Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 78 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Eine Unterweisung Asaphs. Mit vollem Recht wird dieser Psalm eine Unterweisung1 genannt; denn sein Zweck ist nicht bloß, eine Reihe der wichtigsten Ereignisse aus der israelitischen Geschichte in gedrängter Schilderung vorzuführen, sondern er will als ein Gleichnis angesehen sein, in welchem die Gläubigen aller Zeiten ihr Verhalten und ihre Erfahrungen abgespiegelt sehen können. Es ist ein auffallender Beweis von der Torheit mancher gelehrten Leute, dass es Homiletiker gibt, welche dagegen Einwendungen erheben, dass man die geschichtlichen Teile der Schrift in Predigten und Bibelstunden behandle, als ob diese Stücke keine Unterweisung in geistlichen Dingen enthielten. Wären solche Männer wirklich vom Geiste Gottes erleuchtet, so würden sie einsehen, dass die ganze Schrift nütze ist zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit (2. Tim. 3,16) und würden ob der sündlichen Torheit, einen Teil der göttlichen Offenbarungsurkunde unterschätzt zu haben, erröten.

Einteilung. Wiewohl der Psalm ein einheitliches Ganzes bildet, wollen wir doch zur Bequemlichkeit des Lesers bemerken, dass man die V. 1-8 als eine Einleitung betrachten kann, in welcher der Dichter den Zweck seines epischen Gedichtes entwickelt, und dass bei dem Übrigen etwa folgende Teile zu unterscheiden sind: In V. 9-41 ist der Gegenstand: Israel in der Wüste. Darauf wird V. 42-53 geschildert, wie gütig der HERR sich vorzeiten gegen Israel bewiesen hat, indem er es durch Plagen und Wunder aus Ägypten führte. Die Geschichte des Volkes wird von V. 54 an wieder aufgenommen und bis V. 66 fortgesetzt, wo wir an die Zeit kommen, da die Bundeslade nach dem Zion übergeführt wurde und die Führerschaft in Israel von Ephraim auf Juda überging. Davon reden die Schlussverse, 67-72.


Auslegung

1. Höre, mein Volk, mein Gesetz;
neiget eure Ohren zu der Rede meines Mundes!
2. Ich will meinen Mund auftun zu Sprüchen
und alte Geschichten aussprechen,
3. die wir gehört haben und wissen
und unsre Väter uns erzählet haben,
4. dass wir’s nicht verhalten sollten ihren Kindern,
die hernach kommen, und verkündigten den Ruhm des Herrn
und seine Macht und Wunder, die er getan hat.
5. Er richtete ein Zeugnis auf in Jakob
und gab ein Gesetz in Israel,
das er unseren Vätern gebot zu lehren ihre Kinder,
6. auf dass es die Nachkommen lerneten
und die Kinder, die noch sollten geboren werden;
wenn sie aufkämen, dass sie es auch ihren Kindern verkündigten;
7. dass sie setzten auf Gott ihre Hoffnung
und nicht vergäßen der Taten Gottes
und seine Gebote hielten
8. und nicht würden wie ihre Väter,
eine abtrünnige und ungehorsame Art,
welchen ihr Herz nicht fest war
und ihr Geist nicht treulich hielt an Gott.


1. Höre, mein Volk, mein Gesetz (meine Unterweisung). Der gottbegeisterte Barde fordert seine Volksgenossen auf, seinem patriotischen Lehrgedicht Beachtung zu schenken. Wir erwarten ganz natürlich, dass Gottes auserwähltes Geschlecht das erste sein werde, auf Gottes Stimme zu hören. Wenn der HERR seine Wahrheit in unserer Sprache erschallen lässt und seine Boten aussendet, die er sich dazu herangebildet hat, dass sie sein Wort in Kraft verkündigen, so ist das Wenigste, was wir tun können, dass wir ihnen unser Ohr leihen und von Herzen gehorsam werden. Wenn Gott redet, sollten da seine Kinder sich weigern zu hören? Sein Lehrwort hat Gesetzeskraft; darum lasst uns ihm Ohr und Herz zuwenden. Neiget eure Ohren zu der Rede meines Mundes. Gebt gut Acht, beugt euren steifen Nacken, neigt euch vor, dass euch kein Laut entgehe. Wir, die wir die heiligen Urkunden lesen, sind auch heutigentags verpflichtet, uns in sie zu vertiefen, ihren Sinn zu erforschen und danach zu ringen, dass wir ihre Lehren in die Tat umsetzen. Wie der Offizier das Exerzieren mit dem Kommando: Achtung! beginnt, so ergeht auch an den Streiter Christi die Aufforderung, den Worten seines himmlischen Befehlshabers seine volle Aufmerksamkeit zuzuwenden. Wir Menschen hören ja so gern Musik: wieviel mehr denn sollten wir den ewigen Harmonien des Evangeliums lauschen! Wie oft sitzen die Leute in lautloser Stille, wie gefesselt, einem menschlichen Redner zu Füßen: wieviel mehr sollten sie sich dem Einfluss der Beredsamkeit des Himmels hingeben!

