Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon
PSALM 25 (Auslegung & Kommentar)
Überschrift
Ein Psalm Davids. David ist in diesem Psalm wie in einem getreuen Miniaturbild gezeichnet. Sein zuversichtlicher Glaube, seine mannigfachen Kämpfe, seine große Missetat, seine bittere Reue samt seinen großen Trübsalen, alles findet sich hier, so dass wir dem "Mann nach dem Herzen Gottes" wirklich ins Herz hineinsehen. Der Psalm stammt augenscheinlich aus den späteren Lebensjahren Davids, da er die Sünden seiner Jugend erwähnt. Und aus der schmerzlichen Bezugnahme auf die Intrigensucht und Grausamkeit seiner vielen Feinde werden wir wohl schließen dürfen, der Psalm gehöre in die Zeit, wo Absalom den großen Aufruhr gegen seinen Vater anstiftete. Der Psalm ist ein Denkmal der heiligen Aufrichtigkeit Davids, indem er darstellt, wie dieser sich durch seine Trübsale an seine Sünden erinnern und durch seine Sündennot zu seinem Gott treiben ließ.
Einteilung. Die zweiundzwanzig Vers beginnen im Grundtext (mit einigen Abweichungen, V. 2.5.18.22) mit den Buchstaben des hebräischen Alphabets. (Vergl. Ps. 9-10) Die Form des Akrostichons oder alphabetischen Liedes ist vom Verfasser wohl gewählt worden, um das Gedächtnis zu unterstützen. Und der Heilige Geist mag uns damit zeigen wollen, dass auch die Kunst in Gottes Dienst Verwendung finden kann. Warum sollten nicht auch menschlicher Verstand und Scharfsinn den edelsten Zwecken dienstbar gemacht und auf den Altar Gottes gelegt werden? Bei dem eigentümlichen Bau des Psalms ist es nicht leicht, einigermaßen abgegrenzte Teile zu entdecken. Wir finden große Abwechslung an Gedanken, aber keinen Wechsel des Gegenstandes. Der Verfasser bedient sich zweierlei Ausdrucksweisen für seine Gedanken: des Gebets und der Betrachtung. Und da diese miteinander abwechseln, wollen wir darnach die Verse einteilen. Gebet V. 1-7, Betrachtung V. 8-10, Gebet V. 11, Betrachtung V. 12-15, Gebet V. 16 bis zum Schluss.
Auslegung
1. | Nach dir, Herr, verlangt mich. |
2. | Mein Gott, ich hoffe auf dich. Lass mich nicht zuschanden werden, dass sich meine Feinde nicht freuen über mich. |
3. | Denn keiner wird zuschanden, der dein harrt; aber zuschanden müssen sie werden, die leichtfertigen Verächter. |
4. | Herr, zeige mir deine Wege, und lehre mich deine Steige! |
5. | Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich; denn Du bist der Gott, der mir hilft; täglich harre ich dein. |
6. | Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von der Welt her gewesen ist. |
7. | Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen; gedenke aber mein nach deiner Barmherzigkeit um deiner Güte willen1! |
1. Zu dir, Herr, erhebe ich meine Seele. (So wörtlicher Luther 1524.)2 Siehe, wie die gläubige Seele sich zu ihrem Gott aufschwingt, wie eine Taube zu ihrem Schlag. Wenn draußen die Sturmwinde toben, so wendet sich das Schiff des Glaubens und steuert seinem ihm wohlbekannten Zufluchtshafen zu. Welche Gnade, dass der Herr auf unser Rufen in der Stunde der Trübsal hören will, ob wir ihn auch in Zeiten vermeintlichen Glücks fast vergessen haben! Es heißt Gottes spotten, wenn wir beim Gebet wohl Hände und Augen aufheben, aber nicht auch unser Herz zu Gott richten. Im rechten Gebet schwingt sich die Seele von der Erde auf, dem Himmel zu. Das Gebet ist ein Aufstieg auf der Jakobsleiter: Unsere Sorgen und Kümmernisse lassen wir unten am Fuße der Leiter zurück und klimmen empor zu dem Bundesgott, dessen freundliches Angesicht uns droben an der Spitze entgegenwinkt. Freilich, manchmal kann sich die Seele nicht emporschwingen; sie hat ihre Flugkraft verloren und klebt am Staube und gleicht dann eher dem in der Erde kriechenden Maulwurf als dem zur Sonne auffahrenden Adler. Aber auch in solch dunkeln Zeiten sollen wir nicht vom Gebet ablassen, vielmehr durch Gottes Beistand alle unsere Kräfte anwenden, um unsre Seele aufwärts zu richten. Scheint dein Herz dir wie ein unbeweglicher Fels? Mach’ den Glauben zum Hebel und lass die allmächtige Gnade diesen in Bewegung setzen; was gilt’s, der schwere Block muss weichen. Aber was für eine Anstrengung kostet es manchmal! Mit all unserm Ziehen und Stoßen werden wir jämmerlich zuschanden, bis der himmlische Magnet der Liebe unseres Heilands seine allgewaltige Anziehungskraft erweist und unser Herz so unwiderstehlich aufwärts zieht zu Ihm, dem einen Liebenswürdigen, dass es, das tote, kalte, schließlich wie eine Feuerflamme himmelwärts lodert.
2. Mein Gott. Wie herzvertraulich ist diese Anrede! Der Sänger ist betend dem himmlischen Helfer schon einen Schritt näher gekommen, ja mit kühnem Griff des Glaubens erfasst er Gott als seinen Gott. Welch himmlische Musik liegt in dem Worte: Mein Gott! Es ist zu beachten, dass der Psalmsänger die Äußerung der Empfindungen, die sein Herz dank der göttlichen Gnade bewegen, nicht in falscher Bescheidenheit unterdrückt. Da er in seiner Seele ein sehnliches Verlangen nach dem Herrn verspürt, bringt er es ganz schlicht zum Ausdruck (V. 1). Da er einen berechtigten Anspruch an Jahwe zu haben überzeugt ist und weiß, dass er auf Gott traut, bekennt er’s: Mein Gott, ich hoffe (oder: traue) auf dich. Der Glaube ist das Tau, das unser Schifflein an das Ufer kettet; indem wir daran ziehen, ziehen wir uns zugleich selber ans Land. Das Vertrauen verbindet uns mit Gott und bringt uns immer näher zu ihm. Solange der Anker unseres Glaubens in Gott versenkt ist, ist auch im heftigsten Sturm für uns keine Gefahr; risse der los, dann bliebe uns freilich keine Hoffnung mehr. Unser Glaube muss gesund und kräftig sein, sonst richten unsere Gebete bei Gott nichts aus. Wehe dem Krieger, der seinen Schild wegwirft! Wer soll den schützen, der in seinem Gott keinen Schutz findet? Lass mich nicht zuschanden werden. Ließest du es geschehen, dass die Hoffnung meines Vertrauens enttäuscht würde, so möchte es mich gereuen, deine Treue gepriesen zu haben. Lass das nicht zu; denn mancher lauert schon darauf. Auch der Beste hat Feinde und hat alle Ursache, zu beten, dass ihre ruchlosen Anschläge nicht in Erfüllung gehen mögen. Dass sich meine Feinde nicht freuen (oder frohlocken) über mich. Gib nicht zu, dass sie sich über mein Elend freuen und ihr freches Maul lästere und spöttisch frage: "Wo ist nun dein Gott? Die Gläubigen eifern für die Ehre ihres Gottes und können es nicht ertragen, dass die Ungläubigen ihnen höhnisch vorwerfen, der Herr, auf den sie trauen, erfülle ihre Hoffnungen ja nicht. Alle andre Zuversicht wird einst in ewiger Enttäuschung und Schande enden; unser Glaube aber wird nie und nimmer beschämt werden.
3. Denn keiner wird zuschanden, der dein harret. Einige ältere Ausleger, z. B. Kimchi, auch die englische Übersetzung, fassen diese Worte als Bitte auf: Mögen auch alle, die dein harren, nicht zuschanden werden. Leiden macht das Herz weit, indem es ihm die Fähigkeit des Mitleidens gibt. Wenn wir für uns selber zu Gott rufen, werden wir unsre Mitgenossen an der Trübsal (Off. 1,9) nicht lange vergessen können. Niemand hat solches Mitgefühl für die Armen, wie der, der selber arm gewesen ist oder es noch ist; niemand hat so herzliches Erbarmen mit den Kranken, als wer selber das köstliche Gut der Gesundheit lang hat entbehren müssen. Wir dürfen über zeitweilige Trübsal nicht klagen, wenn sie uns vor chronischer Herzverhärtung bewahrt; denn von allen Übeln ist ein gefühlloses Herz das schlimmste. Seinem Träger selbst ist es eine Last und den Nebenmenschen eine Qual. Ein Gebet, das der Heilige Geist wirkt, ist niemals selbstsüchtig. Der Gläubige begehrt kein Sondervorrecht für sich allein, sondern möchte, dass alle, die mit ihm in gleicher Lage sind, auch mit ihm der göttlichen Gnade teilhaftig werden. Wir fassen diesen Satz jedoch besser mit Luther und fast sämtlichen alten und neuen Auslegern als Ausdruck der Überzeugung: Denn keiner wird zuschanden, der dein harrt. Unser himmlischer Vater wird sich seinen gläubigen Kindern nie anders als treu und gütig erzeigen. Er kann seine Bundeszusagen nicht vergessen.
Keiner wird zuschanden, welcher Gottes harrt;
Soll ich sein der erste, der zuschanden ward?
Nein, das ist unmöglich, du getreuer Hort!
Eher fällt der Himmel, eh’ mich täuscht dein Wort.
(Gustav Knak † 1878.)
Aber zuschanden müssen sie werden, die leichtfertigen Verächter, wörtlich: die ohne Ursache treulos handeln.3 David hatte seine Feinde nicht herausgefordert. Sie hassten ihn ohne Ursache. Die Gottlosen können ihre Abtrünnigkeit weder rechtfertigen noch entschuldigen. Das Gesetz, gegen das sie sich vergehen, ist nicht hart und ungerecht. Gott ist kein tyrannischer Regent; die Führungen der Vorsehung sind kein unerträgliches Sklavenjoch. Die Menschen sündigen, weil sie sündigen wollen, nicht weil das Sündigen jemals vernünftig wäre oder ihnen einen Nutzen brächte. Darum ist Schande ihr wohlverdienter Lohn. Mögen sie jetzt, da es noch "heute" heißt, in der Scham der Buße erröten; wo nicht, so werden sie der ewigen Schmach und Schande, dem Erbteil der Gottlosen in der zukünftigen Welt, nicht entrinnen.
4. Herr, zeige mir deine Wege, und lehre mich deine Steige! Ungeheiligte Naturen wollen stets ihre eigenen Wege durchzwingen, begnadigte Seelen aber rufen: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Es wird uns manchmal schwer, den schmalen Pfad der Pflicht zu erkennen, und zu solchen Zeiten ist es die höchste Klugheit, den Herrn selber anzurufen, dass er ihn uns zeige. Oft sind die Wege, die Gott uns führt, geheimnisvoll und auch dann mögen wir uns an ihn wenden, dass er selbst der rechte Ausleger seiner uns unverständlichen Führungen sein möge, so wird er gewiss zur rechten Zeit alle Rätsel lösen. O dass wir recht gelehrig wären, Gottes Winke zu verstehen! Es ist uns, als hörten wir in dieser Doppelbitte ein kleines Kind zu seinem Vater sprechen: "Vater, zeige mir den Weg, und dann lehre meine kleinen, wankenden Füße darauf gehen." Was sind wir doch für schwache, unselbständige Geschöpfe! Wie unablässig müssen wir rufen: Stärke uns, du Gott der Stärke!
5. Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich. Die gleiche Bitte wie im vorhergehenden Vers. Das kleine Kind hat zu gehen angefangen, möchte aber an der hilfreichen Vaterhand weiter geführt werden. Es hat die ersten Buchstaben im Alphabet der Wahrheit gelernt, möchte aber weiter unterwiesen werden. Die Wahrheit lernt man durch Erfahrung und lernt man nicht ohne den göttlichen Lehrmeister; darum die mehrfach wiederholte Bitte unseres Psalms. Leite mich in deiner Wahrheit und erzeige mir deine Treue; leite mich in deiner Wahrheit, damit ich ihren Reichtum erkenne; leite mich auf dem Weg der Wahrheit, damit ich mich als Kind der Wahrheit erweise. David weiß viel, aber er erkennt auch, wie viel ihm noch fehlt. Viermal nacheinander bittet er in diesen beiden Versen um einen Platz in Gottes Schule. Es wäre gut, wenn manche unserer hochgelehrten Professoren, anstatt ihren eigenen Einfällen zu folgen und auf eigne Faust sich neue Pfade freien Denkens durchs Dickicht hauen zu wollen, zuerst einmal nach den alterprobten Pfaden der göttlichen Wahrheit fragen und den heiligen Geist bitten wollten, ihren Verstand zu heiligen und zu erleuchten und sie so zu gelehrigen Schülern der Wahrheit zu machen. Denn Du bist der Gott, der mir hilft, wörtlich: der Gott meines Heils. Der dreieinige Gott ist der Urheber und Vollender des Heils. Lieber Leser, ist er der Gott auch deines Heils? Hast du in des Vaters Erwählung, in des Sohnes Versöhnung und in des Geistes lebendig machender Kraft den Felsengrund deiner ewigen Hoffnung gefunden? Wenn ja, so hast du damit ein Anrecht auf weitere Segnungen. Wenn dich der Herr zur Seligkeit verordnet hat, wird er sich gewiss nicht weigern, dich nun auch in seinen Wegen zu unterweisen. Es ist ein köstliches Ding, wenn wir mit solchem Vertrauen zu Gott nahen können wie David hier. Das gibt uns große Kraft beim Gebet und feste Zuversicht in der Prüfung. Täglich (wörtlich: den ganzen Tag, d. h. unablässig) harre ich dein. Ausharrende Geduld ist eine köstliche Frucht des Glaubens. Wir warten mit getrostem Mut, wenn wir dessen gewiss sind, dass wir nicht vergeblich warten. Es ist unsre Pflicht und unser köstliches Vorrecht, der Winke unseres Herrn allezeit gewärtig zu sein und in Gehorsam, in Anbetung, in Hoffnung und Vertrauen sein zu harren. Unser Glaube muss erprobt werden; ist er rechter Art, so wird er auch andauernde Prüfungen ertragen, ohne zu unterliegen. Wir werden des Harrens auf Gott so leicht nicht müde werden, wenn wir uns daran erinnern, mit welch’ großer und gnädiger Geduld er einst darauf gewartet hat, dass wir zu ihm kämen.
6. Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte. Wir sind in Zeiten der Trübsal gewöhnlich geneigt zu fürchten, Gott habe uns oder doch seine altgewohnte Güte gegen uns vergessen. Darum redet sich die Seele ein, Gott müsse erinnert werden, und sie bittet ihn, ihr jene Liebe wieder zu erzeigen, die sie früher genossen hatte. Das ist heilige Kühnheit, die es wagt, so mit dem Allerhöchsten zu unterhandeln; lasst sie uns recht üben und pflegen! Aber gegen das unheilige Misstrauen, das uns jene Sorgen eingeflößt hat, wollen wir mit aller Macht ankämpfen. Was für herrliche Kleinode sind die zwei Worte: Barmherzigkeit und Güte! Sie sind süß wie Honigseim; kein Laut auf Erden kann sie an Lieblichkeit übertreffen. Und doch sind sie noch zu gering, ist alle Menschensprache zu armselig, Gottes Lieben zu beschreiben. Die unerschöpfliche Fülle deutet auch der Grundtext an, indem er die Mehrzahl braucht: Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeiten und deine Gnaden. Wenn der Herr in der Zukunft nur an uns handeln will, wie in vergangenen Zeiten, so sind wir wohl zufrieden. Wir begehren keine Änderung in Gottes Walten; wir flehen nur, dass der Strom der Gnade nie zu fließen aufhören möge.
Die von der Welt her gewesen ist. Wörtlich: denn sie sind von der Urzeit oder von Ewigkeit her. (Zu Luthers Übersetzung Welt vergl. Erläut. und Kernworte zu Ps. 24,7) David hatte einen festen Glauben an Gottes ewige Liebe. Die Gnadenerweise des Herrn sind nicht von gestern her. Wenn wir ihm anliegen, dass er sie uns gewähre, können wir uns auf das allerälteste Gewohnheitsrecht, auf Jahrtausende altes Herkommen und unzählige "Präzedenzfälle" berufen. In den weltlichen Gerichtshöfen wird auf alte Rechte und auf vorausgegangene Fälle großes Gewicht gelegt; so mögen wir uns auch vor dem Thron der Gnade auf sie berufen. "Der Glaube", sagt der alte Dickson († 1662), "muss auf Erfahrungen fußen und sie Gott herzhaft vorhalten; er hat sie in dem geheiligten Gedächtnis gebucht und darf sie dem in Erinnerung rufen, der nichts von Vergessen weiß." Bei dem unwandelbaren Gott ist es vom besten Erfolg, wenn man ihn an seine früheren Gnadenerweisungen und an seine ewige Liebe erinnert; denn Gott hat bei seinem Geben ein seltsames Gesetz, das heißt: ca/rij a)nti` ca/ritoj, Gnade um Gnade (Joh. 1,16). Wir tauschen gleichsam neue Gnaden gegen alte um; eine empfangene Gnade wird der Grund, eine neue zu empfangen. Zugleich frischen wir, indem wir Gott an seine früheren Liebesbeweise erinnern, in uns selbst das Andenken derselben auf. Und indem wir alles, was wir an Gutem genossen, bis zu dem Quell der ewigen Liebe verfolgen, woraus es geflossen ist, wallt unser Herz vor Freude über. Jene tun uns wahrlich einen schlechten Dienst, die uns das Nachsinnen über die ewige Erwählung und ähnliche Wahrheiten verleiden wollen.
7. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend. Die Sünde ist das Unglück; darum muss sie vor allem weggeschafft werden. Herr, amnestiere 4 du mich für alle meine Sünden, insonderheit für die zucht- und zügellosen Torheiten meiner heißblütigen Jugend. Der Übertretungen, deren wir uns mit reuigem Herzen erinnern, will Gott nicht mehr gedenken; aber wenn wir sie vergessen, stellt er sie in das Licht vor seinem Angesicht (Ps. 90,8). Die Welt drückt gegen die Sünden junger Leute die Augen zu; aber sie werden dadurch nicht kleiner. Wehe dir, Jüngling, der du dem Festmahl an Satans Tisch zusprichst: Die Gräten werden dich noch im Alter empfindlich im Hals stechen. Wer auf seine Jugend hin frech sündigt, der vergiftet seine alten Tage. Wie mancher von uns hat diese Seite des heiligen Buches schon mit heißen Tränen benetzt, wenn er an seine Vergangenheit zurückdachte! Und meiner Übertretungen. Ein anderes Wort für dasselbe Übel. Es liegt aber wohl eine Steigerung vor. Den Jugendverirrungen stehen die Frevel oder Missetaten gegenüber, wobei letztere mehr dem kälteren, überlegenden Mannesalter eigen sind. Wer aufrichtig Buße tut, kommt nicht mit einem Sprung durch sein Sündenbekenntnis hindurch. Seine Reue presst ihm gar manchen Klagelaut ab; denn seine Sünden umschwärmen ihn wie die Bienen und stechen ihn empfindlich. Die schmerzliche Erkenntnis einer Sünde treibt den Gläubigen zur Buße über die ganze Menge seiner Fehltritte. Nichts als eine allumfassende, völlige Tilgung der ganzen Sündenschuld kann ein durch den heiligen Geist wirklich zur Buße erwecktes Gewissen zur Ruhe bringen. David begehrte, dass seine Sünden nicht nur vergeben, sondern auch vergessen seien. Gedenke aber mein nach deiner Barmherzigkeit um deiner Güte willen, o Herr! David und der sterbende Schächer, von beider Lippen kommt derselbe Gebetsseufzer: Gedenke mein; und beide stützen sich dabei offenbar auf denselben Grund der Hoffnung, nämlich auf die freie Gnade und die unverdiente Güte Jahwes. Wir dürften nie die Bitte wagen, dass uns unser Teil auf der Waage der vergeltenden Gerechtigkeit zugemessen werde; aber unser Flehen ist, dass Gott nach seiner Gnade an uns handeln möge.
8. | Der Herr ist gut und fromm, darum unterweist er die Sünder auf dem Wege; |
9. | er leitet die Elenden recht, und lehrt die Elenden seinen Weg. |
10. | Die Wege des Herrn sind nichts als Güte und Wahrheit denen, die seinen Bund und Zeugnisse halten. |
Diese drei Vers sind eine Betrachtung über die Eigenschaften und Taten des Herrn. Wer auf dem Erntefeld des Gebets arbeitet, tut gut, von Zeit zu Zeit innezuhalten und sich an einem Imbiss geistlicher Betrachtung zu erlaben.
8. Der Herr ist gut und fromm (wörtlich: gerade, d. h. rechtschaffen, treu meinend); darum unterweiset er die Sünder auf dem (rechten) Wege. Hier sind die Güte und die Gerechtigkeit des göttlichen Wesens in trautem Bunde zu schauen. Wer sie in der innigsten Vereinigung sehen will, der stelle sich an den Fuß des Kreuzes; denn in dem Opfer des Herrn Jesus sind sie in eins zusammengeflossen. Es ist nicht minder wahr als wunderbar, dass infolge des Sühnopfers die Gerechtigkeit Gottes ebenso sehr wie seine Gnade für das Heil der Sünder, zu deren Erlösung Jesus gestorben ist, eintritt.5 Und wie ein guter Mensch naturgemäß bestrebt ist, auf andere heilsamen Einfluss auszuüben, dass auch sie zu guten Menschen werden, so will der Herr, unser Gott, in seiner großen Barmherzigkeit die Sünder auf dem rechten Wege, d. h. zur Heiligkeit, führen und sie seinem Bilde gleichgestalten. Somit berechtigt uns sogar die Heiligkeit unseres Gottes, die Bekehrung von Sündern zu erwarten. Dürfen wir aus Gottes Güte nicht etwa schließen, dass er auch die selig machen werde, die in ihren eignen Wegen beharren, so können wir doch des gewiss sein, dass er die Herzen der Übertreter erneuern und sie auf dem Weg der Heiligkeit leiten will. Wer ernstlich von der Sünde frei zu werden begehrt, der schöpfe hieraus Trost. Gott selbst will sich herablassen, die Sünder zu unterweisen. Welch eine Lumpenschule,6 und Gott selber der Lehrer darin! Gottes Lehrweise ist aufs Praktische gerichtet. Er bringt den sündigen Menschenkindern nicht nur gewisse Lehrsätze bei - denn damit wäre ihnen nicht geholfen --, sondern er unterweist sie in dem Wege, den sie gehen müssen, um aus der Stadt des Verderbens zum himmlischen Zion zu kommen.
9. Er leitet die Elenden oder Demütigen in dem, was recht ist (in der Bahn des Rechten), und lehret die Elenden oder Demütigen seinen Weg. (Grundtext 7 Die Demütigen, "die durch Leiden geschmeidig und sanftmütig Gemachten" (Ötinger), stehen in hoher Gunst bei dem Vater dessen, der von sich sagen könnte: Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig (Mt. 11,29) und zwar eben deshalb, weil er in ihnen das Bild seines eingeborenen Sohnes erkennt. Sie wissen, wie nötig sie einen Führer haben, und sind bereit, ihre Einsicht dem göttlichen Willen unterzuordnen; darum lässt sich der Herr auch gern herab, ihr Führer zu sein. Für die demütigen Seelen enthält dieser Vers eine köstliche Verheißung; mögen sie sich daran laben! Gerade die zarter und edler angelegten Gemüter sind in der Not mit ihrem Verstand bald zu Ende und werden dann in der Verlegenheit leicht zu unüberlegten Schritten getrieben; aber die Gnade kommt ihnen zu Hilfe und erleuchtet ihren Sinn, dass sie erkennen, was recht ist, und lässt sie den Pfad finden, den sie nach des Herrn Willen gehen sollen. Die Toren pochen auf ihre eigne Weisheit und wollen sich nichts sagen lassen; so verfehlen sie durch eigene Schuld den Weg zum Himmel. Die Demütigen dagegen sitzen zu Jesus’ Füßen und finden, dank seiner Unterweisung, das Tor der Herrlichkeit; denn die Demütigen lehrt er seinen Weg. O du Lehrer ohnegleichen, wie köstlich ist’s, dein Schüler sein zu dürfen und deine himmlische Unterweisung zu genießen!
