit niemand wahrnehmen, der ihm zur Seite träte im Kampf mit den Bösen. Kein Vorkämpfer des Rechtes zeigte sich, und es trat auch da wieder zu Tage, wie wenige Treue auf Erden sind. Das ist auch eine schmerzliche Prüfung für den redlich Gesinnten und ein böses Übel unter der Sonne; doch hat es seinen Zweck, denn es treibt ihn desto näher zum HERRN. und nötigt ihn, sich auf diesen allein zu verlassen. Könnten wir sonstwo Freunde finden, so wäre uns unser Gott vielleicht nicht so teuer; aber wenn wir Himmel und Erde zur Hilfe gerufen und doch keinen Beistand gefunden haben als den der ewigen Arme (5. Mose 33,27), dann lernen wir unseren Gott schätzen und uns mit ungeteiltem Vertrauen auf ihn stützen. Nie ist die Seele besser geborgen, nie genießt sie völligere Ruhe, als wenn sie sich, da alle andern Helfer versagen, allein auf den HERRN wirft. Der vorliegende Vers ist recht geeignet für unsere Zeit, in der die Gemeinde des HERRN es erleben muss, dass Irrtümer von allen Seiten auf sie einstürmen, während der treuen Diener Gottes wenige sind, und noch weniger, die den Mut haben, sich mannhaft zu erheben und den Feinden der Wahrheit Trotz zu bieten. Wo sind Männer wie Luther und Calvin? Weichlichkeit unter dem Namen der Liebe hat die meisten Helden in Israel entnervt. Ein einziger John Knox wäre zu unsrer Zeit eine ganze Goldgrube wert; aber wo ist einer? Unser großer Trost ist, dass der Gott eines Knox und eines Luther noch bei uns ist und dass er zu seiner Zeit seine auserwählten Kämpen hervorrufen wird.


17. Wo der HERR mir nicht hülfe,
so läge meine Seele schier in der Stille.
18. Ich sprach: Mein Fuß hat gestrauchelt;
aber deine Gnade, HERR, hielt mich.
19. Ich hatte viel Bekümmernisse in meinem Herzen;
aber deine Tröstungen ergötzten meine Seele.


17. Wo der HERR mir nicht hülfe, so läge meine Seele schier in der Stille. Ohne Jehovahs Hilfe wäre er, erklärt der Psalmist, schon umgekommen, wäre in das stille Land gegangen, wo man kein Zeugnis mehr für den lebendigen Gott ablegen kann. Doch Gott lässt die Seinen wohl sinken, aber nicht ertrinken.

18. Wenn ich (bei mir) sprach: Mein Fuß gleitet aus (Grundtext) - wenn ich dachte: "Jetzt ist’s um mich geschehen", wenn ich mit Zittern die Gefahr erkannte, in der ich schwebte, und in meinem Schrecken aufschrie - da, gerade in dem Augenblick der größten Not, hielt mich deine Gnade, HERR. Oft genug finden wir uns in ähnlicher Lage; wir fühlen unsere Schwäche, wir sehen die dringende Gefahr und schreien auf vor Angst. In solchen Zeiten kann uns schlechterdings nichts als Gnade helfen; wir können uns nicht auf irgendein vermeintliches Verdienst berufen, denn wir sind davon durchdrungen, dass die uns einwohnende Sünde die Ursache ist, dass unsre Füße so leicht gleiten. Das ist aber unser Trost und unsre Freude, dass die Gnade ewig währt und allezeit zur Hand ist, uns aus der Gefahr zu reißen und da aufrecht zu halten, wo wir sonst ins Verderben stürzen würden. Zehntausendmal wohl hat sich dieser Bibelvers an etlichen unter uns bewährt, und sonderlich auch an dem, der diese Auslegung schreibt. Die Not war aufs höchste gestiegen, wir waren am Erliegen; die Gefahr war ganz augenscheinlich, wir sahen den Abgrund vor Augen, und der Anblick füllte uns mit Entsetzen; unser eigenes Herz ließ uns im Stich, wir meinten, es sei aus mit uns: da trat die Allmacht dazwischen; wir stürzten nicht, eine unsichtbare Hand hielt uns, die List des Feindes wurde zu Schanden und wir jubelten vor Freude. O du treuer Menschenhüter, sei gepriesen immer und ewiglich! Wir wollen den HERRN preisen allezeit, sein Lob soll immerdar in unserem Munde sein!

19. Ich hatte viel Bekümmernisse in meinem Herzen, oder wörtlich: Wenn der (schweren) Gedanken in meinem Innern viel waren, wenn ich von Zweifeln, Sorgen, verwirrenden Fragen und bangen Ahnungen hin und her getrieben wurde, ich dann aber zu dir, meiner wahren Ruhe, Zuflucht nahm, so ergötzten deine Tröstungen meine Seele. Ja, von meinen sündigen, meinen eitlen, meinen traurigen Gedanken, von meinen Schmerzen, meinen Sorgen, meinen Kämpfen will ich zum HERRN fliehen; er hat göttliche Tröstungen, die werden mich nicht nur beruhigen, sondern wahrhaft ergötzen. Wie köstlich ist der Trost, mit dem der Heilige Geist das Herz erfüllt! Wer kann über Gottes ewige Liebe, über seine unwandelbaren Ratschlüsse, über die Bundesverheißungen, die vollbrachte Erlösung, den auferstandenen Heiland, seine enge Verbindung mit seinem Volk, die kommende Herrlichkeit und andere dergleichen Wahrheiten nachsinnen, ohne das Herz vor Freuden hüpfen zu fühlen? Zwar ist die kleine Welt in uns wie die große Welt außer uns voller Verwirrung und Streit; aber wenn Jesus eintritt und uns sein " Friede sei mit euch" zuflüstert, zieht heilige Stille, ja entzückende Wonne ins Herz ein. Wenden wir uns hinweg von der traurigen Betrachtung des gegenwärtigen Vorherrschens der Gottlosen und der Bedrückungen, die sie üben, hin zu jenem Heiligtum der vollkommenen Ruhe, die bei dem Gott alles Trostes zu finden ist.


20. Du wirst ja nimmer eins mit dem schädlichen Stuhl,
der das Gesetz übel deutet.
21. Sie rüsten sich wider die Seele des Gerechten
und verdammen unschuldig Blut.


20. Du wirst ja nimmer eins mit dem schädlichen Stuhl. Der Grundtext stellt diesen Satz eigentlich als Frage hin: Hat auch Gemeinschaft mit dir der schädliche Stuhl? Solcher "schädlichen Stühle", solcher Richter- und Königsthrone, von denen Unheil und Verderben statt Gerechtigkeit und Segen ausgehen, gibt es auf Erden, und sie machen ein göttliches Recht für sich geltend 6; aber ihr Anspruch entbehrt allen Grundes und ist ein Betrug an der Menschheit und eine Lästerung des Himmels. Gott verbündet sich niemals mit ungerechten Machthabern und bestätigt niemals gottlose Gesetzgebung und -handhabung. Der auf Grund von Rechtssatzung Unheil schafft. (Wörtl.) Sie deuten das Gesetz übel, wie Luther übersetzt, sie drehen Gottes heiliges Wort so lange, bis sie damit ihr alles Recht mit Füßen tretendes Verfahren scheinbar rechtfertigen können. Oder es ist von Satzungen die Rede, die sie selber aufstellen. Sie machen Raub und Gewalttat zu Gesetz und Recht und versteifen sich dann darauf, das sei eben Gesetz des Landes; das mag es in der Tat sein, nichtsdestoweniger ist und bleibt es Gottlosigkeit. Mit großem Fleiß schaffen Menschen Verordnungen, die jeden Einspruch unwirksam machen, so dass das Böse dann die geltende Ordnung, eine bleibende Einrichtung wird. Aber eins ist unerlässlich für alles, was wirklich Beständigkeit haben soll, und das ist Gerechtigkeit. Fehlt dies eine, so müssen alle Einrichtungen der Gewalthaber doch zunichte werden und alle ihre Erlasse und Verfügungen im Laufe der Zeit aus dem Gesetzbuch getilgt werden. Nichts hält dauernd stand als das unparteiische Recht. Keine Ungerechtigkeit kann ewig währen, denn Gott gibt sein Siegel nicht dazu und hat keine Gemeinschaft damit. Darum muss jeder noch so stolze Bau, den die Ungerechtigkeit aufrichtet, zusammenbrechen, und das wird ein glücklicher Tag sein, da man das Knistern und Krachen hört, und sieht, wie die Trümmer berstend zu Boden sinken.