2. Ich will meinen Mund auftun zu Sprüchen. Der Dichter gibt in dem Psalm einen Abriss der Geschichte seines Volks von Mose bis David; aber nicht als Geschichtsschreiber erzählt er, sondern als mahnender Prophet hält er seinen Zeitgenossen Gottes Barmherzigkeit und Treue und Israels Ungehorsam und Undankbarkeit vor. Er nennt seinen Psalm eine Spruch- oder Gleichnisrede, weil derselbe Lehre für die Hörer enthält. (Die Form der Darstellung schließt sich ebenfalls der markigen, malenden Art der Spruchrede an.) Auch uns soll die Geschichte Israels als ein mahnendes Gleichnis dienen. Ähnlichkeiten zwischen der Geschichte Israels und dem Lebensgang der Gläubigen sind nicht ein Erzeugnis unserer Einbildung, sondern sind von Gott in die Geschichte hineingelegt, damit wir sie aufspüren und verfolgen. Israel war dazu verordnet, uns - sei es reizend, sei es warnend - als Vorbild zu dienen; die Stämme und ihre Erlebnisse sind lebendige Sinnbilder, gezeichnet von der Hand der allweisen Vorsehung. Leute, die kein geistliches Verständnis haben, mögen das als ein Spielen mit Einbildungen und als dunkeln Mystizismus bespötteln; aber Paulus hat sich treffend ausgedrückt, als er Gal. 4,24 von dem Hausstande Abrahams sagte, sein Bild werde in der Schrift so überliefert, dass darin ein tieferer Sinn ausgedrückt sei, und ebenso trifft Asaph hier das Rechte, wenn er seine Erzählung ein Gleichnis, eine sinnbildliche Lehrrede nennt. In dieser Lehrweise war er ein Vorgänger Jesu, bei dem sie ihre Vollendung fand; Matthäus kann daher die Spruchrede Asaphs als eine tatsächliche Weissagung auf Christi Gleichnisreden anführen. (Mt. 13,34 f.) Und alte Geschichten aussprechen, Grundtext: will Rätsel aus der alten Zeit vortragen, eigentlich: hervorsprudeln lassen. Die Gedanken des prophetischen Sängers waren so voll ehrwürdiger Lehre aus der alten Zeit, dass er sie im Liede wie einen mächtigen Strom hervorsprudeln ließ, und in der Tiefe der wallenden Flut, auf dem Bett dieses Stromes, lagen Perlen und Edelsteine geistlicher Wahrheit als lockende reiche Beute für die, welche in die Tiefe zu tauchen und sie heraufzuholen vermochten. Schon als einfache Geschichtsdarstellung hat der Psalm seinen Wert; aber der innere, gleichnis- und rätselartig darin verborgene tiefere Sinn ist unschätzbar. Hatte der erste Vers zur Aufmerksamkeit aufgefordert, so rechtfertigt der zweite dies Verlangen, indem er eben andeutet, dass der Wortsinn eine höhere Bedeutung berge, welche nur der fassen könne, welcher sich nachdenklich in den Psalm versenke.

3. Was2 wir gehört haben und wissen und unsre Väter uns erzählet haben. Die mündliche Überlieferung von Geschlecht zu Geschlecht war für das Volk Gottes in der alten Zeit, ehe das sicherere prophetische Wort vollständig geworden und allgemein zugänglich gemacht war, von der höchsten Bedeutung. Dass er die Wahrheit von den Lippen anderer empfangen hatte, legte dem also unterwiesenen Gläubigen die feierliche Verpflichtung auf, sie auch seinerseits wieder dem folgenden Geschlechte zu überliefern. Wahrheiten, die uns durch ihre Verknüpfung mit lieben Erinnerungen an gottselige Eltern und ehrwürdige väterliche Freunde besonders wert geworden sind, haben Anspruch darauf, dass wir unsere besten Kräfte einsetzen, sie zu bewahren und auszubreiten. Unsere Väter haben uns erzählt, wir haben ihnen Gehör gegeben und wissen infolgedessen das, was sie gelehrt haben, nun selbst; so ist es nun unsere Aufgabe, auch unserseits das Empfangene wieder weiterzugeben. Wir haben jetzt, Gott sei Dank, das weniger der Gefahr des Verändertwerdens ausgesetzte schriftliche Zeugnis der Offenbarung. Aber das mindert in keiner Weise unsere Verpflichtung, unsere Kinder durch das mündliche Wort in der göttlichen Wahrheit zu unterweisen; wir sollten vielmehr, weil wir ein so herrliches Hilfsmittel haben, die Unsern noch viel vollkommener in die göttlichen Dinge einführen. Der so gesegnete Doddridge3 verdankte viel den holländischen Bilderkacheln am Ofen seines Vaterhauses, an deren Hand seine Mutter ihm die biblischen Erzählungen erklärt hattet. Je mehr Unterweisung durch die Eltern, desto besser; Prediger und Sonntagsschullehrer sollen und können nicht die Tränen der Mutter und die Gebete des Vaters ersetzen.