10. Die Wege des Herrn sind nichts als Güte und Wahrheit (oder: Gnade und Treue) denen, die seinen Bund und Zeugnisse halten. Das ist eine Regel ohne Ausnahme. Gottes Gnade und Treue fließen über gegen die, die durch die Gnade treu und wahrhaftig geworden sind. So gefährlich manchmal der Weg, den Gott uns weist, scheinen mag, soll uns das doch nie zweifelhaft werden, dass wir, solange wir dem Willen Gottes folgen, keinen wirklichen Schaden zu besorgen haben. Seine Gnade werden wir in jedem sauren Bissen durchschmecken und seine Treue in jedem bitteren Tropfen. Unser Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht. Lasst uns in unverbrüchlichem Glauben auf den Bund Jahwes stützen, der niemals hinfallen kann und bis ins Kleinste hinein geregelt und als unveränderlich besiegelt ist. Doch gehört diese Wahrheit nicht auf die Gasse - sie möchte sonst von den Schweinen zertreten werden, sondern sie ist eine köstliche Perle für das Halsband des Kindes. Wahrhaft begnadigte Seelen, die sich in echtem Glauben auf das vollbrachte Erlösungswerk des Herrn Jesus stützen, die halten den Bund des Herrn und wandeln in der Heiligung des Geistes nach seinen Zeugnissen. Ihnen müssen alle Dinge zum Besten dienen (Röm. 8,28); aber für solche, die in der Sünde beharren, gibt es keine derartige Verheißung. Wer den Bund hält, der wird von ihm gehalten. Wer die Gebote des Herrn erfüllt, der wird erfahren, dass sich die Verheißungen an ihm erfüllen.
11. | Um deines Namens willen, Herr, sei gnädig meiner Missetat die da groß ist. |
11. Es könnte scheinen, als wäre diese Bitte an dieser Stelle nicht am rechten Platze, wenn Gebet nicht überhaupt immer am Platz wäre, zur Zeit und zur Unzeit. Nachdem der Psalmsänger sich V. 8-10 in erbaulicher Betrachtung gestärkt hat, nimmt er sein angefangenes schweres Werk wieder auf und ringt in diesem Vers noch einmal mit Gott um Vergebung seiner Sünden. Um deines Namens willen, Herr. Wer sich bei seinem Flehen auf diesen Grund stützt, tut keine Fehlbitte. Nicht um meiner Person oder meiner Verdienste willen, sondern zur Verherrlichung deiner Gnade und zur Offenbarung deines herrlichen Wesens sei gnädig meiner Missetat. Ich habe sie dir ja bekannt, ich verabscheue sie und bittere Reue nagt an meinem Herzen. Herr, tilge meine Schuld! Lass es mich aus deinem eignen Munde hören, dass sie mir vergeben ist. Denn sie ist groß. (Wörtl.) Die Last ist mir zu schwer, darum bitte ich dich: Nimm sie mir ab. Ihre Größe ist kein Hindernis für dich, denn du bist ein großer Gott. Siehe, wie unglücklich sie mich macht; darum erzeige mir eilend deine Gnade! Himmlischer Arzt, dein Kranker leidet schwer; darum heile du ihn. Einem großen Sünder zu vergeben, bringt dir großen Ruhm; um deines Namens willen also vergib mir. Beachte, wie dieser Vers die Logik des Glaubens ins Licht stellt, die der Logik derer, die auf Werke bauen, schnurstracks zuwiderläuft. Der Glaube sucht nichts Verdienstliches beim Geschöpf, sondern baut allein auf die Güte des Schöpfers; und statt durch die Größe der Sündenschuld zum Zweifel und zur Verzweiflung getrieben zu werden, schaut er auf das kostbare Sühneblut und wird in seinem Flehen umso brünstiger und kühner, je größer die Not ist.
12. | Wer ist der, der den Herrn fürchtet? Er wird ihn unterweisen den besten Weg. |
13. | Seine Seele wird im Guten wohnen, und sein Same wird das Land besitzen. |
14. | Das Geheimnis des Herrn ist unter denen, die ihn fürchten; und seinen Bund lässt er sie wissen. |
15. | Meine Augen sehen stets zu dem Herrn; denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen. |
12. Wer ist der, der den Herrn fürchtet? Diese Frage muss zur Selbstprüfung treiben. Die Segnungen des Evangeliums sind nicht für jeden, der einen Anspruch darauf zu haben behauptet. Bist du königlichen Geschlechts oder nicht? Er wird ihn unterweisen den besten Weg, wörtlich: über den Weg, den er wählen soll. Wessen Herz richtig gestellt ist, der wird nicht irren, die Leitung von oben wird ihm nicht fehlen. Wem Gott das Herz geheiligt hat, dem erleuchtet er den Verstand. Wir alle wählen am liebsten selbst unseren Weg; aber welche Gnade ist’s, wenn der Herr unsere Wahl leitet und aus dem freien Willen einen guten Willen macht. Wenn Gottes Wille unser Wille wird, lässt Gott uns unseren Willen. Gott vergewaltigt unseren Willen nicht, er lässt uns in vielem freie Wahl. Er hat aber eine feine Weise, unseren Willen durch seinen Geist so zu beeinflussen, dass wir, frei und doch von ihm geleitet, wählen, was seinem Rat gefällt. Darin macht Gott sein Meisterstück in der Erziehungskunst. - Der Wille soll dem Gesetz untertan sein; das ist der Weg, den er wählen soll. Aber so unwissend sind wir, dass wir unterwiesen werden müssen, und so eigensinnig sind wir, dass niemand als Gott selbst uns meistern kann.
13. Wer Gott fürchtet, hat nichts anderes zu fürchten. Seine Seele wird im Guten wohnen. Seine Herberge wird heißen: "Zum Glück". Inneres und äußeres Wohlergehen wird das Gepräge seines Lebens sein. Doch mussten schon die Gläubigen des alten Bundes durch die göttlichen Führungen lernen, dass das wahre Gut nicht in den Dingen dieser Erde zu finden ist und diese nur als Gottesgaben Wert haben. Man kann "im Guten übernachten" (buchstäbliche Übers.), auch wenn man wie Jakob dort nur einen Stein zum Kopfkissen hat, aber über einem sich der Himmel auftut. Ja, schon hier auf Erden weilt das Gotteskind im Glück, wenn es durch die Gnade beides gelernt hat, Überfluss zu haben und Mangel zu leiden (Phil. 4,12). Aber das Beste kommt noch, wenn wir unser irdisches Wanderzelt mit den ewigen Wohnungen droben vertauschen. Und sein Same wird das Land besitzen. Gott gedenkt an Isaak um Abrahams willen und an Jakob um Isaaks willen. Die Söhne frommer Eltern treten mit einem schönen Erbteil ins Leben hinaus; aber ach, mancher verwandelt den Segen in einen Fluch. Die Schuld liegt nicht an Gott, als ob er sein Wort bräche, wenn etliche die Erfüllung der Verheißungen an sich nicht erfahren, weil sie sich halsstarrig weigern, den ihnen zugedachten Segen anzunehmen. Schon im Alten Bunde waren nicht alle, die aus Abrahams Lenden hervorgegangen waren, der wahre Same Abrahams und Erben der Verheißung. Zudem leben wir jetzt in der Zeit, wo die Verheißung unseres Verses vornehmlich ihrem geistlichen Gehalt nach zu Recht besteht. Unser geistlicher Same ist der Erbe alles dessen, was hier unter dem Land oder Kanaan gemeint ist. Er empfängt den Segen des neuen Bundes. Möge der Herr uns viele geistliche Vaterfreuden erleben lassen! Um die Aussteuer unserer geistlichen Kinder brauchen wir uns keine Sorge zu machen; denn der Herr wird ihnen selbst ein königliches Erbteil geben in seinem Reich.
14. Das Geheimnis des Herrn ist unter denen, die ihn fürchten. Viele übersetzen hier statt Geheimnis: Die Freundschaft des Herrn wird denen ... Das hebräische Wort bezeichnet das vertraute Gespräch, dann den vertrauten Umgang überhaupt, die innige Gemeinschaft und Freundschaft. Da man aber eben im vertrauten Umgang die geheimen Falten des Herzens bloßlegt, liegt die Übersetzung Geheimnis nicht fern. Jedenfalls ist es um die Freundschaft, den trauten Verkehr mit dem Höchsten ein großes Geheimnis. Fleischlich gesinnte Menschen ahnen nicht, was darunter verstanden werden soll, und selbst der Gläubige kann es nicht mit Worten ausdrücken; denn es muss empfunden und erfahren sein, wenn es erkannt werden soll. Das Leben des Glaubens schwingt sich zu Höhen auf, zu denen sich kein Adler erheben kann, und führt in verborgenes Dickicht, in das kein Löwe zu dringen vermag. Weder die natürliche Weisheit noch die natürliche Kraft vermag die Tür dieser verborgenen Kammer zu entriegeln. Die geheiligten Seelen allein haben den Schlüssel zu der göttlichen Geheimschrift; sie allein vermögen die himmlischen Rätsel zu lösen. Sie sind eingeweiht in die Geheimnisse des oberen Heiligtums und hören da unaussprechliche Worte, die sie ihren Nächsten nicht wiederholen können. Und seinen Bund lässt er sie wissen. Das hohe Alter des Bundes, seine Sicherheit und Gerechtigkeit, sein Reichtum, seine Lieblichkeit und Vollkommenheit werden ihrem Herzen und Verstand aufgeschlossen und über das alles wird ihr eigener Anteil an diesem Bund ihren Seelen durch das Zeugnis des Heiligen Geistes besiegelt. Es ist Gottes Wohlgefallen gewesen, seinen Liebesratschluss, den er im Bund der Gnade an seinem Volke verwirklicht hat, in dem heiligen Buch der göttlichen Offenbarung den Gläubigen kundzutun und durch seinen Geist leitet er uns in diese Geheimnisse hinein, auch in das tiefe Geheimnis der Erlösung. Wer den Sinn dieses Verses nicht aus eigener, seliger Erfahrung versteht, wird ihn durch keine Auslegung begreifen lernen; er schaue aufs Kreuz: dort liegt das Geheimnis und seine Lösung.
15. Meine Augen sehen stets zu dem Herrn. Voll Hoffnung und Vertrauen hält David seine Augen unablässig auf seinen treuen Bundesgott gerichtet. Wir können zu diesem Blick des Glaubens und der Hoffnung den ergebenen Blick des Gehorsams, den andächtigen Blick der Verehrung, den erstaunten Blick der Bewunderung, den sinnenden Blick der Betrachtung und den zärtlichen Blick der Liebe hinzufügen. Selig, wer seine Augen nie von Gott abwendet. Wohl sagt Salomo (Pred. 1,8): Das Auge sieht sich nimmer satt. Doch gilt dies nur vom Schauen auf die Kreatur; der Blick auf den Herrn dagegen füllt das Herz mit tief befriedigender Wonne. Denn Er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen. Beachten wir, in welch widerspruchsvolle Lage auch die begnadigte Seele kommen kann: Die Augen gen Himmel gerichtet und die Füße zeitweise im Netz. Der edlere Teil ihres Wesens verharrt in der Anschauung der göttlichen Herrlichkeit, während der niedere Teil ihrer Natur noch mit den Widerwärtigkeiten der Welt ringen muss. Das Netz wird sehr häufig in der Schrift als Bild der Versuchungen gebraucht. Der Herr behütet oft die Seinen, dass sie nicht in das Netz geraten; geschieht es aber doch, dass sie sich darin verstricken, so zieht er sie wieder heraus. Die englische Bibel hat hier: herausreißen. Das ist ein starkes Wort, und Gotteskinder, die in Sünde gefallen sind, erfahren, dass die Mittel zu ihrer Wiederaufrichtung nicht immer angenehm sind für das Fleisch. Der Herr fasst uns wohl etwas hart an und reißt uns mit derbem Griff aus der gefährlichen Verstrickung, damit wir merken, was für ein verzweifelter Schade die Sünde ist. Aber welche Gnade liegt darin! Lieber Christ, sei dafür dankbar! Der Herr wird uns von den listigen Anschlägen des grausamen Feindes erretten; und selbst wenn wir uns durch Schwachheit in Sünde verwickelt haben, wird er uns nicht dem Verderben überlassen, sondern mit fester Hand ans der Gefahr reißen. Ob unsre Füße auch schon im Netz wären, so wird doch, wenn unsre Augen zu Gott emporgerichtet sind, die Gnade gewiss zu unsrer Rettung ins Mittel treten.