21. Sie scharen sich zusammen wider die Seele (das Leben) des Gerechten. 7 In hellen Haufen dringen sie auf den Gerechten ein. Sie haben die Masse für sich und gehen mit der Begeisterung, welche ihnen ihre große Zahl und ihre Einmütigkeit verleihen, daran, ihre schwarzen Pläne gegen die Heiligen auszuführen. Um jeden Preis sind sie entschlossen, ihre Willkürherrschaft zu behaupten und die Partei der Frommen zu untertreten. Und verdammen unschuldig Blut. Groß sind sie in der Kunst, zu verleumden und fälschlich zu beschuldigen und zu verurteilen; sie schrecken vor keinem Verbrechen zurück, wenn sie damit diejenigen, die dem HERRN dienen, unterdrücken können. Diese Schilderung hat sich in so manchen Verfolgungszeiten als geschichtliche Wahrheit erwiesen. Solche Gräuel sind in England dagewesen, und sie mögen wieder eintreten, wenn das römische Wesen unter uns zukünftig in demselben Maße fortschreitet wie in den letzten vergangenen Jahren. Die herrschende Partei hat das Gesetz auf ihrer Seite und pocht darauf, dass sie die Landeskirche ist; aber das Gesetz, welches einer Konfession mehr Rechte als einer andern zuerkennt, ist eine gründliche Ungerechtigkeit. Gott hat daran kein Teil. Darum wird die Synagoge des Ritualismus noch einmal bei allen geistlich gesunden Menschen stinkend werden. Doch, es ist nicht unsere Sache, vorauszusagen, was für böse Zeiten uns noch aufbehalten sein mögen; aber wir wollen alles den treuen Händen dessen überlassen, der mit einem System, das andere unterdrückt, keine Gemeinschaft haben kann, und der es nicht auf immer dulden wird, dass ihm von Götzen und ihren Priestern ins Angesicht Hohn gesprochen wird. 8


22. Aber der HERR ist mein Schutz;
mein Gott ist der Hort meiner Zuversicht.
23. Und er wird ihnen ihr Unrecht vergelten
und wird sie um ihre Bosheit vertilgen;
der HERR, unser Gott, wird sie vertilgen.


22. Mögen die Boshaften sich zusammenscharen und auf ihn eindringen, der Psalmist fürchtet sich dennoch nicht, sondern singt gar lieblich: Aber der HERR ist mein Schutz (wörtl.: meine Burg); mein Gott ist der Hort meiner Zuversicht. Fest wie ein Fels ist Jehovahs Liebe; dahin fliehen wir, um uns zu bergen. Bei ihm, ja bei ihm allein finden wir sicheren Schutz, tobe die Welt, wie sie will. Wir begehren keine Hilfe von Menschen, sondern lassen uns gern daran genügen, uns an dem Busen der Allmacht zu bergen.

23. Die unausbleibliche Wirkung der Unterdrückung ist die Vernichtung des Wüterichs; seine eigenen Untaten zermalmen ihn bald. Die Vorsehung sorgt in ebenso merkwürdiger wie gerechter Weise für die Vergeltung. Schwere Verbrechen führen schließlich schwere Gerichte herbei, welche die Gottlosen von dem Erdboden hinweg fegen. Ja, Gott greift selber in unmittelbarer Weise ein und schneidet den Tyrannen den Lebensfaden ab, während sie mitten in ihrem verbrecherischen Tun sind. Ruchlose Menschen werden oft von den Häschern der göttlichen Gerechtigkeit ergriffen, wenn das Blut ihrer Opfer noch frisch an ihren Händen ist und unwiderleglich ihre Schuld beweist. Und er wird ihnen ihr Unrecht vergelten und wird sie um ihre Bosheit oder, wie die Alten übersetzt haben, in ihrer Bosheit vertilgen. Während das gestohlene Brot noch in ihrem Munde ist, erschlägt sie der Zorn des HERRN; während der übel erworbene Goldklumpen noch in ihrer Hütte ist, ereilt sie das Gericht. (Vergl. 4. Mose 11,33; Jos. 7,21.) Gott selber sucht ihre Sünde vor aller Augen heim und offenbart seine Macht in ihrem Verderben. Ja, der HERR, unser Gott, wird sie vertilgen.
  Das ist der Schluss der Sache. Der Glaube deutet die Gegenwart im Licht der Zukunft und singt sein Siegeslied, ohne dass seine Stimme auch nur bei einem Ton erzittert.