4. Das wollen wir ihren Kindern nicht verhehlen. (Grundtext) Nie und nimmer soll lässiges Schweigen unserseits unsere und unserer Väter Nachkommen der köstlichen von Gott geoffenbarten Wahrheit berauben; es wäre schändlich, wenn wir uns das zuschulden kommen ließen. Indem wir dem nachfolgenden Geschlecht den Ruhm (die ruhmwürdigen Taten) des HERRN verkündigen. (Grundtext) Wir wollen unseren Blick auf die kommenden Geschlechter richten und ernstlich dafür Versorge zu treffen suchen, dass sie gottselig erzogen werden. Es ist die Pflicht der Gemeinde des HERRN, alle von Gott gegebenen Mittel zur religiösen Erziehung der Jugend in frischer Kraft zu erhalten und zu fördern. Gründet sich doch unsere Hoffnung für die Kirche der Zukunft auf die, welche jetzt noch Kinder sind! Und je nach der Saat, die wir jetzt unter der Jugend ausstreuen, wird hernach unsere Ernte sein. Die Kinder sollen angeleitet werden den HERRN zu preisen; wir müssen sie daher aufs beste über sein wunderbares Walten in den vergangenen Zeiten unterweisen, damit sie kennen seine Macht und Wunder, die er getan hat. Das erste, was ein Kind lernt, sollte sein, dass es den Gott seiner Mutter kennen lernt. Lehre dein Kind so vieles du willst; wenn es nicht die Furcht des HERRN lernt, so wird es an dem Mangel dieser Grundweisheit zugrunde gehen. Grammatik und Rechenkunst sind armselige Nahrung für die unsterbliche Seele, wenn sie nicht mit Erkenntnis des Überweltlichen gewürzt werden. In keinem Schulranzen sollte die Bibel fehlen. Mag die Welt nur weltliches Wissen lehren - das ist ja die ganze Erkenntnis, an der ihr gelegen ist - so darf die Gemeinde Gottes doch ihre Jugend nicht so behandeln; sie hat ihre Fürsorge auf jeden kleinen Timotheus zu richten und dazu zu sehen, dass er von Kind auf die Heilige Schrift kenne. (2. Tim. 3,15) Jeder Hausvater sollte, mit seinen Hausgenossen um das flackernde Kaminfeuer geschart, die herrlichen Geschichten der Bibel in lebendiger Anschaulichkeit erzählen, dazu die Taten der Märtyrer und der Reformatoren, und nicht zuletzt auch die Gnadenführungen des HERRN, die er in seinem eigenen Leben erfahren hat. Wir dürfen den nichtigen und nichtsnutzigen Überlieferungen der abtrünnigen Kirche Roms nicht Folge leisten und sind auch weit davon entfernt, die fehlbaren Erinnerungen auch des besten menschlichen Gedächtnisses dem unfehlbaren geschriebenen Gotteswort irgendwie gleichzustellen; doch sähen wir so gern die mündliche Überlieferung von jedem Christen in seiner Familie eifrig gepflegt, sähen, ach wie gern! die Kinder von ihren Müttern und Vätern durch das mündliche Wort in heiterer, lieblicher Weise unterwiesen und nicht nur durch die gedruckten Blätter der Bücher, die sie so oft schon von vornherein als trockene, langweilige Aufgabenbücher ansehen. Was für glückliche Stunden und liebliche Abende sind das für die Kinder, wenn sie auf Vaters Knie einer schönen Geschichte aus der alten Zeit lauschen dürfen! Lieber Leser, hat Gott dir Kinder anvertraut, so achte darauf, dass du in diesem Stück nicht deine Schuldigkeit versäumest!

5. Er richtete ein Zeugnis auf in Jakob. Das so bevorzugte Volk war eben zu dem Zweck da, Gottes Wahrheit inmitten des ringsumher wuchernden Götzendienstes festzuhalten. Ihm war vertraut, was Gott geredet hatte (Röm. 3,2); sie waren die verordneten Wächter und Erhalter der Wahrheit. Und gab ein Gesetz in Israel, das er unseren Vätern gebot zu lehren ihre Kinder. Das Zeugnis für den allein wahren Gott sollte durch die sorgfältige häusliche Unterweisung von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt werden. Wir begegnen dem Gebot dieser mündlichen Überlieferung sehr häufig in den Büchern Mose; es genüge die Anführung einer Stelle, 5. Mose 6,6 f.: "Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzest oder auf dem Wege gehest, wenn du dich niederlegest oder aufstehest." Bist du Vater oder Mutter, lieber Leser, so ist die ernste Frage, ob du diese Pflicht gewissenhaft erfüllt hast.

6. Auf dass es die Nachkommen lerneten und die Kinder, die noch sollten geboren werden. Auf so weit hinaus, wie unser kurzes Leben uns Vorkehr zu treffen gestattet, sollen wir mit Fleiß dafür sorgen, dass die Jugend gottselig auferzogen werde. Die Geschichten, Gebote und Lehren des Wortes Gottes sind nicht veraltet und abgenutzt; sie sind bestimmt, einen mächtigen Einfluss auszuüben, solange das Menschengeschlecht besteht. Wenn sie aufkämen, oder wohl besser; dass sie aufträten, nämlich als Zeugen, dass sie es auch ihren Kindern verkündigten. Immer wieder wird auf das eine gezielt: dass die Wahrheit den kommenden Geschlechtern überliefert werde; denn dazu ist sie gegeben.

7. Dass sie setzten auf Gott ihre Hoffnung. Der Glaube kommt aus der Predigt, aus dem Hören der Kunde (Röm. 10,17). Die den Namen des HERRN kennen, setzen auf ihn ihr Vertrauen, und die Menschenkinder zu solchem Glauben zu führen ist das Ziel aller geistlichen Unterweisung. Und nicht vergäßen der (großen) Taten Gottes. Gnade ist das beste Heilmittel für ein schlechtes Gedächtnis. Leute, die die gnädigen Taten des HERRN so schnell vergessen, müssen oft über sie belehrt werden; sie haben es nötig, die heilige Gedächtniskunst zu lernen. Und seine Gebote hielten. Wer Gottes Tun vergisst, wird es sicher am eignen Tun fehlen lassen. Wer die Liebe Gottes nicht im Gedächtnis hat, wird auch seiner Gebote nicht gedenken. Der Zweck des Lehrens ist ein praktischer; Heiligung vor Gott ist das Ziel, auf das wir lossteuern, und nicht, dass die Köpfe mit spekulativen Begriffen angefüllt werden.