16. | Wende dich zu mir, und sei mir gnädig; denn ich bin einsam und elend. |
17. | Die Angst meines Herzens ist groß; führe mich aus meinen Nöten! |
18. | Siehe an meinen Jammer und Elend, und vergib mir alle meine Sünden! |
19. | Siehe, dass meiner Feinde so viel sind, und hassen mich aus Frevel. |
20. | Bewahre meine Seele, und errette mich; lass mich nicht zuschanden werden, denn ich traue auf dich. |
21. | Schlecht und recht, das behüte mich; denn ich harre dein. |
22. | Gott, erlöse Israel aus aller seiner Not! |
16. Seine Augen waren auf Gott gerichtet, das wusste David; dennoch fürchtet er, der Herr möchte im Zorn sein Angesicht von ihm abgewandt haben. Der Unglaube flüstert uns manchmal ein, Gott habe uns den Rücken gekehrt. Aber wenn wir zu Gott gekehrt sind, brauchen wir nicht zu fürchten, er werde sich von uns abkehren; jedenfalls dürfen wir unerschrocken rufen: Wende dich zu mir. Wenn der Friede gestört ist, liegt die Ursache immer in uns selbst und wenn dies Hemmnis hinweggeschafft ist, kann nichts mehr unsre selige Gemeinschaft mit Gott hindern. Und sei mir gnädig. Auch die Heiligen müssen ihren Stand stets auf dem Boden der Gnade nehmen; sie kommen trotz all ihrer gereiften Erfahrung nicht über das Zöllnergebet hinaus: Sei mir gnädig. Denn ich bin einsam und elend. David fühlte sich verlassen und von Traurigkeit niedergebeugt. Jesus war in den Tagen seines Fleisches genau in derselben Lage. Keiner, auch von seinen vertrautesten Jüngern, konnte mit ihm in die verborgenen Tiefen seiner Schmerzen hinabsteigen. Er musste die Kelter allein treten (Jes. 63,3). Gerade deshalb aber ist er wie kein anderer befähigt, die zu verstehen und denen trostreich beizustehen, die auch auf einsamem Pfad wandeln müssen.
17. Die Angst meines Herzens ist groß, oder: Die Ängste meines Herzens haben sich ausgebreitet. 8 Wenn die Angst das ganze Herz bis in alle seine Winkel und Falten durchdringt, dann ist tatsächlich die Not groß. In dem vor uns liegenden Falle war das Herz vom Kummer angeschwollen wie ein See, der von großen Wasserfluten bis über seine Ufer angefüllt ist. Diese Größe der Not aber benutzt David rasch wieder in seinem Flehen als einen Beweggrund zur Errettung; und er ist der Kräftigsten einer. Wenn die dunkelste Stunde der Nacht da ist, dürfen wir der Dämmerung entgegensehen; wenn die See ihren tiefsten Stand erreicht hat, können wir mit Sicherheit auf ihr Steigen rechnen; und wenn unsere Leiden den höchsten Grad erreicht haben, dann dürfen wir hoffnungsfreudig beten: Führe mich aus meinen Nöten!
18. Siehe an meinen Jammer und Elend. Man bemerke, welch mannigfaltige Prüfungen über die Heiligen kommen. Wir haben hier nicht weniger als sechs Ausdrücke für ihre Leiden: einsam und elend, Angst und Nöte, Jammer und Elend. Aber man achte noch mehr auf die demütige und gläubige Gesinnung des wahren Gotteskindes, die uns hier entgegentritt. Sein ganzes Begehren ist: "Herr, siehe darein!" Er fordert nicht, auch beschwert er sich nicht. Wenn Gott ihm nur einen Blick zuwirft, will er zufrieden sein. Ist ihm das gewährt, so hat er nichts mehr zu bitten; denn er weiß, dass sein Elend und Leid Gott zum Eingreifen bewegen wird, und das Wie der Hilfe überlässt er getrost Ihm. Noch bemerkenswerter ist, wie schnell und sicher der Gläubige in der Trübsal die wahre Quelle alles Unheils entdeckt und die Axt an die Wurzel des Übels legt. Vergib mir alle meine Sünden, das ist der Notschrei einer Seele, die schwerer unter der Last ihrer Sünden als der Last ihrer Schmerzen leidet und die Vergebung dringender begehrt als die Befreiung aus der Not. Gesegnet ist der Mann, dem die Schuld unerträglicher ist als alles Unglück. Es wird nicht lange anstehen, bis der Herr ihm beides schenkt: Vergebung der Sünden und Heilung seiner Gebrechen (Ps. 103,3). Sonst sind die Menschen überaus schwerfällig, den engen Zusammenhang zwischen Sünde und Übel zu erkennen. Ein in der Gnade geschultes Herz allein merkt ihn.
19. Siehe an meine Feinde. (Wörtlicher.) Beobachte sie, siehe, wie mächtig sie sind, tue ihrem Wüten Einhalt, ja vertilge sie. Doch ist es, wie Delitzsch bemerkt, für das neutestamentliche Bewusstsein wohltuend, dass nicht ausdrücklich Gottes Rache über die Feinde herabgerufen wird. Dass ihrer so viel sind. Es bedarf der Scharfsicht eines Argus (des Hundertäugigen), sie zu bewachen, und der Kraft eines Herkules, sich mit ihnen zu messen; aber dem Herrn ist es ein Geringes, sie in die Flucht zu schlagen. Die Teufel der Hölle und die Gottesfeinde der Erde, sie alle sind ohnmächtig, wenn der Herr nur seinen Arm entblößt. Sie hassen mich aus Frevel. Hass ist der Atem der Schlangenbrut. Ihrem Erzeuger (Joh. 8,44) war der Hass das Element seines Lebens, und sie müssen es ihm notwendig gleichtun. Kein Hass ist so grausam, als der unvernünftige und grundlose. Ein Mensch mag dem, der ihm unrecht getan hat, vergeben; aber unversöhnlich hasst er den, dem er selber ein Unrecht zugefügt hat. Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe: dies Wort unseres Meisters gilt uns immer noch.
20. Bewahre meine Seele vor dem Bösen und errette mich, wenn ich darein gefallen bin. Das ist in etwas anderer Form die Bitte des Vaterunsers: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Lass mich nicht zuschanden werden. Das ist die einzig Furcht, die wie ein Angsttraum das Gemüt des Psalmsängers bedrückt. Er zittert davor, dass er mit seinem Glauben durch die übergroße Trübsal, in der er sich befindet, ein Gegenstand des Spottes werden könnte. Edle Seelen können alles ertragen, nur nicht die Schande. David war ein so ritterlicher Geist, dass er eher alle Folterqualen erlitten hätte, als einen Abbruch an seiner Ehre. Denn ich traue auf dich. Der Name Gottes würde bloßgestellt, wenn der Herr solche, die ihm dienen, in Schmach und Schande versinken lassen würde. Das aber ist für ein gläubiges Herz ein unerträglicher Gedanke.
21. Schlecht und recht, das behüte mich, mit anderen Worten: Unschuld und Redlichkeit mögen mich behüten. Kann man besseres, sichereres Geleit begehren? Wenn wir unter diesen Führern nicht "unser Glück machen", dann ist es besser, wir bleiben in Not und Ungemach, als dass wir ohne ihre Hut zu Reichtum und Ehren kommen. Gesteht doch selbst die ungöttliche Welt: Ehrlich währt am längsten. Der Erbe des Himmels aber versichert sich noch eines anderen Schutzes, als den die Unsträflichkeit seines Wandels ihm gewährt; er wirbt im stillen Kämmerlein um den Beistand des himmlischen Schutzpatrons: Denn ich harre dein. Vorgeben, man harre auf Gott, während man ein unheiliges Leben führt, ist elende Heuchelei; und auf die eigene Gerechtigkeit zu vertrauen, ohne den Blick gläubig auf Gott gerichtet zu haben, ist im tiefsten Grunde nichts anderes als vermessene Gottesleugnung. Wie weit der Psalmsänger von solcher Selbstüberschätzung entfernt ist, zeigt gerade seine an Gott gerichtete Bitte, dass Frömmigkeit und Redlichkeit ihn als Hüterinnen auf seinem gefahrvollen Lebensweg geleiten mögen.
22. Gott, erlöse Israel aus aller seiner Not! Das ist eine umfassende Bitte; sie schließt alle Gläubigen und alle ihre Anfechtungen ein. Eignes Leid hatte den Psalmisten Mitleid gelehrt und ihn in die Gemeinschaft der geprüften Gotteskinder geführt; darum gedenkt er auch ihrer in seinen Gebeten. Israel, der vielgeprüfte, mit Gott und Menschen ringende, aber in allem siegreich seiende Held ist der Vorgänger aller wahren Heiligen. Das Volk Israel in Ägypten, in der Wüste, im Krieg mit den Kanaanitern und in der Gefangenschaft ist ein treffendes Bild der streitenden Kirche auf Erden. Jesus ist’s, der uns erlöst, sowohl vom Übel als auch von der Sünde; er ist ein vollkommener Heiland und wird alle die Seinen von allem Übel, von allen ihren Drangsalen (wörtl.) erlösen. Die Erlösung durch das Blut ist vollbracht; o Gott, lass uns bald die volle Offenbarung deiner errettenden Macht erfahren. Amen, Amen!
Erläuterungen und Kernworte
Zum ganzen Psalm. In der Reihe unserer Psalmen ist dieser der erste unter sieben, die im Hebräischen eine entschiedene alphabetische Anordnung haben (so Ps. 34; 37; 111; 112; 119; 145; ferner Spr. 31 und die Klagelieder des Jeremia bis auf das letzte Kapitel), während Spuren einer solchen Anlage sich bereits in Ps. 9; 10 finden. Diese besteht darin, dass entweder die einzelnen Vers oder die aus mehreren Versen bestehenden Strophen der Reihe nach mit den Buchstaben des hebräischen Alphabets anfangen. Der Zweck dieser Einteilung ist ohne Zweifel, die Rede zu binden, ihr eine künstliche Form zu geben (wie wir dies durch Reim und Versmaß tun) und damit zugleich dem Gedächtnis eine Hilfe zu gewähren und eine Reihe von Sprüchen innerhalb eines gewissen Kreises zu ordnen und zu schließen. Da der letzte Zweck besonders außerhalb der eigentlich dichterischen Erzeugung liegt, so haben auch alle diese alphabetischen Psalmen miteinander gemein, dass sie nicht aus einem Guss eine Anschauung oder den Verlauf eines inneren Vorgangs darstellen, sondern bloß eine Anzahl gleichartiger Sprüche miteinander verbinden. Es ist dies der Anfang jener Spruchdichtung, welche Salomo nachher in anderer Art fortsetzte, einer Weise, die also innerhalb der älteren Psalmenform entstand und sich nachher selbstständig entwickelte. Hier in den Psalmen stehen jedoch die einzelnen Sprüche immer in einer gewissen Verbindung, es geht ein Gedanke aus dem andern hervor und das Ganze ist nicht ohne eine gewisse Abrundung. Bis in die späteren Zeiten behielt das Morgenland eine Vorliebe für solche Perlenschnüre, die sehr geeignet sind, dem Einzelnen zu rechter Stunde ein sinnvolles und gewichtvolles Wort in Herz und Mund zu geben. Prof. Otto von Gerlach 1849.
Die alphabetische Form ist nicht mehr ganz erhalten. Im 2. Vers tritt das B erst beim zweiten Wort ein. Das "mein Gott" ist vielleicht noch zum ersten Vers zu ziehen. J fehlt, wie in Psalm 34. Für fehlendes q ist R doppelt vorhanden. Am Ende steht, wie in Ps. 34, ein überzähliger Schlussvers, vielleicht ein liturgischer Zusatz aus späterer Zeit. - James Millard
Der Psalm ist von der Art, dass er auf etliche Vers seines Gebets immer etliche Vers der erhaltenen innerlichen allgemeinen Versicherung der Gnade, wie V. 8.9.10, anführt, da David gerne eine ganz eigene Versicherung außer der allgemeinen gehabt hätte, bis er sich endlich V. 11-13 mit dem Allgemeinen begnügt. F. C. Oetinger 1775.