Erläuterungen und Kernworte

V. 1. Es ist eine hebräische Rede, dass er spricht: Gott der Rache, d. i., welcher alleine soll und kann rächen. Solcherweise braucht St. Paulus auch oft, als Röm. 15,13: Gott der Hoffnung; item V. 5: Gott der Geduld und des Trostes. Und 2. Kor. 1,3: Gelobet sei Gott, der Vater aller Barmherzigkeit und Gott des Trostes, d. i., Gott, der die Hoffnung, Geduld, Trost gibt. Von seinen Werken gibt die Schrift Gott Namen. Weil aber niemand solche Werke tun kann, denn Gott alleine, führet billig auch niemand die Namen solcher Werke, denn er alleine. Niemand kann trösten, hoffend machen, geduldig machen und so fortan, denn Gott alleine; also kann auch niemand die Sünde strafen und das Böse rächen, denn er alleine. Denn wie sollten Menschen alle Bosheit rächen können, so sie nicht mögen allerlei Bosheit kennen? Ja, das mehrere Teil für Tugend halten, das doch böse und der Rache wert ist. Darum will der Name wohl allein Gott eigen bleiben. Martin Luther 1526.
  HERR, Gott, des die Rache ist, erscheine! Es mag den Anschein haben, als stehe es einem gottseligen Menschen schlecht an, Gott mit solcher Heftigkeit aufzufordern, er möge sich als Rächer gegen die Gottlosen offenbaren, und so in ihn zu dringen, als wäre er unschlüssig und säumig. Aber wir müssen die Bitte in ihrem rechten Sinn auffassen. Der Psalmdichter bittet Gott nicht - und wir dürften das ebenso wenig tun -, in der Weise an den Gottlosen Rache zu üben, wie die Menschen sich, brennend vor Zorn und Hass, an ihren Feinden zu rächen pflegen; sondern er bittet, dass der HERR seine Widersacher nach seiner göttlichen Weise und seinem göttlichen Maße strafe. Gottes Art zu strafen ist meistens eine Arznei wider das Übel; unsre Rache zerstört manchmal auch das Gute. Darum gebührt auch eigentlich Gott allein die Rache. (Röm. 12,19) Denn wenn wir meinen, wir hätten unseren Feind richtig bestraft, sind wir oft sehr im Irrtum. Was hat der Leib unseres Widersachers uns für Leid angetan? Und doch suchen wir gerade in der Vernichtung dieses Leibes unserer Erbitterung Genüge zu tun. Was dich verletzte, was dir Schaden und Schande brachte, das war der Geist deines Feindes, und diesen seinen Geist kannst du nicht greifen noch halten; aber Gott kann es. Er allein hat solche Macht, dass der Geist sich seiner Gewalt in keiner Weise erwehren kann. Darum überlass Gott die Rache, er wird vergelten. Er warnt uns vor der Gefahr, dass wir, wenn wir mit eigner Hand die erlittene Unbill und Schmach rächen wollen, uns selber schließlich mehr Schaden zufügen als dem Feinde; denn wenn wir uns an ihm rächen, so verwunden und vergewaltigen wir wohl seinen Leib, der doch an sich nichtig und unwert ist - uns selber aber tun wir schweren Schaden an unserem besten und edelsten Teil, unserem Geiste. Darum wollen wir, wie der Psalmist hier, Gott bitten, dass er der Rächer des uns zugefügten Unrechts sein wolle; denn er allein hat das rechte Urteil und kann die rechte Rache üben, und zwar in solcher Weise, dass nur das, was uns Schaden getan hat, gestraft wird. Hat dich irgendein habgieriger Mensch um Geld betrogen, so möge Gott seinen Geiz strafen; hat ein hochmütiger Mann dich mit Verachtung behandelt, so möge Gott seinen Hochmut richten, usw. Das ist eine Rache, die wohl würdig ist, von Gott geübt und von uns erfleht zu werden. Kardinal Jakopo Sadoleto † 1547.
  Die Rache kann ein Ausbruch leidenschaftlichen Zornes, aber auch eine Tat vergeltender Gerechtigkeit sein. Nur wenn man diesen wesentlichen Unterschied nicht beachtet, kann man, wie es so mancher Spötter getan, Gott eine rachsüchtige Gesinnung andichten, als hätte er ein Wohlgefallen daran, sich an einem Widersacher in solch unreiner Weise zu rächen, wie es den sündigen Menschen eigen ist. Der Aufruf, welchen der Psalmdichter hier an Gott richtet als an den, des die Rache ist, bedeutet nichts anderes, als wenn er gesagt hätte: Gott, des die Gerechtigkeit ist. Die Rache geziemt in der Tat nur Gott, nicht dem Menschen, weil sie bei den Empfindungen und Neigungen des Menschen alsobald ausartet. Der Mensch macht sich, wenn er an dem Bösen Rache nehmen will, dem Bösen gleich, Gott aber erweist sich in der Rache als der Höhere und Bessere. Barton Bouchier 1855.
  Brich hervor, spricht er. Denn das hebräische Wort heißt ja, sich hervortun, herausbrechen wie ein Glanz und sich sehen lassen und an den Tag kommen, dass es jedermann sehe. Vergl, 5. Mose 33,2. Also will er hier auch sagen: Tyrannen und falsche Propheten haben überhand genommen, die haben sich herausgetan und lassen sich sehen und gehen im Schwange; du aber schweigest stille, verbirgst dich, als wärest du begraben und könnest nicht mehr; denn du wehrest und strafst nicht solche Bosheit. Darum bitten wir: Brich doch auch einmal hervor, gucke heraus und lass dein Antlitz blicken wider sie; und das billig, denn du bist ein Gott der Rache, dir gebühret je zu rächen und zu strafen.
  Hier will sichs fragen, wie fromme, geistliche Leute mögen um Rache bitten, weil Christus Mt. 5,44 spricht: Liebet eure Feinde. Antwort: Glaube und Liebe sind zweierlei. Glaube leidet nichts, Liebe leidet alles; Glaube flucht, Liebe segnet; Glaube sucht Rache und Strafe, Liebe sucht Schonen und Vergeben. Darum, wenn es den Glauben und Gottes Wort antrifft, da gilt es nicht mehr lieben oder geduldig sein, sondern eitel zürnen, eifern und schelten. Es haben auch alle Propheten so getan, dass sie in Glaubenssachen keine Geduld noch Gnade bewiesen haben. Martin Luther 1526


V. 3. Wie lange sollen die Gottlosen prahlen? Die Antwort gibt der 23. Vers: Er wird sie in ihrer Bosheit vertilgen. Sie sind nicht zu heilen; sie werden nimmer ablassen, Böses zu tun, bis sie der Tod dahinrafft. Der Fromme spricht: "Ob Gott mich auch tötet, will ich doch auf ihn hoffen"; mancher Gottlose aber sagt (tatsächlich, wenn auch nicht den Worten nach): "Bis Gott mich umbringt, will ich von der Sünde nicht lassen." Joseph Caryl † 1673.


V. 3.4. Prahlen, trotziglich reden, sich rühmen. In den Ausdrücken selbst, die der Psalmist zu seiner Klage über die Übermacht der Gottlosen verwendet, liegt Trost verborgen; denn er braucht drei oder eigentlich vier Ausdrücke, welche Worte und Gebärden, und nur einen Ausdruck (Übeltäter), der ein Tun bezeichnet, und zeigt damit unwillkürlich an, dass sie mit der Zunge mehr leisten als mit der Hand. Kard. Hugo a St. Caro † 1263.
  Prahlen. Das hebräische Wort bezeichnet eigentlich das Frohlocken. Sie sind gar guter Dinge, weil es ihnen so wohl gehet und alle ihre Anschläge gelingen, und geben ihrem Übermut und ihrer Schadenfreude mit Worten und Gebärden Ausdruck. Sie triumphieren und spreizen sich dabei wie ein Pfau. V. 4 fängt im Grundtext an: sie sprudeln über, wie eine Quelle, die mächtig aus dem Felsen hervorquillt. Damit wird angedeutet, wie sie ihre vermessenen Reden in mächtigem Schwall, mit lautem Getöse, mit Hast und Eifer hervorstoßen und verschwenderisch ausschütten. Thomas Le Blanc † 1669.
  Sie sprudeln über. Beide, Tyrannen und Ketzer, sind so gar mächtig worden, dass die Tyrannen von ihrem Dinge also frei waschen und plaudern, als sei ihr Ding allein alles und unser Ding gar nichts. Desselbigengleichen, die Ketzer haben sich auch aufs Waschen gegeben, dass man nichts höret denn ihre Träume. Unsere Lehre und Glaube kann kaum dafür mucken. Gleichwie ein siedender Topf mit Blasen schäumet und übergehet, also schäumen sie und gehen auch über mit vielem Gewäsche, des ihr Herz voll ist. Denn es siedet und kocht vor großer Hitze und Lust auf ihre Träume, und können weder schweigen noch andern zuhören. Martin Luther 1526.


V. 6. Es ist ein unbarmherzig Ding um die Verfolger des Worts Gottes. Denn der Teufel reitet sie gar mehr denn alle andere; denn der Teufel ist Gottes Wort feind über alle andere Dinge. Martin Luther 1526.
  Witwen und Waisen. Philo von Alexandrien († um 54) hebt hervor, wie sehr diese Bezeichnungen auf das israelitische Volk passen, da es keinen Helfer hatte als Gott allein, weil es durch seine eigentümlichen Ordnungen und Sitten von allen anderen Völkern getrennt war, während die heidnischen Völker durch den regen Verkehr und die Bündnisse, die sie miteinander hatten, sozusagen eine Menge Verwandte hatten, die ihnen in der Not beistehen konnten. James Millard Neale 1860.


V. 7. Die göttlichen Namen sind hier wieder, wie gewöhnlich, sehr bezeichnend. Dass Jehovah, der vermöge seines eigenen Wesens seiende, ewige Gott, nicht sehen solle, ist eine handgreifliche Ungereimtheit; und kaum weniger, dass der Gott Jakobs sich nicht darum kümmern solle, wenn sein eigenes Volk hingeschlachtet wird. Joseph Addison Alexander 1850.