8. Und nicht würden wie ihre Väter, eine abtrünnige (unbändige, ungeratene) und ungehorsame Art. Es war Anlass genug vorhanden, auf Fortschritt und Besserung hinzuarbeiten. Väter, die halsstarrig ihren verkehrten Eigenwillen durchsetzen und gegen Gottes geoffenbarten Willen widerspenstig und ungehorsam sind, geben ihren Kindern ein trauriges Beispiel; darum wünscht der Psalmist ernstlich, dass dank der besseren Unterweisung ein besseres Geschlecht erstehe. Vielerorten pflegen die Leute die Sitte ihrer Familie für die allerbeste Regel zu halten; aber der Ungehorsam lässt sich damit nicht entschuldigen, dass er erblich überkommen ist. Oder ist der Aussatz etwa weniger ekelhaft, weil er schon lange in einer Familie herrscht? Waren unsere Väter abtrünnig und widerspenstig gegen Gott, so müssen wir besser sein als sie, wenn wir nicht verloren gehen wollen wie sie. Welchen ihr Herz nicht fest war. Sie hatten keine Entschiedenheit für Gerechtigkeit und Wahrheit; sie hatten ihrem Herzen nicht die rechte Richtung, nämlich aus Gott (vergl. V. 37), gegeben. Weder Züchtigungen noch Gnadenheimsuchungen konnten ihr Herz an ihn binden; sie waren unbeständig wie der Wind und veränderlich wie die Wogen. Und ihr Geist nicht treulich hielt an Gott. Die Stämme Israels waren in der Wüste nur in einem beständig, nämlich in ihrer Unbeständigkeit; man konnte sich auch nicht im Mindesten auf sie verlassen. Es war in der Tat nötig, dass ihre Nachkommen gewarnt würden, damit sie ihnen nicht blindlings nachahmten. Welch ein Segen würde das für die Menschheit sein, wenn jedes Zeitalter gegen das vorhergehende einen wahren Fortschritt aufwiese; aber es ist leider zu fürchten, dass die Rückschritte häufiger sind als die Fortschritte. Die Nachkommen echter Christen sind oft noch viel ungehorsamer und tiefer von Gott abgefallen, als es ihre Väter in ihrem unwiedergeborenen Zustand waren. Möchte doch das Lesen dieses so echt patriotischen und zugleich geistlich tiefen Dichterwortes viele dazu bewegen, auf die Förderung und Hebung ihrer selbst und ihrer Nachkommen mit allem Fleiß hinzuarbeiten!


9. Wie die Kinder Ephraim, so geharnischt den Bogen führeten,
abfielen zur Zeit des Streits.
10. Sie hielten den Bund Gottes nicht
und wollten nicht in seinem Gesetz wandeln
11. und vergaßen seiner Taten
und seiner Wunder, die er ihnen erzeiget hatte.
12. Vor ihren Vätern tat er Wunder
in Ägyptenland, im Felde Zoan.
13. Er zerteilte das Meer und ließ sie hindurch gehen
und stellte das Wasser wie eine Mauer.
14. Er leitete sie des Tages mit einer Wolke
und des Nachts mit einem hellen Feuer.
15. Er riss die Felsen in der Wüste
und tränkte sie mit Wasser die Fülle
16. und ließ Bäche aus den Felsen fließen,
dass sie hinabflossen wie Wasserströme.
17. Dennoch sündigten sie weiter wider ihn
und erzürneten den Höchsten in der Wüste
18. und versuchten Gott in ihrem Herzen,
dass sie Speise forderten für ihre Seelen,
19. und redeten wider Gott und sprachen:
Ja, Gott sollte wohl können einen Tisch bereiten in der Wüste?
20. Siehe, er hat wohl den Felsen geschlagen, dass Wasser flossen
und Bäche sich ergossen;
aber wie kann er Brot geben
und seinem Volk Fleisch verschaffen?
21. Da nun das der HERR hörte, entbrannte er,
und Feuer ging an in Jakob,
und Zorn kam über Israel,
22. dass sie nicht glaubten an Gott
und hoffeten nicht auf seine Hilfe.
23. Und er gebot den Wolken droben
und tat auf die Türen des Himmels
24. und ließ das Man auf sie regnen zu essen
und gab ihnen Himmelsbrot.
25. Sie aßen Engelbrot;
er sandte ihnen Speise die Fülle.
26. Er ließ wehen den Ostwind unter dem Himmel
und erregte durch seine Stärke den Südwind
27. und ließ Fleisch auf sie regnen wie Staub
und Vögel wie Sand am Meer
28. und ließ sie fallen unter ihr Lager
allenthalben, da sie wohneten.
29. Da aßen sie und wurden allzu satt;
er ließ sie ihre Lust büßen.
30. Da sie nun ihre Lust gebüßet hatten
und noch davon aßen,
31. da kam der Zorn Gottes über sie
und erwürgte die Vornehmsten unter ihnen
und schlug darnieder die Besten in Israel.
32. Aber über das alles sündigten sie noch mehr
und glaubten nicht an seine Wunder.
33. Darum ließ er sie dahinsterben, dass sie nichts erlangeten,
und mussten ihr Leben lang geplagt sein.
34. Wenn er sie erwürgte, suchten sie ihn
und kehreten sich zu Gott
35. und gedachten, dass Gott ihr Hort ist
und Gott der Höchste ihr Erlöser ist,
36. und heuchelten ihm mit ihrem Munde
und logen ihm mit ihrer Zunge;
37. aber ihr Herz war nicht fest an ihm
und hielten nicht treulich an seinem Bunde.
38. Er aber war barmherzig
und vergab die Missetat und vertilgte sie nicht
und wandte oft seinen Zorn ab
und ließ nicht seinen ganzen Zorn gehen.
39. Denn er gedachte, dass sie Fleisch sind,
ein Wind, der dahin fähret und nicht wiederkommt.
40. Wie oft erzürneten sie ihn in der Wüste
und entrüsteten ihn in der Einöde!
41. Sie versuchten Gott immer wieder
und meisterten den Heiligen in Israel.