V. 1. Zu dir, o Herr, will ich meine Seele erheben: auf dich will ich meinen Seelenhunger richten (5. Mose 24,15), nach dir will ich mein Verlangen (Jer. 22, 27) und in dir mein Ergötzen haben (Hes. 24,25). F. C. Oetinger 1775.
Nach dem Bischof Cyprian († 258) von Karthago war es in den ersten Zeiten Sitte, dass der Vorsteher die Gemeinde zur Vorbereitung auf das Gebet mahnte, indem er die Worte vorausschickte: Sursum corda! Erhebet eure Herzen! Noch in unseren Tagen schreiben die Juden auf die Wände ihrer Synagogen die Worte: hm#n)lb Pwgk hnwkn)lb hlpt, d. h.: Ein Gebet ohne Ernst ist wie ein Körper ohne Seele. Und doch ist tatsächlich ihre Anbetung rein äußerlich, ein gedankenloses Hersagen auswendig gelernter Gebete, wie der Herr schon durch Jesaja (Kap. 29,13) klagt. Ein fleischlich gesinnter Mensch kann so wenig sein Herz im Gebet erheben, als ein Maulwurf fliegen. Selbst einem David wurde es bisweilen nicht leicht, denn auch des Besten Herz ist schwerfällig und neigt zur Erde wie das Gewicht an der Uhr. Darum lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns immerdar anklebt (Hebr. 12,1), und lasst uns Gott bitten, dass er uns zu sich emporziehe, wie der Magnet das Eisen. John Trapp † 1669.
V. 3. Zuschanden müssen sie werden, die ohne Ursache die Treue brechen. (Grundtext) So geschah es: Ahitophel erhängte sich (2. Samuel 17,23); Absalom wurde von Gottes Hand an den Baum geknüpft und Joab gab ihm den Todesstoß (2. Samuel 18,9.14); die sich mit ihm verbündet hatten, kamen teils durch das Schwert um, teils flohen sie voller Scham über den elenden Ausgang ihres sündigen Vorhabens. O der Macht des Gebets! Was gibt es, das die Heiligen nicht durchs Gebet erlangen könnten? John Trapp † 1669.
V. 4. Herr, zeige mir deine Wege usw. Es gilt wohl zu unterscheiden die Wege der Menschen und die Wege Gottes; die Pfade der Sünde und die Pfade der Gerechtigkeit; deine Steige und meine Steige; deine Wege der Wahrheit, meine des Irrtums; deine, die deinen Augen, meine, die meinen Augen gut scheinen; deine, die gen Himmel führen, meine, die in der Hölle endigen. Darum zeige mir, Herr, deine Wege, ich möchte sonst meine Wege für die deinen halten; ja, leite du mich in deiner Wahrheit, damit ich nicht von deinen Wegen abkomme und auf meine eigenen gerate. Zeige mir deine Wege durch dein Wort; lehre mich deine Steige durch deinen heiligen Geist; leite mich in deiner Wahrheit durch deinen gnädigen Beistand. Robert Mossom 1657.
V. 4-7. trägt er seine zwei Hauptbitten vor: dass Gott ihn lehren möchte seine Wege und seine Wahrheit erkennen und dass er sich seiner erbarmen und ihn bei gnädiger Vergebung der Sünden erhalten möchte. Aber wie bedächtlich bittet er auch noch zuvor um die Unterweisung in den Wegen Gottes! Mancher dringt immer auf die Vergebung seiner Sünden und auf die Versicherung davon, lässt sich aber Gottes Geist und Wort nicht genugsam in die Wahrheit Gottes hineinleiten und bleibt bei seinem Unverstand in Gottes Wegen auch im friedsamen Genuss der Vergebungsgnade zurück. Karl Heinrich Rieger † 1791.
V. 4.5.8.9. Handle nach dem, was du als Wahrheit erkennst, so wird Gott dir mehr Licht geben. Tu heute, was sich heute als deine Pflicht erweist, so wird Gott dir deine künftigen Pflichten klar machen, wenn für sie das Heute kommt. Lass es dein ernstes Anliegen sein, bewusste Unterlassungssünden zu meiden, so wird Gott dich vor den Begehungssünden, in die du zu fallen fürchtest, bewahren. Diese Regel ist von großer Bedeutung. Sieh, wie ernst David begehrte, in Gottes Wegen zu wandeln, und wie er darum so nachdrücklich um Gottes Unterweisung und Leitung flehte! Zeige mir deine Wege, die so wenige kennen; lehre mich deine Steige, damit ich nicht dem Trug verfalle; leite mich in deiner Wahrheit, damit ich deinen Willen nicht nur wisse, sondern auch tue. Das ist sein Flehen; aber welchen Grund hat er, Erhörung zu erwarten? Denn Du bist der Gott meines Heils; dein Liebeswille geht ja auf mein Heil, darum kannst du dich ja nicht weigern, mich zu unterweisen. Und die Antwort ist in V. 8.9 enthalten: Die Demütigen, die ihren Nacken unter sein Joch beugen, die nicht von dem Wahn befangen sind, als könnten sie sich selber führen, die leitet er in dem, was recht ist und lehret sie seinen Weg. Samuel Annesley † 1696.
V. 5. tme)E ist, wie das folgende "und lehre mich" zeigt, hier nicht die Treue Gottes, sondern die Wahrheit, welche in seinem Gesetz zutage liegt, vergl. Ps. 119,35; 19,8.10. Prof. Friedrich Baethgen 1904.
Den ganzen Tag (wörtlich) harre ich dein. Wir müssen unseres Gottes harren den ganzen Tag, mag der Tag uns auch gar lang werden, weil wir ganz gegen unsere Erwartungen und Berechnungen eine Stunde um die andere aufs Warten gewiesen werden. Harren müssen wir, ob es auch ein dunkler Tag ist und wir weder, was Gott tut, noch was wir tun sollen, verstehen. Harren sollen wir unseres Gottes, ob es auch ein stürmischer Tag ist an dem der Wind unser Schiff zurücktreibt oder wild umherwirft und jeden Augenblick der Untergang droht. Dennoch sollen wir voll guter Zuversicht sein, auf Gottes Hilfe warten und durch Geduld alle Schwierigkeiten besiegen. Christus ist im Schiff; warum so furchtsam? Gottes harren heißt auf ihn schauen, wie der Bettler auf seinen Wohltäter blickt mit dem ernstlichen Verlangen, eine Gabe von ihm zu empfangen. Gottes harren heißt nach ihm begehren, wie der Bräutigam nach der Braut. Nach ihr verlangt ihn von ganzer Seele; aber nach ihr allein. Hat er sie, so hat er sein Alles. Gottes harren heißt ferner in Abhängigkeit von Gott leben, wie das Kind sich in allem vom Vater abhängig weiß. Ihm vertraut es, auf ihn wirft es seine Sorgen. Schließlich heißt Gottes harren: leben in Unterwürfigkeit des Willens, leben zu seinem Dienst, wie der Knecht auf seinen Herrn wartet, allezeit bereit, seine Befehle auszuführen, sein Werk zu tun und in allem seine Ehre und seinen Nutzen zu befördern. Gottes harren heißt, sich völlig und ohne irgendwelchen Vorbehalt seinen weisen und heiligen Führungen und Verfügungen überlassen und freudig in sie einwilligen. Der Knecht erwählt nicht seinen eignen Weg, sondern folgt seinem Herrn auf Schritt und Tritt. So sollen wir uns Gott zur Verfügung stellen als solche, die keinen eignen Willen haben, sondern ihren Willen in dem seinen aufgehen lasen und darum nur eine Sorge haben, nämlich, wie sie ihm gefallen mögen. Matthew Henry † 1714.
Dein harre ich, dessen milde Hand, ja dessen liebevolles und erbarmungsreiches Herz für jeden Demütigen weit geöffnet ist. Dein harre ich, um die sanfte Stimme deines Geistes zu vernehmen, die meinem Gewissen Frieden zuspricht; harre ich, um die belebende Kraft deiner Gnade zu verspüren, die meinen Gehorsam anregt; harre ich, um die siegreiche Macht deines Geistes zu erfahren, die meine empörerische Natur bezwingt; harre ich, um die erquickende Kraft deiner Tröstungen zu genießen, die meine schmachtende Seele erfrischen. Um aller dieser Segnungen willen harre ich dein den ganzen Tag, du Gott meines Heils; den ganzen Tag, denn all die Güte, die du mir erzeigst, lässt mich nur desto sehnsüchtiger nach der ganzen Fülle deiner Segnungen ausschauen. Darum belebe du nur immer mehr mein Verlangen, lass es nicht gedämpft werden. Je freigebiger du bist, desto kühner lass mich werden; je köstlicher deine Gnade mir wird, desto sehnsüchtiger lass mein Verlangen werden, dass mein ganzes Leben ans Erden ein beständiges Sehnen nach der ewigen Gemeinschaft mit dir im Himmel werde. So lass mich dein harren mein Leben lang. Robert Mossom 1657.
V. 6. Deine Barmherzigkeiten. (Grundtext Mehrzahl.) O wie ruft da eine Tiefe der andern! Der unermessliche Abgrund meines Elends ruft, ruft laut dem unermesslichen Abgrund deiner Barmherzigkeit; deiner Barmherzigkeit, die meine Sünde vergibt und meine Gebrechen heilet; deiner Barmherzigkeit, in der du mich heiligst durch die Kraft deiner Gnade und mich tröstest durch deinen Geist; deiner Barmherzigkeit, durch die du mich von der Hölle errettest und zum Himmelserben machst. Gedenke, Herr, an diese deine mannigfaltige Barmherzigkeit, die sich von alters her an denen erwiesen hat, die auf dich harren. Robert Mossom 1657.
Deine Barmherzigkeit und deine Güte, die von der Urzeit oder von Ewigkeit her gewesen ist. Möge das in die graue Vorzeit, ja in die Ewigkeit zurückreichende Alter der göttlichen Liebe unsre Herzen dazu leiten, sie recht zu schätzen. Welchen Wert legen viele auf Altertümer, wenn sie auch nur aus ganz geringem Stoff gefertigt sind und an sich wenig Nutzen und Wert haben! Und alte Rechte und Gnadenbriefe, wie sorgsam hüten doch die Menschen sie; und doch handelt es sich dabei nur um zeitliche Vorteile und manchmal um solche von ganz geringfügiger Bedeutung. Wie sollten wir denn den großen himmlischen Gnadenbrief, der so viel älter ist als die ganze Welt, in beständiger Erinnerung haben, und wie sollte jeder Gedanke daran uns köstlich sein! Beim Aufstehen und beim Niederlegen und den ganzen Tag hindurch sollte uns der Gedanke an diese Liebe Gottes zu uns begleiten. Was aus der Ewigkeit stammt, das währt auch in Ewigkeit; ist die Wurzel ewig, so sind es auch die Zweige. Die göttliche Liebe ist eine immer fließende Quelle, die nie versiegt, solange noch ein Gefäß leer ist oder noch mehr zu fassen vermag. Und dieser Born steht allen offen, die nur zu ihm nahen. Darum komm und schöpfe! Und hast du selbst nicht Gefäße genug, so geh und leihe dir welche, leere Gefäße, und nicht wenige: "bezahle deine Schulden damit und nähre dich vom Übrigen" (2. Könige 4,7) - es wird für die Ewigkeit reichen! Elisha Coles 1678.
V. 7. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen. David ist dessen eingedenk, dass er nicht etwa erst kürzlich zu sündigen begonnen hat, sondern schon von langer Zeit her Sünde auf Sünde gehäuft hat; darum beugt er sich, wenn wir so sagen dürfen, unter die angehäufte Schuld. Sodann deutet er an, dass, wenn Gott mit ihm nach der Strenge des Gesetzes verfahren wollte, nicht nur die Sünden von gestern, oder von etlichen Tagen her, vor Gericht kommen würden, sondern dass dann alles, worin er sich sogar von seiner früheren Jugend an wider Gott vergangen hat, ihm mit Fug und Recht zur Last gelegt werden würde. Sooft Gott uns daher durch seine Züchtigungen und die Zeichen seines Zornes schreckt, lasst uns nicht nur die Sünden uns in Erinnerung rufen, welche wir kürzlich begangen haben, sondern auch diejenigen vergangener Zeiten; denn sie bieten uns in der Tat Grund zu erneuter Scham und erneuter Reue. Jean Calvin † 1564.
Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend. Das mag uns in Davids Mund ein überflüssiges Gebet scheinen; dürfen und müssen wir doch annehmen, dass David längst schon für die Sünden seines jugendlichen Alters Vergebung gesucht, dass ferner Gott sie ihm auf sein Bitten gewährt und gewiss nie widerrufen habe. Welche Veranlassung lag denn nun für David vor, diese Bitte um Vergebung für solch veralteter Sünden, die er vor langer Zeit begangen, aber auch Gott ihm längst schon vergeben hatte, wieder hervorzuziehen? Wir entgegnen auf diesen Einwurf erstens: Obwohl David ohne Zweifel schon längst wahre Reue über seine Jugendsünden an den Tag gelegt hatte, so empfand er doch, dass, wenn Gott ihn aufs Genaueste durchforsche, er auch mit seiner Reue nicht vor Gott bestehen könne. Zweitens hatte der Herr, obwohl er seine Sünde vergeben hatte, dem David doch die zeitliche Trübsal nicht erlassen, und diese mag, als David den Psalm dichtete, schwer auf ihm gelastet und das Bewusstsein seiner Schuld besonders lebhaft in ihm wachgerufen haben. Drittens ist Gottes Vergebung für vergangene Sünden stets gebunden an das fernere Wohlverhalten dessen, dem Gnade widerfahren ist. Hält er diese Bedingung nicht, so verdient er nach strengem Recht, dass ihm die empfangene Vergebung entzogen werde. Und wenn wir auch zugeben, dass David der Vergebung seiner Sünden gewiss gewesen sei, so steht es den Knechten Gottes doch wohl an, um die Segnungen zu bitten, deren Besitzes sie sich erfreuen, nicht um zu erlangen, was sie schon haben, denn das wäre ein müßiges Bitten, sondern um es zu bewahren. An solchem Flehen seiner Kinder hat Gott ein Wohlgefallen. Thomas Fuller † 1661.
Es ist ein böses Ding, mit dem "Alten der Tage" unausgeglichene Rechnung zu haben! John Trapp † 1669.
Wenn wir prüfend durchgehen, was uns etwa von Davids Jugendzeit bekannt ist, scheint es dann nicht (so mögen einige sagen) sehr unwahrscheinlich, dass David überhaupt Sünden der Jugend zu bekennen gehabt habe? Wir lesen nichts davon, dass er seine Kindheit etwa in Üppigkeit und Reichtum zugebracht habe. Ferner machen uns die Züge, welche die Bibel aus seiner Jugendgeschichte berichtet, nicht den Eindruck, dass er der verzogene Liebling seines Vaters gewesen sei; es scheint eher das Gegenteil der Fall gewesen zu sein, obwohl er der Jüngste in seines Vaters Haus war. Sodann war David von seiner frühesten Jugend an fromm. Vergl. Ps. 71,5-17; 22,10 f. und andere Stellen. Und aus dem frommen Kinde wurde ein Jüngling, der sich als Held des Glaubens zeigte, und aus dem glaubensstarken Jüngling der Mann nach dem Herzen Gottes. Er machte das böse Sprichwort zuschanden: In der Jugend ein Engel, im Alter ein Teufel. Und wohl zu beachten ist: David war schon von frühe an fast unaufhörlich im läuternden Tiegel der Trübsal. Wie konnte denn das Wasser trüb werden, das täglich geklärt wurde, wie der Stahl rostig werden, der täglich gewetzt wurde? Wie konnte Davids Seele in der Jugend schon unrein werden, da sie beständig durch Leiden gereinigt wurde? Die Antwort ist sehr einfach für den, der das Menschenherz, der sein eignes Herz kennt. David erkannte gar wohl, dass er in Sünden empfangen und geboren sei und sein Herz von Natur voll Verderbens sei. Denkt nicht, ich wolle den Versuch machen, euch zu sagen, an was für besondere Sünden David bei der Bitte unsres Verses gedacht habe. Sagt er doch selber im 19. Psalm: "Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir, Herr, die verborgnen Fehle!" Wenn Davids Jugend aber trotz all dem vorhin Genannten mit Sünden allerart befleckt war, was sollen wir dann von solchen sagen, die in Reichtum, Genusssucht und Gottlosigkeit erzogen sind? Thomas Fuller † 1661.
V. 8. Der Herr ist gut und fromm: Darum unterweiset er die Sünder auf dem Wege. Wie die Erwählung ein Ausfluss der unumschränkten göttlichen Freiheit, die Vergebung unsrer Sünden die Frucht seiner Barmherzigkeit, unsere Erkenntnis ein Bächlein aus dem unerschöpflichen Quell seiner Weisheit und unsere Kraft eine Wirkung seiner mächtigen Stärke ist, so ist unsere Reinheit ein Abglanz seiner Heiligkeit. Wie die Unschuld der Geschöpfe bei der ersten Schöpfung eine Wirkung der Heiligkeit Gottes war, so ist auch die Reinheit, die uns durch die geistliche Neuschöpfung zuteil wird, ein Ausfluss derselben göttlichen Vollkommenheit. Stephen Charnock † 1680.
V. 9. Die Demütigen leitet er im Recht und lehret die Demütigen seinen Weg. Die Willigkeit, sich leiten und lehren zu lassen, findet sich bei keinem Menschen, bis das von Natur so stolze und aufgeblähte Herz gedemütigt ist und sich zum Gehorsam ergeben hat. Darum ist es Gottes Weise, dass er erst die Menschen beugt und demütigt und dann ihnen seine Hand reicht, um sie durchs Leben zu leiten. Jean Calvin † 1564.
Die Demütigen lehrt der Herr seine Geheimnisse (V. 14), nicht die stolzen Geister, die sich in ihrer Gelehrsamkeit beschauen. Thomas Goodwin † 1679.
Die Demütigen, das sind solche, die sich zu seinen Füßen setzen und sprechen: Rede, Herr, denn dein Knecht höret (1. Samuel 3,9); solche, deren Herz geschmeidig und empfänglich ist. Ein solcher war z. B. William Austin (ein Zeitgenosse John Trapps), der sagte: Ich bin ein alter Mann; aber ich bin bereit, von einem jungen zu lernen, von meinem Gehilfen im Amt, der noch kaum ein Jahr im Dienst steht. John Trapp † 1669.
V. 10. Die Wege des Herrn. Das hebräische Wort bezeichnet die Spuren oder Gleise, welche die Wanderer oder die Wagen dadurch, dass sie immer wieder über dieselbe Stelle gehen, hervorbringen. Gnade und Wahrheit sind die Pfade, worin Gott in Bezug auf sein Walten mit den Menschenkindern beständig wandelt; und so häufig bezeugt er ihnen seine Gnade und erfüllt er seine Wahrheit, dass seine Pfade leicht erkennbar sind. Wie tief haben sich doch diese göttlichen Spuren in die Geschichte jeder Familie und jedes einzelnen eingeprägt! Wo immer wir unseren Fuß hinsetzen, da sehen wir: Die göttliche Gnade und Wahrheit sind da gewesen; wir sehen es an den tiefen Spuren, die sie zurückgelassen haben. Bezeugt sich aber Gott so als der Gnädige und Wahrhaftige an allen Menschen, so in besonderer Weise an denen, die seinen Bund und Zeugnisse halten, d. h. an denen, die sich seiner Offenbarung nicht nur dem Buchstaben nach unterwerfen, sondern in den Geist derselben eindringen. Adam Clarke † 1832.
Wie Gott seinem Wesen nach die Liebe und die Wahrheit ist, so sind auch alle seine Wege mit den Menschenkindern nichts als Gnade und Treue: Gnade, indem sie allesamt auf unser Bestes zielen, und Wahrheit oder Treue, indem sie seine Verheißungen zur Erfüllung bringen und seine Treue gegen uns ins Licht stellen. Was immer darum Gott dir senden mag, und wenn es auch deinen Erwartungen schnurstracks zuwiderläuft, lege du es als Liebe aus! A bono Deo nil nisi bonum: Von dem guten Gott kommt nichts als Gutes. Versuche es, ob du in dem rätselhaften Walten Gottes mit dir nicht schon in der Gegenwart irgendeinen auf dein Bestes gerichteten Zweck erspähen kannst; und wenn dir das nicht gelingen will, dann lass den Glauben sein Werk tun und harre: dein Gott wird’s herrlich hinausführen. Thomas Goodwin † 1679.
V. 11. Um deines Namens willen, Herr, sei gnädig meiner Missetat, denn sie ist groß. Ja, mein Gott, ich bekenne es: Wir alle sind sündig im höchsten Maße. Aber es liegt mir so fern, darin einen Grund zum Unterlassen meines Flehens zu sehen, dass ich darin vielmehr einen neuen, und zwar einen überwältigenden Grund sehe, der deine Güte zu uns herabziehen wird. Alles, was ich vorhin gesagt habe, ist auf nichts anderes gegründet als auf die Herrlichkeit und Ehre deines hochheiligen Namens. Um deines Namens willen. Und welchen Beweggrund zum Helfen könnte ich vorführen, der diesen deinen Namen mehr verherrlichen würde, als dass unsere Sünden zahlreich und schwer sind? Um deines Namens willen, Herr, sei gnädig meiner Missetat, denn sie ist groß. Ich bitte dich nicht, sagt David, Sünden alltäglicher Art zu vergeben, sondern viele Sünden, große Sünden. (Das Wort des Grundtextes bedeutet beides: viel und groß) Wahrlich, das ist ein Beweggrund, der des Herzens Gottes würdig ist! Erhabene Schlussfolgerung, die nur Kraft haben kann, wenn sie sich auf die höchste Güte stützt! Der Sünder führt, um Vergebung seiner Sünden zu erlangen, Gott vor, wie groß und zahlreich seine Missetaten seien! Ja, so ist’s; und das nicht aus Liebe zum Sünder, noch aus Liebe zur Sünde, sondern aus Liebe zu Gottes Ehre und Herrlichkeit; welche Herrlichkeit sich desto größer und ruhmvoller erweist, je schwerer und zahlreicher die Sünden sind, welche sie vergibt. Und da die Größe der göttlichen Barmherzigkeit unermesslich und die Mannigfaltigkeit seiner Gnade unendlich ist und das Unermeßliche nicht gemessen und das Unendliche nicht gezählt werden kann, ist es in gewissem Sinne gerade für die Erweisung der Größe der göttlichen Barmherzigkeit und die Mannigfaltigkeit der göttlichen Gnade, damit beide einen angemessenen Gegenstand der Verherrlichung haben, nötig, dass die zu vergebenden Sünden groß und zahlreich seien. 9 Denn sie ist groß. So habe ich denn guten Grund, o Herr, dadurch, dass unsre Sünden groß und zahlreich sind, mich nicht entmutigen zu lassen. Grund habe ich auch, dich zu fragen, warum du nicht eilst, sie zu vergeben.- Aus einer Fastenpredigt, gehalten zur Zeit, als den portugiesischen Besitzungen in Brasilien Verwüstung durch die Holländer drohte, von Antonio de Vieyra † 1697.
NO(f ist die Sünde als in Verschuldung setzender Zustand. Das folgende Denn begründet nicht, dass Jahve die Schuld vergibt, sondern dass er sie um seines Namens willen vergibt. Bei der Größe der Schuld hat er für die Vergebung nur ein einziges, in seinem Wesen selbst liegendes Motiv. Lic. H. Keßler 1899.