V. 9. Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der usw. So müsste er etwas geben, das er selbst nicht hätte. Nun er aber Ohren und Augen gibt, müsset ihr fürwahr blinde, tolle Narren sein, die ihn nicht kennen, dass ihr sagt, er sehe und höre nicht. Martin Luther 1526.
  Soll der Urheber der Sinne selbst ohne Sinne sein? Unser Gott ist nicht wie der kretische Jupiter, der ohne Ohren dargestellt wurde und sich nicht die Muße nehmen konnte, auf kleine Dinge zu achten. Er ist ou)j kai nouj und ebenso o(lofqalmoj, ganz Auge, ganz Ohr. John Trapp † 1669.
  Kann etwas Treffenderes auch zu unserer Zeit gegen die Gattung Philosophen gesagt werden, die, dass Absicht in der Natur sei, leugnen? Alles, was sie von dem toten Abstraktum "Natur" vorbringen, schrieben die Heiden ihren Götzen zu, und was die Propheten gegen diese sagen, gilt auch gegen jene. Joh. Gottfried von Herder † 1803.
  Lieber, lernet Gott aus euren eignen Leibes- und Seelenkräften erkennen. Der ein verständig Herz gemacht hat, sollte der selbst nicht verstehen? Der ein gerechtes Herz geschaffen, sollte der selbst nicht gerecht sein? Der ein barmherziges Herz gemacht hat, sollte der nicht ein Vaterherz haben? Johann Arnd † 1621.
  Das Hörorgan ist in allen seinen wichtigeren Teilen so im Kopfe verborgen, dass wir durch eine bloß äußerliche Untersuchung seinen Bau gar nicht erkennen können. Was wir gewöhnlich das Ohr nennen, ist nur die Vorhalle oder das Eingangstor zu einer merkwürdigen Reihe gewundener Gänge, die etwa wie die Vorsäle in einem großen Gebäude von der Außenwelt in die inneren Gemächer führen. Etliche dieser Gänge sind mit Luft angefüllt, andere enthalten eine Flüssigkeit. An gewissen Stellen sind Häutchen ausgespannt, die in Schwingungen versetzt oder zum Zittern gebracht werden können, gerade wie das Fell einer Trommel, wenn sie mit dem Schlägel bearbeitet wird. Zwischen zweien dieser pergament-ähnlichen Vorhänge befindet sich eine Reihe winziger Knöchelchen, die dazu dienen, diese Häutchen zu spannen oder zu lockern und sie in Schwingungen zu versetzen. Im Innersten des Ohres enden feine Fäden, wir nennen sie Nerven; diese erstrecken sich, den Saiten eines Klaviers ähnlich, von den letzten Punkten, wohin die Schwingungen oder Zitterwellen reichen, bis in das Gehirn hinein. Wenn diese Nervenfasern zerstört werden, ist das Hörvermögen unrettbar verloren, gerade wie ein Klavier oder eine Geige die Fähigkeit verlieren, einen Klang zu erzeugen, wenn die Saiten zerbrochen werden. Wir wissen übrigens über das Ohr viel weniger als über das Auge. Das Auge ist eine einzige Kammer, dem Lichte geöffnet. Da kann man hineinsehen und wahrnehmen, was darin vorgeht. Das Ohr aber hat viele Kammern, und die vielen gewundenen Stollen, welche die felsenartigen Schädelknochen durchdringen, sind eng und uns verschlossen wie die Kerker einer Burg und wie diese ganz finster. So viel ist uns aber bekannt, dass eben in den innersten Tiefen dieser unbeleuchteten elfenbeinernen Gewölbe der Geist sich des Schalles bewusst wird. In diese düstern Zellen dringt die Seele immerfort ein, ebenso wie in die helle Kammer des Auges, und fragt nach den Neuigkeiten der Außenwelt. Wie in alten Zeiten in verborgenen unterirdischen Höhlen, wo die Menschen in Stille und Finsternis auf die Äußerungen der Orakel lauschten, so hallen auch hier immer wieder Töne von den einschließenden Wänden wieder und kommen dem harrenden Geiste Antworten zu, wenn die Welt ihre Stimme laut werden lässt und zu der Seele spricht. Der Klang ist der einer gedämpften Stimme, ein leises aber deutliches Flüstern; denn wie, was wir sehen, nur ein matter Schatten der Außenwelt ist, so ist auch, was wir hören, nur ein schwacher Widerhall derselben. George Wilson 1861.
  Das Auge. Unser leibliches Wohl fordert, dass wir die Fähigkeit besitzen, die Welt in allen den Beziehungen zu erfassen, in denen die Materie oder deren Kräfte unser Dasein beeinflussen können. Diesem Bedürfnisse wird durch die Leistungsfähigkeiten unserer Sinne vollkommen entsprochen. - Wie beschränken unsre Aufmerksamkeit oft zu ausschließlich auf den bloßen Mechanismus des Auges oder des Ohres, ohne darauf zu achten, wie sehr die Sinne sich gegenseitig ergänzen, und ohne zu erwägen, wie die Welt auf die Tätigkeit der Sinne eigens eingerichtet ist. Das Auge wäre ohne alle die eigentümlichen Eigenschaften des Lichtes nutzlos; das Ohr hätte in einer Welt, die nicht von einer Atmosphäre umgeben wäre, keine Macht. Das Sehvermögen setzt uns in den Stand, Gefahren zu meiden und Entferntes, dessen wir bedürfen, zu suchen. Was für eines ungeheuren Aufwands von Zeit und Mühe bedürfte es für den Menschen, wenn er blind wäre, das zu lernen, was dem Sehenden ein einziger Blick vermittelt. Ein Geschlecht von Blinden könnte auf unserer Welt gar nicht bestehen.
  Schon der Gesichtssinn an sich müsste uns, als ein Mittel, uns der von uns bewohnten Welt anzupassen, bei aufmerksamer Betrachtung in seinen Wirkungen wunderbar und als der Erfindungskraft der höchsten Intelligenz würdig erscheinen, auch wenn wir von den Einrichtungen nichts wüssten, durch welche uns das Sehen ermöglicht wird. Wir können uns zwar das Sehvermögen auch als unmittelbare, geistige Wahrnehmung, die sich ohne Hilfe des Lichtes oder eines dem Auge entsprechenden besonderen Organes vollzöge, denken. Aber so wie wir beschaffen sind, sehen wir nur durch die Vermittlung des Lichtes und nehmen das Licht nur durch ein besonderes Organ und die Gegenstände nur vermöge der besondern Bildung dieses Organes wahr. Von allen diesen eigentümlichen Wechselbeziehungen zwischen dem Licht und den Gegenständen sowie zwischen dem Licht und dem Auge ist nicht eine einzige eine dem Stoff anhaftende Notwendigkeit. Wir könnten uns, im Allgemeinen, eine ganze Reihe anderer Einrichtungen denken; und doch ist unter den für uns gegebenen Verhältnissen die vorliegende die einzige, durch welche das vorgesetzte Ziel erreicht werden kann... Das Wesen, welches das menschliche Sehorgan ausgedacht hat, muss alle Eigenschaften des Lichtes und ebenso alle Bedürfnisse des Geschöpfes, welches das Organ gebrauchen sollte, vollkommen gekannt haben. Unser Auge ist zwar in einem gewissen Grade in seiner Fähigkeit beschränkt, entspricht aber dennoch vollkommen den gewöhnlichen Erfordernissen des Lebens. Und tritt für den Menschen das Bedürfnis ein, das Sehvermögen irgendwie für Fernes oder Nahes zu vergrößern, so braucht er nur das Auge zu studieren und danach Werkzeuge zu bilden, die dessen Sehkraft verschärfen, wie er denn überhaupt, wenn im Fortschreiten der Bildung die Zeit dafür gekommen ist, durch Kunst und Wissenschaft die Kraft fast aller seiner physischen Fähigkeiten verstärken kann. Für die gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens ist es aber nicht erforderlich, dass unser Auge die Eigenschaften des Mikroskopes oder Teleskopes habe.
  Das Auge ist ein wunderbares Werkzeug, aus verschiedenen Teilen, aus festen und flüssigen Stoffen, aus durchsichtigen und undurchsichtigen Geweben, aus Vorhängen, Linsen und Schutzwänden zusammengesetzt. Der Mechanismus lässt sich aufs genaueste untersuchen und der Zweck eines jeden Teiles so vollkommen erkennen, wie bei irgendeinem Erzeugnis der menschlichen Erfindungskunst. Wir wollen denn jeden Teil untersuchen, als ob wir ein Mikroskop zerlegten. Zunächst haben wir den festen Behälter, der die ganze Maschinerie umschließt und an dem die Seile und Züge des kunstvollen Mechanismus befestigt sind. Diese Hülle, die an dem hintern Teil und an den Seiten des Auges undurchsichtig, weiß und silberglänzend ist, wird vorne, wo das Licht eindringen soll, auf einmal durchsichtig wie der klarste Krystall. Darinnen ist noch ein Überzug, der sich vorne ebenso plötzlich in einen dunkeln Schirm verwandelt, durch dessen Gewebe kein Lichtstrahl dringen kann. Dieser Schirm ist selbsttätig, vermöge eines Netzwerkes, das an Feinheit von Menschenkunst niemals erreicht wird. Ob er sich ausdehnt oder zusammenzieht, seine Öffnung in der Mitte bleibt stets ein vollkommen runder Kreis, dessen Größe sich genau nach der Stärke des einfallenden Lichtes richtet. Das Auge selbst bestimmt, ganz ohne unser Zutun, wieviel Licht in dasselbe eindringen soll. Nun kommt die Verbindung mit dem Gehirn, dem Zentralsitz der Denk- und Sinnentätigkeit des Wesens, dem die Einrichtung dienen soll. Die beiden genannten Bekleidungen des Auges sind hinten durchbohrt, und ein von dem Gehirn ausgehender Faden oder Draht geht durch diese Öffnung hindurch und breitet sich im Auge zu einem feinen Lichtschirm aus, auf den die Bilder geworfen werden. Zur Ausfüllung des größeren Teils des Hohlraumes dient eine klare Gallerte, und darinnen ist eine an kunstvollem Bau unerreichbare Linse eingebettet, welche die Lichtstrahlen bricht und das Bild auf den vorgedachten empfindlichen Schirm wirft. Vor dieser Linse ist wieder eine feuchte Masse, aber nicht eine gallertartige wie diejenige hinter ihr, sondern eine wässerige Flüssigkeit, weil in ihr die Iris oder Regenbogenhaut wie eine zarte, gefranste Scheibe gleichsam schwimmen muss. So haben wir denn im Auge ein so vollendetes Kunstwerk, dass das Höchste, das der Mensch erstreben kann, eine Nachbildung desselben ist, ohne dass er je dessen Vollkommenheit zu erreichen hoffen kann.
  Aber nicht nur der künstliche Bau des eigentlichen Auges, auch die andern zum Gebrauch desselben dienenden Einrichtungen sind unserer Beachtung wert. Zunächst bemerken wir, dass in dem harten Gebein eine Höhlung für das Auge bereitet ist, mit den nötigen Rinnen und Durchlässen. In diesem Kasten ist es in weichen, elastischen Kissen gebettet und an Schnüren und Hebezeug befestigt, damit es sich rasch und nach allen Richtungen bewegen könne. Die äußere Hülle, die Augenlider, dienen zur Bedeckung, wenn es nicht in Gebrauch ist, und zum Schutz, wenn ihm Gefahr droht. Die zarte Franse am Rande braucht nie beschnitten zu werden; sie ist wie ein gut gebautes Schanzwerk aufgerichtet, und die Spitzen sind alle zierlich zurückgebogen, damit kein Lichtstrahl durch sie gehemmt werde. Oberhalb ziehen sich die Augenbrauen als ein anderer Schutzwall hin, der die ätzenden Zuflüsse, die von der Stirn herabkommen, ableitet, während ganz nahe beim Auge eine Drüse liegt, die den ganzen Augapfel mit einer klaren Flüssigkeit benetzt, wodurch jeder Reibung vorgebeugt, die äußere Linse vom Staube freigehalten und beständig zum Gebrauche glatt erhalten wird. Bedenken wir dies alles, wie das Auge so vollkommen unseren Bedürfnissen entspricht, wie jeder Teil desselben nach streng technischen und optischen Gesetzen eingerichtet ist, und wie zweckmäßig für völligen Schutz gesorgt ist, so müssen wir das Werkzeug als vollkommen erklären und als das Werk eines Wesens, das dem Menschen ähnlich, aber auch über den tüchtigsten menschlichen Künstler unendlich erhaben ist. Was sollen wir dazu sagen, dass dies Werkzeug zubereitet worden ist, lange bevor es zur Verwendung kam, dass es einen Mechanismus in sich birgt, durch welchen es sich selbst in gutem Zustand erhält, und dass der Erzeuger nicht nur das mannigfaltige Material zurichtete, sondern auch selber der Chemiker war, der alle diese Stoffe aus Staub der Erde bildete? P. A. Chadbourne 1867.
  Sollte der nicht sehen? Ein Götze oder ein Heiliger, der wirklich den Blick eines reinen Auges in das Gewissen seiner Anbeter senkte, würde nicht lange verehrt werden; das Gras würde bald um seinen Altar wachsen. Einen sehenden Gott kann der Götzendiener nicht brauchen; er muss einen blinden Gott haben. Die erste Ursache des Götzendienstes ist der Wunsch des unreinen Herzens, dem Blick des lebendigen Gottes zu entrinnen; darum passt da nichts als ein totes Bildnis. William Arnot 1858.
  Die drei besten Schutzmittel gegen das Fallen in die Sünde sind, nach einem weisen Rat der Rabbinen, diese: stets daran zu gedenken, dass es erstens ein Ohr gibt, das alles hört, zweitens ein Auge, das alles sieht, und drittens eine Hand, die alles in das Buch des Wissens schreibt, welches am jüngsten Tage geöffnet werden wird. James Millard Neale 1860.