9. Die Kinder Ephraim, so geharnischt den Bogen führeten, fielen ab (Grundtext: wandten um) zur Zeit des Streits. Nach der die ersten acht Vers umfassenden Einleitung werden uns nun Geschichtsbilder vorgeführt; und zwar wird zunächst ein bedeutsamer Blick auf den einstigen Führerstamm Ephraim geworfen. Wiewohl dieser mit den besten Waffen seiner Zeit wohl ausgerüstet war, machte er vor dem Feind kehrt; ein trauriger Mangel an Mannesmut und Glaubenszuversicht trat darin zutage. Von einer Niederlage und Flucht der Ephraimiten vor Jephtha und den Gileaditern berichtet Richter 12. Es ist aber eher wahrscheinlich, dass der Psalmist darauf anspielt, wie sehr gerade der mächtige, wehrhafte Stamm Ephraim die Erwartungen, welche man in ihn setzen konnte, täuschte, als es galt, die Eroberung des Landes im Einzelnen völlig durchzuführen. Er, der allen hätte vorangehen sollen, ward darin besonders lässig; man vergleiche Richter 1 (Oder es könnte mit Delitzsch die Aussage allgemeiner und nach V. 57 bildlich zu verstehen sein: Ephraim bewies sich in Verfechtung und Führung der Sache Gottes kampfflüchtig und kampfscheu; er gab sie auf, er ließ sie im Stich.) Wie oft haben auch wir, obwohl uns die trefflichsten Waffen aus Gottes Zeughaus zu Gebot standen, den Kampf wider unsre Sünde nicht erfolgreich durchgeführt! Wir marschierten kühn voran, bis die Stunde der Erprobung kam; aber dann, am Tage des Kampfes, wurden wir unseren guten Vorsätzen und heiligen Verpflichtungen untreu. Ach, wie gänzlich unzuverlässig ist doch der Mensch, solange er nicht von Grund auf erneuert ist! Wappne ihn mit dem Trefflichsten, das Natur und Gnade darbieten; er bleibt in dem heiligen Krieg doch eine Memme, solange ihm der lebendige Glaube an den HERRN als seinen Gott fehlt.

10. Sie hielten den Bund Gottes nicht. Gelübde und Versprechungen wurden gebrochen; Götzenbilder wurden aufgerichtet und der lebendige Gott schnöde verlassen. Die Kinder Israel wurden aus Ägypten heraufgeführt, um ein dem HERRN ausgesondertes Volk zu sein; aber sie verfielen in die Gräuel der andern Völker und wurden ihrem Beruf ganz untreu, ein reines Zeugnis von dem allein wahren Gott abzulegen. Und wollten nicht in seinem Gesetz wandeln. Sie gaben sich dem Götzendienst, der Hurerei und andern Freveln gegen das heilige Sittengesetz hin und waren oft in Aufruhr gegen die milde Gottesherrschaft, unter der sie lebten. Am Sinai hatten sie feierlich gelobt, das Gesetz zu halten, und dann vergingen sie sich mutwillig gegen dasselbe; so waren sie demnach bundbrüchig.

11. Und vergaßen seiner (großen) Taten und seiner Wunder, die er ihnen erzeiget hatte. Hätten sie diese im Gedächtnis bewahrt, so wären sie von Dankbarkeit und heiliger Ehrfurcht erfüllt gewesen; aber die Erinnerung an die Gnadenerweisungen des HERRN war so schnell bei ihnen verwischt wie Schrift, die man ins Wasser schreibt. Kaum konnte ein Geschlecht für sich das Bewusstsein festhalten, dass Gott in wundertätiger Macht unter ihm gegenwärtig sei; die folgende Generation bedurfte schon wieder neuer außerordentlicher Kundgebungen Gottes und ließ sich auch dann nicht überzeugen ohne eine erdrückende Menge solcher göttlichen Selbstbezeugungen. Ehe wir aber jene verurteilen, lasst uns die eigene böse Vergesslichkeit bereuen und es eingestehen, bei wie vielen Gelegenheiten auch wir empfangener Wohltaten nicht eingedenk gewesen sind.

12. Vor ihren Vätern tat er Wunder in Ägyptenland, im Felde Zoan. Ägypten und sonderlich die Stadt Zoan und ihr Umkreis4 waren der Schauplatz wunderbarer Dinge, die sich am hellen Tage vor den Augen der Israeliten abspielten. So außerordentlich, so großartig, so staunenerregend und zugleich unanfechtbar tatsächlich waren diese Ereignisse, dass es einem Israeliten hätte unmöglich sein müssen, gegen Jehova, den Gott Israels, treulos zu werden.

13. Er zerteilte das Meer und ließ sie hindurch gehen. Das war ein zwiefältiges Wunder; denn als die Wasser geteilt worden, war der Meeresboden nichts weniger als eine gute Straße für ein solch großes Heer wie das israelitische. Das Meeresbett wäre in der Tat ungangbar gewesen, wenn der HERR seinem Volke nicht auch noch den Weg gebahnt hätte. Wer sonst hat wohl je eine ganze Nation durch ein Meer geführt? Und doch hat der HERR seinen Heiligen so oft Ähnliches getan, wenn er sie in wunderbarem Walten seiner Vorsehung rettete, indem er da eine ebene Bahn machte, wo nur der Arm der Allmacht das zu tun vermochte. Und stellte das Wasser wie eine Mauer. Auch nicht ein Tröpflein durfte auf seine Auserwählten fallen, nicht einmal fliegender Schaum durfte sie benetzen von den kristallenen Mauern, die ihre Straße auf beiden Seiten einschlossen. Wenn der Herr des Alls es gebietet, so steigt das Feuer niederwärts und das Wasser steht zu Berg. Die Natur der geschaffenen Dinge ist ja, strenggenommen, diesen nicht wesentlich eigen, sondern wird beibehalten oder geändert nach dem Willen des Schöpfers. So stehen auch die Übel in seiner Hand; wenn sie uns zu überwältigen drohen, kann er ihre gewöhnliche Tätigkeit aufheben, dass sie unschädlich sind.