Für das Wort Name können wir an vielen Stellen Ehre oder Herrlichkeit setzen. Wenn Gott zu David sagt: "Ich habe dir einen großen Namen gemacht, wie der Name der Großen auf Erden" (2. Samuel 7,9), oder wenn die Gemeinde zu Gott sagt: "Du hast dir einen Namen gemacht, wie er jetzt ist" (Neh. 9,10), so ist es klar, dass mit dem Namen die Ehre gemeint ist. Dazu passt, dass im Hebräischen berühmte Männer "Männer von Namen" heißen (1. Mose 6,4). So tut Gott, wenn er Sünde vergibt, dies um seines Namens, d. h. um seiner Ehre und Herrlichkeit willen. In der Tat ist Gottes Herrlichkeit das Endziel alles seines Tuns. Unter allem, was Gott tut, ist aber nichts, was so sehr seine Herrlichkeit ins Licht stellt wie die Vergebung der Sünden. Es ist einem Mann eine Ehre, dass er Untugend überhören kann (Spr. 19,11; vergl. 1. Samuel 10,27; 11,12 f.); das sind Heldentaten, größer als solche, die die körperliche Überlegenheit zeigen. Wie viel mehr ist es Gott eine Ehre, Sünde zu vergeben! Seine Gnade und Barmherzigkeit, seine Güte und Leutseligkeit offenbaren sich in nichts so herrlich wie in der Tilgung unserer Missetaten. Paulus spricht davon, wie sich in der göttlichen Langmut gegenüber dem Sünder ein Reichtum der Güte erzeigt; wie viel größer noch erweist sich dieser Reichtum in der Vergebung der Sünden! Ja, Gott hat den Weg des Heils so geordnet, dass darin nicht nur die Herrlichkeit seiner Gnade, sondern auch seiner Gerechtigkeit, ja auch seiner Weisheit, die er beide zu vereinen gewusst hat, wunderbar ins Licht tritt. - Der Name ist die Offenbarung des Wesens; durch die Vergebung der Sünden macht Gott seine herrlichsten Eigenschaften kund, und eben dies ist der Zweck, wozu er jene verleiht. Diese Art, die Sache zu betrachten, kann uns sehr tröstlich werden. Eben weil Gott die Sünden um seines Namens willen vergibt, ist er bereit, große Sünden sowohl als kleine, viele sowohl als wenige zu vergeben. Ja, je größer unsere Sündenschuld ist, desto größer ist die Vergebung, desto größer auch Gottes Herrlichkeit, und darum macht David die Größe seiner Missetat zu einem Grund, Vergebung vom Herrn zu erflehen. Sich in schwere Sünden zu stürzen, damit Gott sich durch ihre Vergebung verherrliche, das wäre verabscheuungswürdige Vermessenheit; aber zu hoffen, dass unsre großen Sünden, wenn wir aufrichtig Buße tun, uns um seines Namens willen werden vergeben werden, das ist eine wohlbegründete Erwartung, die sich uns hilfreich erweisen mag selbst wider die stärksten Versuchungen zur Verzweiflung. Nathanael Hardy † 1670.
Wer in Aufrichtigkeit zu Gott kommt, um Vergebung seiner Sünden zu erlangen, sieht diese nicht als klein, sondern als groß an; groß, weil gegen einen großen Gott, gegen große Langmut und große Gnadenerweisungen begangen; groß auch wegen des empfangenen Lichtes, wider das man gesündigt hat; groß wegen der Menge der Sünden, groß wegen des Beharrens in denselben; groß wegen der vielen gebrochenen Vorsätze; groß, weil die Sünde so tief gewurzelt ist; groß wegen der Herrschaft, die sie ausgeübt hat; groß, weil auch der Zorn Gottes wider die Sünde groß ist; groß endlich, weil der Sünder auch andre zur Sünde verleitet. Anthony Palmer 1678.
"Huh!", sagt Pharao, "schafft mir diese ekelhaften Frösche, diesen schrecklichen Donner weg!" Was aber sagt David? "Herr, nimm weg die Missetat deines Knechts!" (2. Samuel 24,10.) Der eine begehrt, von der Züchtigung, von den Folgen der Sünde, befreit zu werden, der andre von der Sünde selbst, der Ursache der Züchtigung. Und es ist sehr wahr, dass der echte Christ sich um die Sünde viel mehr Kummer macht, als um die Frösche und den Donner. Ihm ist die Sünde noch viel ekelhafter als Frösche und Kröten und er hat mehr Angst vor ihr als vor Blitz und Donner. Jeremiah Dyke † 1620.
Pharao beklagte mehr die harten Plagen, die über ihn kamen, als das harte Herz, das in ihm war. Esau wurde über die Maßen sehr betrübt, nicht über seine Sünde, dass er sein Erstgeburtsrecht verkauft hatte, sondern über die darauf folgende Strafe, dass er den Segen verlor. Das ist gerade, wie wenn einem, der Zwiebeln schneidet, die Augen übergehen: Die Tränen fließen, weil die Schmerzen beißen. Der Seemann wirft beim Sturm die Ladung über Bord, die er sehnlich zurückwünscht, wenn das Wetter wieder heiter ist. Viele klagen mehr über die Leiden, zu denen sie geboren sind, als über die Sünden, in welchen sie geboren sind; sie erzittern mehr vor der Strafe der Sünde als vor dem Gift der Sünde. Dieses lieben sie, der Gedanke an jene erschreckt sie. William Secker 1660.
V. 12. Wer ist der, der den Herrn fürchtet? Furcht in der Zeit verbürgt ewige Sicherheit. Fürchte Gott, den über alles Erhabenen, so brauchst du keinen Menschen zu fürchten. Aurelius Augustinus † 430.
V. 13. Seine Seele wird im Guten wohnen - es wird ihm nicht gehen wie Adam, der in den Genuss all der Herrlichkeiten des Paradieses gesetzt war, aber nur wenige Tage darin verblieb. Propst Gerhoch von Reichersberg † 1169.
Die Verheißung "das Land zu besitzen" ist von der Zeit her, als sie Mose im eigentlichen Sinn seinem Volk gegeben hat (5. Mose 4,22.40; 5,33; 6,18), im uneigentlichen Sinn zur Bezeichnung eines ungetrübten Friedens gebraucht worden, wie man das besonders aus Spr. 2,21 sieht. Vergl. Ps. 37,8 f. Prof. A. F. Tholuck 1843.
V. 14. Das Geheimnis, oder: die Freundschaft des Herrn usw. Der Gottesfürchtige ist Gottes Freund, mit ihm verbindet sich Gott in trauter Gemeinschaft, ihm enthüllt er seine Geheimnisse, indem er ihm offenbart, welche Strafen und Qualen er für solche in Bereitschaft hat, die durch ihre Gottlosigkeit in der Welt blühen und gedeihen. (Vergl. 1. Mose 18,17 ff.; Joh. 15,15; Jak. 2,23) Und so wie der Herr die Gottlosen hasst, so liebt er die Gerechten. Hält er sich von den Verkehrten fern als von solchen, die ihm ein Gräuel sind, so vertraut er dagegen den Gerechten, als seinen liebsten Freunden, seine verborgensten Geheimnisse an. Es ist einem Menschen eine Ehre, wenn ihm von einem anderen ein Geheimnis anvertraut wird; eine noch größere Ehre ist es ihm, wenn der König ihn zu seinem Vertrauten macht; aber wie hoch ist die Ehre dessen, dem Gott seine Geheimnisse kundtut! Denn wem Gottes Geheimnisse zuteil werden, der hat Gottes Herz, ja Gott selbst. Solche Ehre widerfuhr dem Johannes, von dem St. Bernhard († 1153) aus Anlass des Anfangs seines Evangeliums sagt: "Ist’s nicht als habe Johannes seine Seele in die Tiefen dessen getaucht, den er das Wort nennt, und als habe er von den Brüsten der ewigen Weisheit die Quintessenz der göttlichen Geheimnisse gesogen?" Ebenso war es mit St. Paulus, der da sagt: Wir reden Gottes geheime Weisheit, die verborgene, welche keiner von den Obersten dieser Welt erkannt hat. (1. Kor. 2,7 f.) Michael Jermin † 1659.
Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes; alle die Tatsachen der christlichen Erfahrung sind ihm gänzlich verborgen. Ihm von der Gemeinschaft mit Gott, von der Erfahrung der Vergebung, von der lebendigen Christenhoffnung, von dem Zeugnis des heiligen Geistes im Herzen des Gotteskindes oder von den Kämpfen des geistlichen Lebens zu reden, das wäre, wie wenn man mit einem Blinden über die Farben oder mit einem Tauben über die Harmonien der Musik reden wollte. John Morison 1829.
Obwohl des Herrn Bund mit seinem auserwählten Volke offen am Tage liegt und seine Zeugnisse keine Geheimlehre sind, so ist es um die traute Gemeinschaft, welche die gläubige Seele mit Gott auf Grund seines Bundes genießen darf, doch ein Geheimnis. Wer den Herrn fürchtet, dem schließt sich dies Geheimnis auf, während es solchen, die nur dem Buchstaben nach Genossen des Bundes sind, gänzlich verborgen bleibt. Denn nur denen, die den Herrn fürchten, ist diese Verheißung gegeben, dass er sie seinen Bund wissen lässt. David Dickson † 1662.
Ein echter Freund lässt den Freund die innersten Gedanken seines Herzens lesen. So offenherzig ist Gott gegen die Seinen: Das Geheimnis des Herrn ist unter denen, die ihn fürchten. Er selbst gibt uns den Schlüssel zu seinem Herzen und tut uns kund, welcherart seine Gedanken gegen uns sind, ja gegen uns waren, schon ehe der Welt Grund gelegt war (Eph. 1,4); und dies tut er durch seinen Geist, der da weiß, was in Gott ist, und die Tiefen Gottes erforscht. (1. Kor. 2,10 f.) Dieser sein Geist hat uns in den heiligen Schriften den ewigen Liebesratschluss Gottes kundgetan; und überdies nimmt dieser selbe Geist nun Wohnung in den Herzen der Gläubigen und legt ihnen Gottes Gedanken aus. William Gurnall † 1679.
Weder Gelehrsamkeit noch Anstrengung kann uns in Gottes Geheimnisse, in die arcana imperii, die Geheimnisse des Himmelreichs (Mt. 13,11), oder in des Herrn Sinn (1. Kor. 2,16) Einsicht geben. Diese Erkenntnisse werden uns nicht sowohl durch Vernunftschlüsse, als vielmehr durch Offenbarung zuteil und müssen darum erbeten werden. Wer mit Ernst nach Gott trachtet, wird in seinen geheimen Rat eingeweiht, lernt seines Herzens Gedanken kennen und wird der trauten Gemeinschaft mit ihm gewürdigt. John Trapp † 1669.
Mit Gott wandeln, das ist der beste Weg, Gott kennen zu lernen. Freunde, die miteinander Hand in Hand gehen, teilen sich gegenseitig ihre Geheimnisse mit. Noah wandelte mit Gott und der Herr machte ihm ein großes Geheimnis kund, nämlich, dass er die alte Welt zerstören und ihn in der Arche lebendig erhalten wollte. Abraham wandelte mit Gott, und der Herr machte ihn zu einem Mitglied seines geheimen Rats: Wie kann ich Abraham verbergen, was ich tue? (1. Mose 18,17) Manchmal enthüllt der Herr sich der Seele wunderbar beim Gebet oder beim Genuss des heiligen Mahles, wie Christus sich seinen Jüngern zu erkennen gab, als er das Brot brach (Lk. 24,35). Thomas Watson 1660.
V. 15. Meine Augen sehen stets zu dem Herrn. Obwohl wir ihn jetzt nicht sehen können, weil unsere Augen so kurzsichtig und unverständig sind, müssen wir doch zu ihm aufsehen, zu der Stätte, da seine Ehre wohnt, als solche, die ihn und seinen Willen zu erkennen begehren, denen seine Ehre das Ziel alles ihres Tuns ist, und die sich, sie seien daheim oder pilgern, befleißigen, dass sie ihm wohlgefallen (2. Kor. 5,9). Matthew Henry † 1714.
Mit den Augen, die der schärfste Sinn sind und deren Tätigkeit den ganzen Menschen in Anspruch nimmt, werden oft alle Regungen zugleich bezeichnet, so dass "meine Augen sehen auf den Herrn" etwa heißt: Alle meine Gedanken sind auf Gott gerichtet. Jean Calvin † 1564.
V.17. Die Ängste meines Herzens haben sich ausgebreitet. (Wörtl.) Möge keiner, der in des Herrn Wegen wandelt, sich darüber verwundern, dass er viele Trübsale hat und diese ihm vielfach unerklärlich sind. Es ist bei Gottes Volk stets so gewesen. Der Weg zum Himmel ist mit den Tränen und dem Blut der Heiligen getränkt. William S. Plumer 1867.