V. 10. Der unterweist die Völker, sollte er nicht rügen? (Grundtext) Die ersten hebräischen Worte versteht man gewöhnlich: der Völker (oder Heiden) züchtigt, und den logischen Schluss des ganzen Satzes: ob Gott, der ganze Völker straft um ihre Untaten, solche einzelne Übeltäter ungestraft lassen werde (oder auch Heiden, die doch sein Gesetz nicht kennen, im Gegensatz mit Israeliten), also ein Beweis vom Größeren aufs Kleinere. Allein da das zweite Zeitwort (strafen) kein Objekt bei sich hat, so kann der Schluss nicht auf die Objekte gehen, sondern nur auf die Verba: von einer Handlung Gottes auf die andre. Folglich kann (gegen Luther) das erste Zeitwort hier nicht gleichbedeutend mit dem zweiten sein, also nicht züchtigen, strafen bedeuten, sondern in diesem Zusammenhang und im Parallelismus mit lehren nur erziehen, mahnen, warnen; also göttliche Belehrung und Erziehung des Menschen, gleich der väterlichen des Sohns, wie vom israelitischen Volk 5. Mose 4,36; 8,5; 21,18; hier eine allgemeine aller Völker (durch die Gewissen wie Röm. 1,20; 2,14 f.), da das Objekt derselben die gojim, die Völker oder Heiden sind, die nach dem Parallelismus mit Menschen hier Menschen überhaupt bezeichnen, im Gegensatz mit der besonderen Offenbarung an die Israeliten. Eine für das Alte Testament merkwürdige Stelle: 1) Die paulinische Idee einer göttlichen Erziehung aller Menschen vermittelst der innern Offenbarung Gottes im Gewissen und der fortgehenden Einwirkung auf dasselbe, die dem Alten Testament nahe lag durch den Begriff des göttlichen Ebenbildes und der Gotteskindschaft, aber dem Partikularismus schwer zu begreifen fällt und ja selbst der christlichen Theologie so lange abhanden gekommen war. 2) Der sinnige Schluss von dieser Erziehung (sittlichen Leitung und Belehrung) auf die richterliche Tätigkeit. - Nach Prof. Hermann Hupfeld 1862.