14. Er leitete sie des Tages mit einer Wolke. Er tat es alles, er allein. Er brachte sie in die Wüste, und Er führte sie hindurch. Es ist nicht des HERRN Art, ein Werk anzufangen und dann unvollendet liegen zu lassen. Die Wolke führte die Stämme, und zugleich überschattete sie dieselben. Sie war bei Tage ein riesiger Schirm, der die glühende Hitze der Sonne und den blendenden Schein des Wüstensandes erträglich machte. Und des Nachts (Grundtext: die ganze Nacht hindurch) mit einem hellen Feuer. Die Fürsorge des Erzhirten der Schafe war so beständig, dass das Zeichen seiner Gegenwart jede Nacht und die ganze Nacht hindurch sein Volk begleitete. Dieselbe Wolke, welche am Tage Schatten bot, war zur Nachtzeit eine Sonne. Geradeso ist es mit der Gnade: sie kühlt und wärmt, erleuchtet und beschattet, wie wir es gerade bedürfen, und hilft uns, Tag und Nacht ununterbrochen unsre Wanderschaft fortsetzen (2. Mose 13,21). Welch ein Vorrecht ist es, dass wir inmitten all der Schrecknisse der einsamen Wüste der Trübsal einen hellen Feuerschein bei uns haben! Unser Gott ist uns das alles gewesen; sollen wir uns gegen ihn treulos erzeigen? Wir haben es erfahren, dass er uns beides, ein Schatten vor der Hitze und ein Licht in der Finsternis, gewesen ist, je nachdem wie es unsere wechselnden Umstände erforderten. Möge diese so oft gemachte Erfahrung unsere Herzen mit ihm unlösbar verknüpfen.

15. Er riss die Felsen in der Wüste. Nicht Mose war es, der Wasser aus dem Felsen brachte (vergl. 4. Mose 20,10), und nicht sein Stab spaltete den harten Stein; der HERR tat es, und Mose war nur sein Werkzeug. Der Gott Jakobs war’s, der zweimal den Felsen in einen Wasserteich verwandelte, den Kieselstein in einen Wasserquell (Ps. 114,8). Was sollte er nicht vermögen? Und tränkte sie mit Wasser die Fülle, wörtl.: wie mit Fluten in Fülle. Jehova versorgte sie überreichlich mit dem frischen, belebenden Trank; so war es Gottes würdig. Diese Wundertat der Liebe hätte sie ihrem Gott für immer in unwandelbarer Treue verbinden sollen.

16. Und ließ (Gieß-) Bäche aus den Felsen fließen, dass sie hinabflossen wie Wasserströme. In Sturzbächen, nicht tröpfelnd, kam der Segen aus dem Gestein. Ein Strom quoll hervor für das durstige Volk und folgte dem Heerzuge Israels;5 nicht für eine Stunde oder einen Tag nur wurden sie versorgt. Das war erstaunliche Güte. Wenn wir den überfließenden Reichtum der göttlichen Gnade betrachten, so werden wir von Bewunderung hingerissen. Auch uns sind mächtige Liebesströme in der Wüste geflossen. O du großer Gott, unser Dank steht in keinem Verhältnis dazu; ja, in gar seltsamer Weise haben wir deine Liebe erwidert!

17. Dennoch sündigten sie weiter wider ihn: sie überboten ihre früheren Missetaten, gerieten in immer größere Tiefen der Sünde. Je mehr sie empfingen, desto lauter schrien sie nach mehr und murrten, weil sie nicht jeden Genuss hatten, den ein verwöhnter, der gesunden Speise überdrüssiger Gaumen begehren konnte. Es war schlimm genug gewesen, als sie Gott nicht zugetraut hatten, dass er sie mit dem Notwendigen versorgen werde; aber sich gegen ihn aufzulehnen in gieriger Lust nach Überflüssigem, das war noch weit schlechter. Es ging da wie immer mit der Krankheit der Sünde: sie nimmt stetig an Bösartigkeit zu. Die Menschen werden das Sündigen niemals müde, sondern laufen immer schneller um die Wette dem Bösen nach. In dem vorliegenden Fall wurde Gottes Güte zu einem Grund, noch schlimmer zu sündigen, missbraucht. Hätte der HERR sich gegen sie nicht so freigebig bewiesen, so wären sie nicht so unverschämt geworden. Hätte er vordem nicht so viele Wunder für sie getan, so wären sie in ihrem Unglauben nicht so unentschuldbar, in ihrem Götzendienst nicht so üppig gewesen. Und erzürneten (Grundtext: empörten sich gegen) den Höchsten in der Wüste. Wiewohl sie in einer Lage waren, wo es so augenscheinlich hervortrat, wie gänzlich sie für alles auf den HERRN angewiesen waren, da sie sich ja in der Wüste befanden, die für ihren Lebensunterhalt schlechterdings nichts bot, waren sie doch so frech, sich gegen ihren Wohltäter aufzulehnen. Bald entflammten sie seine Eifersucht dadurch, dass sie falschen Göttern nachhingen, dann wieder reizten sie ihn zum Zorn, indem sie seine Macht herausforderten, seine Güte verunglimpften und gegen seinen Willen widerspenstig waren. Er floss über von freigebiger Liebe; so flossen sie über von Ungezogenheit. Sie waren vor allen anderen Völkern bevorzugt, übertrafen aber die andern an Schlechtigkeit. Für sie träufelte der Himmel Manna, und sie vergalten es mit Murren; der Fels gab ihnen Wasser in Bächen, und sie erwiderten es mit Strömen der Bosheit. Darin erkennen wir wie in einem Spiegel unser eigenes Bild: das Israel der Wüste stellt als in einem Drama die ganze Geschichte des Verhaltens des Menschen gegen seinen Gott dar.