Führe mich ans meinen Nöten. Wir dürfen nicht über Gott, wohl aber vor Gott klagen. Wir dürfen mit allem Ernst um Hilfe und Erlösung rufen, wenn es mit Ergebung in seinen heiligen Willen geschieht. William Swan Plumer 1867.
V. 19. Siehe an meine Feinde. (Grundtext) Dies ist eine andere Art des Blickes als die V. 18 gemeinte. Siehe sie an, wie du einst aus der Feuersäule und Wolke auf das Heer der Ägypter geschaut und einen Schrecken in ihrem Heer gemacht hast (2. Mose 14,24). Sowohl die Zahl als die Art seiner Feinde macht David in seinem Hilferuf geltend. Denn ihrer sind viel (Grundtext): Das Herz jedermanns in Israel folgte Absalom nach (2. Samuel 15,13). Und so sind auch der geistlichen Feinde des Volkes Gottes viel. Und hassen mich mit gewalttätigem Hass (Grundtext), wie Simeon und Levi. (1. Mose 34,25; 49,5 ff.) Ihr Hass brach in grausamer Weise aus, in frevelhaften Gewalttaten; und er war umso grausamer, als er unbegründet war. Eben derart ist auch der Hass Satans und seiner Häscher gegen die Nachfolger Christi. Sie dürsten nach ihrem Blut und machen sich damit trunken. Sogar ihre Barmherzigkeit ist grausam, wie viel mehr ihr Hass! John Gill † 1771.
Und wie sie mich mit gewalttätigem Hasse verfolgen. (Andere Übers.) Kein Geschöpf ist so grausam und gewalttätig gegen seinesgleichen wie der Mensch. Viele Raubtiere töten andere Geschöpfe, verschonen aber ihresgleichen; die Menschen aber reiben sich untereinander auf. Der Mensch ist listiger als der Fuchs, blutdürstiger als der Tiger, wilder als der Löwe; ja der Mensch ist gegen den Menschen ein Teufel, wenn er sich selbst überlassen wird. William Struther 1629.
V. 21. Dieser Psalm war der Lieblingspsalm des bekannten Pfarrers Wilhelm Löhe († 1872) in Neuendettelsau. Der 21. Vers: Schlecht und recht, das behüte mich, Herr, denn ich harre dein, steht als Motto in der ihm eignen schönen und klaren Handschrift unter seinem Bilde. Ebenso steht er auf dem Titelblatt seiner kleinen Schrift "Von der weiblichen Einfalt". Löhe fand nämlich, dass das Wesen der Einfalt in keinem Spruche der Schrift schöner und voller ausgesprochen sei, als in diesem. "Hier", sagt er, "sind alle Elemente der Einfalt beisammen. Der Herr, auf den wir harren; das höchste Gut, nach welchem wir trachten: das ,Schlecht’ oder Schlechte oder Schlicht ist nach dem Hebräischen nichts anders als jene Beschaffenheit der Seele, da man nichts will als sein Ziel, und das ganz, ohne Rückhalt; und das Rechte ist nichts anders als jene edle Tugend der geraden, lauteren Redlichkeit, die, was man völlig will, doch nur auf unsträflichem und geradem Wege sucht." Wie lieb ihm der Psalm war, sieht man daraus, dass er ihn seiner Evangelien Postille vordrucken ließ. Rudolf Kögel 1895.
V. 22. Gott, erlöse Israel aus aller seiner Not. Willst du mir nicht aus Erbarmen gegen mich helfen, so verschone doch mein Volk, das um meinetwillen und mit mir leidet. Mt. Polus † 1679.
Für das Volk Gottes kann keiner beten, der nicht selbst erst Frieden mit Gott gemacht hat. John Trapp † 1669.
Dieser inhaltreiche, schöne Psalm schließt mit einer gar lieblichen Bitte, einer Bitte, mit der jeder, der zu dem wahren Israel Gottes gehört, gerne scheiden möchte. Es spricht aus ihr derselbe Geist, der uns in der Zeit der beginnenden Heilserfüllung in dem Schwanengesang des alten Simeon entgegentritt (Lk. 2, 29 f.). Barton Bouchier 1855.
Homiletische Winke
V. 1. | Zu dir, Herr, erhebe ich meine Seele. (Grundtext) Wie vermögen wir unsre an die Erde gebundenen Seelen himmelwärts zu erheben? Durch inbrünstiges Gebet. Das Wesen und der Segen wahrer Andacht. |
V. 2. | Die Seele vor Anker (2a) und die beiden Klippen, vor denen sie bewahrt werden möchte (2b-c). |
V. 3. | Wem die Schande zukommt und wem nicht. |
V. 4. | Praktische Gottesgelehrtheit das beste Studium, Gott der beste Lehrer darin, das Gebet die beste Vorbereitung dazu. |
V. 4-5. | Drei zum Christenwandel nötige Stücke: 1) Zeige mir, 2) lehre mich, 3) leite mich.- 1) Kundmachung der Wege, d. h. des Willens Gottes; 2) Erleuchtung zum Umsetzen der Erkenntnis in praktischen Gehorsam ("deine Pfade lehre mich"): und 3) Handleitung Gottes in der Wahrheit. |
V. 5. | 1) Der Christ trachtet nach der Heiligung, 2) sucht Erleuchtung, 3) erfreut sich guter Zuversicht zu Gott, 4) und übt sich im Harren auf Gott. Du bist der Gott meines Heils. (Wörtl.) Ein unerschöpflicher Text. Auf dich harre ich den ganzen Tag. (Wörtl.) Wie man den Tag mit Gott durchlebt. |
V. 6-7. | Drei "Gedenke". Die Sünde ist eingewurzelt (von Jugend auf); die Gnade aber ist noch tiefer gewurzelt (von Ewigkeit her). |
V. 7. | Die beste Amnestie. Vergessen und Gedenken erbeten. Beachte das "mein" und "dein" im Text. |
V. 8b. | Der heilige Gott lehrt die Sünder - welches Wunder der Gnade! |
V. 9. | Welche "Elenden" sind im Text gemeint? Die Demütigen und Sanftmütigen (vergl. Mt. 5,5; 11,29). Welches sind ihre Vorrechte? Wie werden wir demütig und sanftmütig? |
V. 10. | Gottes Güte (Gnade) und Wahrheit (Treue) und wer die sind, die aus diesen Eigenschaften Gottes Trost schöpfen können? |
V. 11. | Ein Mustergebet. Das Bekenntnis, das es ablegt, der Beweggrund zur Hilfe, den es Gott vorhält, die Bitte selbst usw. Die Größe der Schuld kein Hindernis für den reumütigen Sünder, Vergebung zu erlangen. |
V. 12. | Gottesfurcht die beste Bürgschaft für ein wohl geordnetes Leben. |
V. 13. | Glück für Zeit und Ewigkeit. |
V. 14. | Ein Geheimnis und wer es weiß; ein Wunder und wer es sieht. |
V. 15. | 1) Wem gleichen wir? Einem törichten Vögelein. 2) Welche Gefahr droht uns? Das Netz. 3) Wer ist unser Beschützer? Der Herr. 4) Worin besteht für uns die wahre Weisheit? "Meine Augen sehen stets zu dem Herrn". |
V. 16. | Eine einsame Seele, die himmlische Gesellschaft sucht, und ein betrübter Geist, der um Gottes Gnade fleht. Bei unserm Gott ist der rechte Balsam für alle unsre Wunden zu finden. |
V. 16-18. | David war ein Dulder, aber auch ein Beter. Die Not tut uns kein Leid, die uns näher zu Gott bringt. Um drei Dinge bittet der Knecht des Herrn: 1) Dass Gott ihn aus der Not führe. Dies sollen wir begehren, doch mit Ergebung in Gottes Willen. 2) Dass Gott ihn in seiner Not ansehe. Ein freundlicher Blick Gottes ist allezeit, in allen Umständen, köstlich; aber in Jammer und Elend ist er wie Leben aus den Toten. 3) Dass Gott ihm vergebe. Trübsale sind besonders dazu geeignet, das Schuldgefühl zu erwecken. William Jay † 1853. |
V. 17. | Not lehrt beten. |
V. 18. | Wir entnehmen dem Text zwei Lehren: 1) Wir sehnen uns in der Trübsal nach einem göttlichen Gnadenblick, der a) unsere besondere Not ansehen wolle, b) ein Blick des Erbarmens sei, c) und ein Blick der Hilfe. 2) Der kräftigste Trost in der Trübsal ist die Gewissheit der göttlichen Vergebung. Denn: a) die Trübsal bringt uns unsere Sünde in Erinnerung; b) die Gewissheit der Vergebung vertreibt in hohem Maße die Furcht vor Tod und Gericht. Anwendung: 1) Lasst uns die Güte Gottes anbeten, dass er, der Erhabene und Herrliche, auf sündige Menschenkinder huldvoll herabblickt. 2) Die Erinnerung an frühere Gnadenblicke Gottes bedränge uns, zu beten und zu hoffen, dass er auch jetzt uns ansehen werde. 3) Wenn ein freundlicher Blick Gottes so trostreich ist, was muss der Himmel sein! Samuel Lavington † 1807. 1) Es ist gut, wenn unsre Trübsal uns unsere Sünde ins Gedächtnis ruft; 2) wenn wir ebenso sehr nach Vergebung als nach Befreiung vom Übel verlangen; 3) wenn wir beide Begehren am rechten Orte im Gebet vorbringen: 4) wenn wir in Bezug auf unsere Leiden alles Gott anheim stellen ("Siehe an u."), dagegen inbetreff unserer Sünden sehr bestimmt bitten ("Vergib ..."). |
V. 19. | Die geistlichen Feinde des Gläubigen. Ihre Zahl, Bosheit, List, Macht usw. |
V. 20. | Das Flehen um göttlichen Schutz für die Seele. 1) Was es begehrt: a) Bewahrung, b) Errettung. 2) Wie notwendig es ist: es gilt, nicht zuschanden zu werden. 3) Was uns die Gewährung verbürgt: Ich traue auf dich. |
V. 21. | Der offenbare Weg des Heils (schlecht und recht, vergl. dazu Lk. 10,28) und der verborgene Weg des Heils (Ich traue auf dich, vergl. Dazu Röm. 1,17: Der Gerechte lebt seines Glaubens). |
V. 22. | Jakobs Leben kann diese Bitte in lehrreicher Weise erläutern. Ein Gebet für die ecclesia militans, die kämpfende Gemeinde Gottes auf Erden. |
Fußnoten
1. Der Grundtext fügt hinzu: o Herr.
2. Die spätere Übers. Luthers: "Nach dir, Herr, verlanget mich", gibt jedoch den Sinn des Grundtextes besser wieder, da "die Seele auf etwas richten" heißt: sein Verlangen darauf richten. Vergl. den gleichen Ausdruck Ps. 24,4. Grundtext
3. Spurgeon bezieht dies nach dem Vorgang Calvins und anderer auf das Verhalten gegen David; doch spricht der Gegensatz "die dein harren" für die auch sonst in den Psalmen gewöhnliche Bedeutung: von Gott abtrünnig sein. Da es einen begründeten Abfall von Jahwe nicht geben kann, fasst Bäthen das
4. Amnestie heißt bekanntlich: das Nichteingedenksein, Vergessen. Im Englischen nach dem Lateinischen ebenso: act of oblivion.
5. Obwohl wir dafür sind, r$fyf (gerade) bezeichne hier Gott zunächst als den, der es treu meint mit den Menschen, liegen doch die Anwendungen Spurgeons dem Text nicht so fern, da ohne Zweifel die Erwähnung der Rechtschaffenheit Gottes zur sittlichen Bestimmung seiner vorher genannten Güte dient.
6. Ragged schools sind die bekannten Freischulen für die zerlumpte Straßenjugend Londons.
7. Das hebr. Wort faßt die Bedeutungen elend und demütig, auch sanftmütig in sich zusammen.
8. Die Übersetzung Luthers und die der engl. Bibel sind sprachlich kaum haltbar, da das hiph. von bxr sich im intrans. Sinn (sich ausbreiten) nicht belegen lässt. Die
meisten Ausleger lesen
9. Wir erinnern bei Gelegenheit dieser missverständlichen Äußerung Vieyras daran, dass Spurgeon sich entschieden gegen die Annahme verwahrt, als unterschreibe er alles, was er aus anderen Werken anführt. Siehe die Vorrede.