V. 11. Der HERR weiß die Gedanken der Menschen. Der Gedanken des Menschenlebens - wie viele Millionen sind ihrer an einem Tage! Das Blinzen des Auges geschieht nicht so schnell wie das Aufblitzen der Gedanken. Und diese tausende und abertausende von Gedanken, die von dir ausgehen - sie alle sind Gott bekannt! Anthony Burgeß 1656.
  Dass sie eitel sind. Wie demütigend, dass solches nicht von den leblosen oder wenigstens den vernunftlosen Geschöpfen gesagt ist, sondern von dem Menschen, dem Herrn der Schöpfung, dem wichtigen Gliede in der Reihe der Kreaturen, das Sterblichkeit und Unsterblichkeit in sich vereinigt. Wie demütigend, dass diese Anklage nicht dem sinnlichen oder sterblichen Teil des Menschen gilt, sondern seinem geistigen Teil, den Gedanken, durch welche wir gerade den uns umgebenden Geschöpfen so weit überlegen sind. Wie demütigend, dass diese Wahrheit nicht jene leichten, luftigen Spielereien der Einbildungskraft trifft, die, wie die Mücken in der Luft an einem Sommerabend, allezeit in unserem Sinne schwärmen, sondern die ernsthaften Erzeugnisse unseres Denkvermögens, unsere Pläne, Erfindungen und Vorsätze. Würde Eitelkeit nur unseren Kinderjahren zur Last gelegt, so wäre das weniger erstaunlich; aber die Anklage richtet sich gegen den Menschen überhaupt, auch gegen den zur vollen Reife gekommenen Mann. Und das Urteil kommt von einer Seite her, die jeden Widerspruch ausschließt: Der HERR weiß die Gedanken der Menschen, dass sie eitel sind. Andrew Fuller † 1815.
  Sie (die Menschen) sind ein Hauch. (Grundtext) Die syrische Übersetzung hat: sie sind ein Dampf. Vergl. Jak. 4,14. John Gill † 1771.


V. 12. Wohl dem, den du, HERR, züchtigest. Lasst uns betrachten, wie mancherlei Segnungen die Trübsal bringt, wenn sie von dem Geiste Gottes geheiligt wird. 1) Der große Gott benutzt die Trübsal oftmals dazu, Sünder zu bekehren und zu einer geistlichen Erkenntnis seines Sohnes zu bringen. 2) Nach der Bekehrung heiligt er die Trübsal dazu, die Überreste der einwohnenden Sünde in den Seinen zu schwächen und ihnen Furcht vor weiterem Sündigen einzuflößen. 3) Gott segnet den Gläubigen die Trübsal zum Wachstum in der Gnade und bildet sie dadurch zu immer größerer Ähnlichkeit mit ihm. 4) Gott vermehrt dadurch ihre Erkenntnis in göttlichen Dingen. Siehe unseren Vers und Ps. 119,71. 5) Gott treibt die Seinen durch die Trübsal dazu, häufiger und vertrauter ihm in Gebet und Flehen zu nahen. 6) Er macht sie dadurch mit den Eigenschaften seines Wesens besser bekannt. 7) Er gestaltet sie dadurch mehr seinem Sohne ähnlich. 8) Er überwindet dadurch ihren Stolz. 9) Er zeigt ihnen in den Zeiten der Heimsuchung oft deutlicher als sonst das Gnadenwerk in ihren Herzen und erquickt ihre Seelen mit dem Trost des Heiligen Geistes. 10) Er entwöhnt ihre Herzen von der Liebe zur Welt und macht sie dadurch besser zum Himmel geschickt. - Nach John Farmer 1744.
  Züchtigest und lehrest usw. Die Trübsal lehrt uns nichts Neues, nichts, das nicht im Wort enthalten wäre; aber sie lehrt uns aufs Wort merken, sie bricht die Starrheit unseres Herzens und macht es empfänglich für die Eindrücke des Wortes. In eben der Weise ist das Gesetz unser Zuchtmeister auf Christum. - So richtet der Prophet den Blick der bedrängten Frommen nicht nur darauf, dass Gott die Freveltaten der Unterdrücker merkt und sie bestrafen wird, sondern auch auf den Segen, den die Trübsal selbst den Frommen bringen soll. Nicht die stolzen Unterdrücker, sondern die elenden Frommen sind doch die wahrhaft glücklichen Leute. - Nach Daniel Dyke † 1624.
  Die Rute allein hilft uns nichts, ja auch das Wort allein hilft uns nichts; zu beiden muss das unmittelbare Wirken Gottes durch seinen Geist hinzutreten, dann ist uns beides miteinander von Nutzen. Züchtigung und himmlische Unterweisung müssen zusammengehen, sonst bringt uns die Züchtigung keinen Gewinn. Joseph Caryl † 1673.


V. 13. Dass er Geduld habe, wörtl.: ihm Ruhe zu schaffen. Das ist das Ziel der göttlichen Erziehung, dass der Knecht des HERRN in Geduld harre, dass er innerlich zur Ruhe komme und nicht in seiner Standhaftigkeit erschüttert werde von den Tagen des Bösen (vergl. Ps. 49,6), da er die Bosheit sich ringsumher erheben sieht, aber anderseits auch mit dem Geistesauge wahrnimmt, wie die verborgene und geheimnisvolle Vergeltung langsam aber sicher heranreift. Mithin ist die hier gemeinte Ruhe die eines stillen, gefassten Geistes, wie Jes. 7,4; 30,15; 32,17; 57,19 f., und solche wird der HERR seinen Kindern schaffen oder geben. J. J. St. Perowne 1864.
  Geduld. Ach, dass die schmerzlichen Tugenden unter uns wieder recht auflebten! Sie sind viel verachtet, sonderlich im Vergleich mit den, wie wir so sagen, rauschenden Eigenschaften, die in der Welt so hoch geschätzt werden. Aber ein stiller, sanfter Geist ist, wie ein zerbrochenes, gedemütigtes Herz, in Gottes Augen gar wert. Viele scheinen es gar vergessen zu haben, dass Stille und Sanftmut Tugenden und Früchte der Gnade Gottes sind. William S. Plumer 1867.
  Bis dem Gottlosen die Grube bereitet werdet. Siehe, da hast du Gottes Ratschluss und den Grund, weshalb er den Boshaften verschont: es wird noch an der Grube für den Sünder gegraben. Du möchtest ihn alsbald unter die Erde bringen; aber die Grube wird eben gegraben, darum übereile dich nicht mit seinem Begräbnis. Aurelius Augustinus † 430


V. 15. Recht muss doch Recht bleiben. Siehe Johannis Huß Exempel an, der ist zur bösen Zeit mit Gewalt und Unrecht verdammt; jetzt ist Gerechtigkeit offenbar worden und preiset sein Recht, darwider nichts hat mögen helfen alles, was bisher das ganze Pabsttum mit so viel Bannen, Predigen, Brennen, Toben hat versucht, ihre Anschläge sind doch zunichte worden. Also ging es den Juden mit Christo, den Römern mit den Christen usw. Martin Luther 1526.