18. Und versuchten Gott in ihrem Herzen. Er ward freilich nicht versucht, denn er kann von niemand versucht werden (Jak. 1,13); aber sie handelten in einer Weise, die darauf berechnet war, ihn zu versuchen, und es ist ja recht und billig, dem Menschen das zuzurechnen, was die offenbare Absicht seines Handelns ist. So kann ja auch Christus nicht abermals sterben, und doch kreuzigen ihn viele wiederum - denn dazu würde ihr Verhalten folgerichtig führen, wenn nicht andere Umstände diese Wirkung verhinderten. Das aufrührerische Geschlecht in der Wüste wünschte, dass der HERR sein weises Verfahren ändere, um ihre Launen zu befriedigen; darum heißt es von ihnen, sie hätten ihn versucht. Dass sie Speise forderten für ihre Seelen, d.h. für ihr Gelüsten. O ja, Gott sollte wohl gar ihr Hof-Furier werden, der jeden Augenblick bereitstünde, alles und jedes herbeizuschaffen, was der überreizte Gaumen der gnädigen Herren begehren mochte! Ihre Sünde begann im Herzen; aber es dauerte nicht lange, so machte sich das Übel auf der Zunge bemerkbar. Was sie erst stillschweigend gewünscht hatten, das forderten sie bald laut genug mit Drohungen Beleidigungen und Vorwürfen.

19. Aus diesem Vers ersehen wir, dass der Unglaube eine Lästerung Gottes ist. Sie redeten wider Gott. Aber wie? Indem sie sprachen: Ja, Gott sollte wohl können einen Tisch bereiten in der Wüste? Das Allvermögen eines solchen Gottes, der sich so offenbarlich als der Allmächtige erwiesen hat, in Frage stellen, heißt freventlich wider Gott reden. Diese Leute waren gemein genug zu sagen, dass Gott, obwohl er ihnen Brot und Wasser gegeben6, ihnen doch nicht regelrecht einen Tisch decken könne. Ja, dürftige Speise könne er ihnen wohl geben, aber nicht eine ordentliche Mahlzeit bereiten. Als ob das süße Himmelsbrot und das köstliche Wasser aus dem Felsen nur grobe Gefängniskost gewesen wäre! Ja, sie begehren etwa Besseres, einen regelrecht gedeckten Tisch, wie sie es in Ägypten gewohnt gewesen waren. O das herrliche Ägypten! Ach, haben wir nicht auch oft gegen die uns zuteil gewordenen Wohltaten allerlei einzuwenden gehabt und sehnlich nach irgendeinem eingebildeten Glück verlangt, indem wir das, was wir genossen, für nichts achteten, weil es nicht ganz mit unseren törichten Erwartungen übereinstimmte? Wer unzufrieden sein will, wird über die Vorsehung klagen, selbst wenn sie ihn täglich mit Wohltaten überhäuft.

20. Siehe, er hat wohl den Felsen geschlagen, dass Wasser flossen und Bäche sich ergossen. Sie geben das, was er getan hat, zu, und doch verlangen sie in grenzenloser Unverständigkeit und Frechheit noch weitere Beweise seiner Allmacht. Aber wie kann er Brot geben und seinem Volk Fleisch verschaffen? Wenn sie geurteilt hätten: "Kann er das nicht auch tun?" so wäre ihr Schluss vernünftig gewesen; aber so sind ihre Fragen ganz unsinnig. Wie konnten sie nach all den Wundern der Allmacht, die sie erlebt hatten, es noch anzudeuten wagen, dass anderes über die göttliche Macht hinausgehe? Aber haben wir nicht auch in diesem Stück das sinnlose Gebaren jener nachgeahmt? Hat nicht jede neue Schwierigkeit neuen Unglauben erweckt oder uns wenigstens die Gefahr desselben nahe gebracht? Wir sind noch immer Toren und trägen Herzens, wenn es gilt, unserm Gott unbedingt zu vertrauen, und diesen Fehler sollten wir in tiefer Reue beklagen. Um dieser Ursache willen zürnt der HERR oft mit uns und züchtigt uns empfindlich, weil in dem Unglauben eine so schwere Herausforderung liegt.

21. Da nun das der HERR hörte, entbrannte er. Es war ihm nicht gleichgültig, was sie sagten. Er wohnte in ihrer Mitte in dem heiligen Zelt; sie beleidigten ihn demnach ins Gesicht. Er hörte nicht nur einen Bericht von dem, was sie sagten, sondern ihre Rede drang unmittelbar an sein Ohr. Und Feuer ging an in Jakob: das Feuer der göttlichen Entrüstung, das sich sichtbar und fühlbar in dem Lagerbrand kundgab (4. Mose 11,1-4). Und Zorn kam über Israel. Ob er sie im niederen oder im höheren Lichte, als Jakob oder als Israel betrachtete, so konnte er nicht anders als über sie im Zorn entbrennen. Schon vom rein menschlichen Standpunkt aus wären sie verpflichtet gewesen ihm zu glauben; vom Standpunkt des erwählten Volkes aber gab es für ihr schändliches Misstrauen keine Entschuldigung. Der HERR hatte das volle Recht, über die undankbare, grundlose und charakterlose Beleidigung erzürnt zu sein, welche darin lag, dass sie seine Macht in Frage stellten.