V. 16. Wer steht bei mir usw. Mir scheint, David redet hier in seiner öffentlichen Stellung als Oberhaupt des Staates. Als Vater des Volkes beklagt er tief, dass die Gottlosen an Zahl und Anmaßung zunehmen, und nachdem er sich durch Gebet in Gott gestärkt hat, gibt er seinem Entschlusse Ausdruck, den Pflichten seines Amtes nachzukommen und die Macht, die Gott ihm gegeben hat, voll und ganz zur Ausrottung des Bösen und zur Reformation des gottvergessenen Volkes anzuwenden; und nun ruft er alle zu seinem Beistand auf, die Herz und Fähigkeit für dieses Werk haben, dessen Schwierigkeit er sich wohl bewusst ist. Bei dieser Deutung tritt uns dreierlei aus den Worten entgegen: 1) Der bedauerliche Zustand Israels. Denn es ist, als sagte David: So groß ist die Zahl und die Macht der Gottlosen, dass ich, wie sehr mein Herz auch entschlossen ist, alles daranzusetzen, um eine Reformation durchzuführen, doch kaum hoffen kann, das Ziel zu erreichen ohne die Mitwirkung wackerer, redlich gesinnter Männer. Und dennoch, ach, wie gering ist leider die Hilfe solcher Art, die ich erwarten darf! Wie wenige aufrichtige Freunde der Gottseligkeit gibt es! Wie stark und wie allgemein ist die Kälte und Gleichgültigkeit in den göttlichen Dingen! Der Text zeigt uns 2) die Pflicht der Obrigkeit, die Bosheit zu zügeln und einzudämmen, und 3) die Pflicht aller redlich Gesinnten, die Obrigkeit darin zu unterstützen und zu ermuntern. Richard Lucas 1697.


V. 19. Ich hatte viel Bekümmernisse in meinem Herzen usw. Dieser Vers redet von den mancherlei Gedanken, die einer hat in solcher Verzweiflung, wie er wolle oder möchte davonkommen. Da denkt er hierher und daher und sucht alle Winkel und Löcher, findet aber keine. So spricht er nun: Da ich in solcher Marter war und mich mit meinen Gedanken schlug, suchte hier und da Trost und fand doch nichts, da kamst du mit deinem Troste und ergötztest mich und hieltest dich freundlich zu meiner Seele, mit Sprüchen und Exempeln der Heiligen Schrift, dass ich wohl mag sagen: Selig ist der, den du züchtigest und lehrest durch deine Gesetze. Martin Luther 1526.
  Deine Tröstungen ergötzten meine Seele. Xerxes pflegte große Belohnungen auszusetzen für den, der ein neues Vergnügen erfände; aber nur die Tröstungen des Heiligen Geistes sind wirklich erquickend, sie beleben das Herz. Der Unterschied zwischen den himmlischen und den weltlichen Tröstungen und Freuden ist so groß wie zwischen einem Festmahl, das genossen wird, und einem, das nur an die Wand gemalt ist. Thomas Watson 1660.
  Trübsal und Not können wir uns wohl selbst bereiten, aber wahrer Trost kommt nur aus dem unerschöpflichen Quell, dem Gott allen Trostes. Thomas Adams 1614.
  Den Psalm hat offenbar ein tief betrübter Mann geschrieben. Die Gottlosen, so klagt er, triumphieren über ihn, und das seit langem. Er findet keinen in der ganzen Welt, der ihm zur Seite tritt, um wider sie zu kämpfen. Und es hat sogar den Anschein, als hätte Gott ihn auch im Stich gelassen. Seine Feinde meinen es, und er ist nahe daran, es selbst auch zu glauben. Aber wie standen die Sachen in der Wirklichkeit? All die Zeit über hatte der HERR im Geheimen seiner Seele Tröstungen eingeflößt, und am Ende ergoss sich dieser Trost in reicher Fülle über ihn. Dem Anschein nach war er ein elender Mensch, tatsächlich aber war er wahrhaft glücklich; er hatte viel Trübsal, aber noch mehr Trost, ja Ergötzen. Charles Bradley 1845.


V. 20. Der auf Grund von Rechtssatzung Unheil schafft. (Wörtl.) Sie machen böse Gesetze und unterdrücken dann mit dem Schein von Gesetz und Recht die Unschuldigen. Summum jus, summa injuria: je höher das Gesetz, desto größer die Ungerechtigkeit. Wie oft wird vermittelst einer ruchlosen Auslegung des Gesetzes Unrecht verübt! Mit solchen, die mit dem Schwert der Gerechtigkeit Ungerechtigkeit treiben, wird Gott niemals Gemeinschaft haben. William Nicholson † 1671.


V. 23. Er wird ihnen ihr Unrecht vergelten usw. Die Gottlosen treiben ein schlimmes Werk: sie schmieden Ketten für die eigenen Füße und bauen Häuser, die ihnen selber auf den Kopf fallen werden. So unheilvoll ist das Wesen der Sünde, dass sie ihre eigenen Erzeuger verletzt und vernichtet. William Greenhill † 1677.


V. 20-23. (mit dem Vorhergehenden). Der Mann Gottes beruhigt sich zuletzt in dem unveränderlichen Recht Gottes, das er an den Gottlosen unfehlbar ausführen und darunter seine Auserwählten retten wird. Auch im rechtmäßigen Eifer kann man sich doch leicht zu viel herausnehmen, wenn man sich nicht immer wieder von Gottes Wort und Geist Schranken setzen lässt. So nützlich das Feuer im Haus ist, so bedächtlich muss man doch damit umgehen. Vor der Eitelkeit, menschlichen Gedanken und mithin auch seinen eigenen ungeprüften Einfällen muss man sich fürchten und hüten und sich darüber öfters Zucht und Zurechtweisung Gottes ausbitten, aber ebenso auch gegen die kümmerlichen und sorglichen Herzensgedanken sich an Gottes Tröstungen halten. Was man sieht, das in der Welt unbestraft bleibt, daraus soll man eine desto kräftigere Anmahnung an Gottes künftiges Gericht nehmen und sich eher seine fünf Sinne als Gottes Allwissenheit, Aufsehen und Rechtschaffenheit abstreiten lassen. Recht muss doch Recht bleiben, und das Gericht und der letzte richterliche Ausschlag wird sich doch auf die Seite des Rechts schlagen. Karl Heinrich Rieger † 1791.


Homiletische Winke

V. 1. 1) Die Rache steht Gott allein zu. 2) Unter welchen Umständen wir begehren dürfen, dass er sie ausübe. 3) Wie und wann er solch berechtigten Wunsch erfüllen wird.
  1) Die Rache gehört Gott und nicht den Menschen zu. 2) Sie ist auch in Gottes Händen besser angebracht als in der Menschen. (Vergl. 2. Samuel 24,14.) George Rogers 1874.
V. 2. Wie die Sünde des Hochmuts und die verwandten Untugenden Gott in besonderer Weise herausfordern. Der Einfluss dieser Sünde auf die, welche sie hegen, auf deren Mitmenschen sowie auf Gott.
V. 3. Wie lange wird die Herrschaft des Bösen dauern? 1) Bis das Maß der Verschuldung voll ist. 2) Bis die Torheit des Bösen offenkundig geworden ist. 3) Bis die Tugenden und die Gebete der Gottseligen dadurch zur vollen Reife gebracht worden sind. 4) Bis die Gottesfürchtigen von allem Vertrauen auf Menschen entleert sind und genötigt worden sind, allein auf den HERRN, seinen Geist und sein Kommen zu harren.
  1) Der süße Trunk der Gottlosen (ihr derzeitiger Sieg). 2) Die Galle, die ihn bitter macht (der Sieg währt nur kurz und wird von den Gebeten der Gläubigen angefochten). Ch. A. Davies 1874.
V. 5-10. 1) Die drückende Gewalt, welche die Gottlosen ausüben. (V. 5.6.) 2) Ihre trotzige Leugnung der göttlichen Aufsicht. (V. 7.) Ein unwiderlegbarer Beweis, dass Gott um ihr Treiben weiß und es bestrafen wird. (V. 8-10.) Charles A. Davis
V. 6-9. 1) Eine himmelschreiende Sünde. 2) Eine ganz widersinnige Annahme. 3) Eine überwältigende Beweisführung.
V. 8. Die Gottesleugner der Tat. 1) Ihr wahres Bild. 2) Ein heilsamer Ratschlag für sie.
V. 8-11. 1) Eine Ermahnung, V. 8. 2) Eine Erörterung, V. 9.10. 3) Eine Behauptung, V. 11. George Rogers
V. 9.10. Der rechte Rationalismus, oder wie die Vernunft Gott offenbart. Charles A. Davis
V. 11. 1) Man erwäge, wie viele Gedanken in Bezug auf das Irdische eitel sind. a) Indem man Befriedigung sucht, wo sie nicht zu finden ist. b) Indem man über Geschehnisse grübelt, die nicht zu ändern sind. c) Indem man Übel befürchtet, die gar nicht eintreten. d) Indem man sich viel auf Dinge einbildet, die von geringem oder gar keinem Werte sind. e) Indem man Pläne entwirft, die nie zur Ausführung kommen. 2) Man erwäge, wie eitel auch die Gedanken der Menschen bezüglich der Religion und des zukünftigen Lebens sind. a) Was sind die Gedanken der heidnischen Welt über die Religion? b) Welchen Wert haben die Gedanken der sogenannten christlichen Welt, wo Gottes Gedanken hintangesetzt werden? c) Was ist zu halten von den gottesleugnerischen Gedanken, welche die Massen dazu führen, zu leben, als gäbe es keinen Gott? d) Was wiegen all die glaubenslosen Einbildungen, mit denen die Gottlosen sich betrügen, als ob Gott es nicht ernst nähme mit seinen Beteuerungen und Drohungen? e) Was nützen die Trugbilder, auf Grund deren die Selbstgerechten sich mit eitlen Hoffnungen erfüllen und sich weigern, der Gerechtigkeit Gottes untertan zu werden? Andrew Fuller † 1815.
  Gottes durchdringende Erkenntnis des Menschen. 1) Eine erschreckende und 2) eine demütigende Wahrheit.
V. 12.13. Gottes Schule. Der Lehrer, das Lehrbuch, die Rute, der glückliche Schüler und die Frucht der Erziehung.
  1) Wer hier glücklich gepriesen wird: Wer a) von Gott gezüchtigt und b) von Gott gelehrt wird. 2) Was für Segen solchem zuteil wird: a) Ruhe in Trübsal, b) Ruhe vor Trübsal. George Rogers
V. 14. 1) Die Angst, die uns beschleicht, dass Gott sein Volk verstoßen und verlassen könnte. 2) Aber diese Angst wird widerlegt. Gott wird sein Volk nicht verstoßen noch verlassen. George Rogers
  1) Man male die lichte Wahrheit unseres Textes auf dunkeln Hintergrund. Wie, wenn das Gegenteil wahr wäre? Was für Erwägungen uns wohl dazu führen könnten, dies Gegenteil als wahr anzunehmen. 2) Dann aber betrachte man die Wahrheit selber in ihrem vollen Glanze. Man bezeuge die Schriftlehre, weise auf die angedeuteten Gründe (sein Volk, sein Erbe) und betone die kundgegebene Zuversicht. Charles A. Davis
V. 15. Das Recht mag zertreten, aber es kann nicht ertötet werden. Die Freude bei seiner Auferstehung.
V. 16. 1) Die bange Frage der Gemeinde Gottes an ihre Vorkämpfer. 2) Die freudige Antwort jedes redlich Gesinnten. 3) Die noch viel ermunterndere Zusage des HERRN.
V. 16.17. 1) Ein lauter Ruf um Hilfe. 2) Die Antwort der Erde. Tiefes Schweigen, nur von dem Echo unterbrochen (V. 17). 3) Die rettende Stimme, die das Schweigen bricht - die Stimme des HERRN (V. 17). Charles A. Davis
V. 18. Das gesegnete Bekenntnis der Schwachheit. 1) Das Bekenntnis. 2) Die Hilfe. 3) Der Zeitpunkt. 4) Der Dank.
V. 19. Wenn der schweren Gedanken - des Unglaubens, der Reue, des Leides, der Mühsal, des Verzagens, der Zukunftssorgen - in meinem Innern viele waren, erquickten deine Tröstungen meine Seele. George Rogers
  1) Kein Trost für den Menschen bei ihm selbst. 2) Kein Trost für ihn bei den andern Geschöpfen. 3) Sein einiger, aber allgenugsamer Trost bei Gott. George Rogers
V. 20. 1) Gott kann keine Gemeinschaft haben mit den Gottlosen. 2) Die Gottlosen können keine Gemeinschaft haben mit Gott. George Rogers
V. 21.22. 1) Die Gefahren, von welchen die Gerechten bedroht sind. 2) Der Schutz, in dem sie stehen. George Rogers
V. 21-23. 1) Das Urteil des ungerechten Gerichtes (V. 21). 2) Was dasselbe dabei übersehen hat (V. 22). 3) Das Urteil fällt auf die wahrhaft Schuldigen zurück (V. 23). (Könnte als Passionstext dienen, vergl. Mt. 27,1.) Charles A. Davis
V. 23. 1) Niemand darf Gottes Feinde strafen, als er selbst. 2) Es tut auch nicht Not, dass ein anderer als er sie strafe, denn die Strafe wird a) erschöpfend sein und b) gewiss eintreffen. George Rogers

Fußnoten

1. Der Fluss: eine dem zu läuternden Erz zugesetzte Substanz, welche seine Schmelzbarkeit erhöht, namentlich der Flussspat.

2. Spurgeon bezieht sich hier darauf, dass der Grundtext sagt: "Wohl dem Manne, den du usw.", und dabei für Mann ein Wort gebraucht (geber), das ursprünglich den Mann als Starken, als Helden bezeichnet. Spurgeon hat schon vorher dazu bemerkt: "Der ist in der Tat ein Mann im besten Sinne des Wortes, der in der Zucht und Vermahnung des HERRN steht." Gibt diese Auslegung dem Worte geber einen Nachdruck, den es in der dichterischen Sprache verloren hat, so ist doch die Gegenüberstellung der Ausdrücke Mann (V. 12) und tierisch Dumme (V. 8 Grundtext) beachtenswert.

3. Den Grundtext: ihm Ruhe zu schaffen von den Tagen des Bösen verstehen die einen (wie Luther und Spurgeon) von innerer, die andern (in verschiedener Deutung) von äußerer Ruhe.

4. Luthers Übersetzung trifft, wie so oft, bei aller Freiheit den Sinn gut.

5. Der Grundtext lautet wörtl.: Wer erhebt sich mir (zur Hilfe im Kampfe) mit den Boshaftigen? Wer tritt mir (zur Hilfe) auf (im Kampfe) mit den Übeltätern? Luthers Übers. ist demnach richtig, nur kommen die Zeitwörter sich erheben und auftreten nicht zur vollen Geltung.

6. Man vergl. den schon Band II, S. 701 zu Ps. 82 angeführten satirischen Ausdruck Popes: "Das göttliche Recht der Könige, schlecht zu regieren." Hier ist übrigens nach V. 21. 15 zunächst an ungerechte Richter gedacht.

7. So die engl. Bibel sowie manche Neuere, wie Kautzsch und Bäthgen, nach dem Targum. Andere (Delitzsch, Siegfr. und Stade): sie dringen ein auf usw.

8. Zu dieser scharfen Auslassung Spurgeons über den Ritualismus vergl. man die Anm. zu Ps. 31,7, Bd. I, S. 567 f.