22. Dass sie nicht glaubten an Gott und hoffeten nicht auf seine Hilfe. Der Unglaube ist die größte Sünde. Wie Jerobeam, der Sohn Nebats, selber sündigte und Israel zur Sünde verführte, so ist der Unglaube an sich böse und ein Erzeuger vieles Bösen. Diese Sünde war es, welche dem alten Volke Israel das Gelobte Land verschloss, und sie schließt heute noch Tausende und aber Tausende vom Himmel aus. Gott ist bereit, zu helfen und zu retten, es gebricht ihm weder an Macht noch an Willigkeit dazu; aber der widerspenstige Mensch will seinem Helfer und Heiland nicht trauen, und damit ist er schon gerichtet. Unser Vers stellt die Sache so dar, als seien alle andern Sünden Israels nichts gewesen im Vergleich zu dieser; der Unglaube ist das eine, worauf der HERR hinweist, er ist die himmelschreiende Sünde, welche seinen Zorn besonders herausfordert. Daraus lerne jeder Ungläubige, über seinen Unglauben mehr als über alles andere erzittern. Ist er auch kein Ehebrecher oder Dieb oder Lügner, so möge er doch bedenken, dass es zu seiner Verdammnis ganz genügt, wenn er nicht an Gottes Heilsgnade glaubt.

23. Und er gebot den Wolken droben. Solch ein Wunder hätte allen Unglauben unmöglich machen müssen: wenn Wolken Kornkammern werden, da sollte sehen glauben heißen und müssten sich alle Zweifel auflösen. Und tat auf die Türen des Himmels. Die Tore des großen Himmelsspeichers wurden weit geöffnet und das Himmelskorn in Haufen hinabgeschüttet. Wer da nicht glauben wollte, musste in der Tat ein ganz verhärtetes Gemüt haben. Und doch - stellen wir uns nicht ähnlich? Auch uns zugute hat der HERR große Taten, ganz ebenso denkwürdig und unleugbar, gewirkt, und trotzdem werden wir von Misstrauen und bösen Ahnungen geplagt! Er hätte die Pforten der Hölle hinter uns zuschließen können, und stattdessen hat er uns die Tür des Himmels geöffnet: sollten wir nicht um deswillen ihm rückhaltlos vertrauen und seinen Namen preisen?

24. Und ließ das Man auf sie regnen, zu essen. Die Himmel troffen von Speise; ein Regen von Segen ergoss sich über sie. Die Speise war gut, nicht bloß zum Ansehen, sondern zum Essen; sie konnten sie so, wie sie gesammelt ward, essen. Wiewohl die Gabe geheimnisvoll war, so dass man sie Man nannte, nach dem Ausruf des Erstaunens man hu, d. h. "Was ist das?"7 in welchen die Israeliten beim ersten Erblicken derselben ausgebrochen waren (2. Mose 16,15.31), so war sie doch zur menschlichen Nahrung vorzüglich geeignet; und wie sie in reicher Fülle vom Himmel herabgeschüttet ward und ganz dem Bedürfnis des Volks entsprach, so war sie auch leicht zu erreichen. Die Israeliten brauchten das nährende Brot nicht aus weiter Ferne zu holen; es war ihnen ganz nahe, sie hatten es nur zu nehmen. Herr Jesus, du gesegnetes Himmelsmanna (Joh. 6,51; Off. 2,17), wie passt das doch alles auf dich! Wir wollen uns auch jetzt an dir laben als unserer geistlichen Speise und bitten dich, du mögest all den bösen Unglauben aus uns vertreiben. Unsere Väter aßen Manna und zweifelten; wir genießen dich und werden dadurch mit Glaubenszuversicht erfüllt. Und gab ihnen Himmelsbrot, eigentlich: Himmelskorn. Als freie Gabe, ohne Geld und umsonst, empfingen sie die köstliche Speise. Das Manna war rund von Gestalt, wie Koriandersamen, es war nahrhaft wie Getreide und konnte zu allerlei Backwerk verarbeitet werden, so dass es mit Recht Korn (Getreide) genannt werden konnte, und Himmelskorn hieß es, weil es nicht wie das gewöhnliche Brotgetreide aus der Erde wuchs, sondern aus den Wolken herabkam. Was wir aber vor allem zu beachten haben, ist, dass die Leute, welche dies große Wunder mit ihren Augen sahen und mit ihrem Gaumen schmeckten, hernach so sehr wie nur je zuvor geneigt waren, dem HERRN zu misstrauen.

25. Brot der Starken, d. h. wohl (vergl. Ps. 103,20) der Engel, aß der Mensch. (Grundtext) Die leckersten Speisen königlicher Tafeln waren übertroffen, denn es gab Engelbrot zu essen. Das Brot der Starken fiel dem schwachen Menschen zu. Die Deutung des Ausdrucks ist freilich schwierig, da die Schrift sonst die Engel auch in der Poesie nicht als der Speise bedürftig erscheinen lässt. Engelbrot heißt das Manna demnach wohl als durch den Dienst der Engel dargereicht, oder weil es, als aus dem Himmel kommend, der Engel würdig gewesen wäre. Solches Himmelsbrot ward dem schwachen, sterblichen Menschen zuteil! Andere übersetzen (wie Luther 1524): Jedermann aß Engelbrot. Nicht für die Priester oder die Fürsten nur fiel das Manna nieder, sondern für alles Volk, für Männer, Frauen und Kinder. Und es war reichlich da für sie alle, denn er sandte ihnen Speise die Fülle. Wenn Gott ein Fest gibt, kargt er nicht: er stellt die beste Speise auf, und alles in Hülle und Fülle. Auch das Mahl, welches der Herr uns im Evangelium darbietet, verdient in jeder Beziehung das höchste Lob: der Tisch ist für jedermann gedeckt und die Speise ist köstlich; Gott selbst hat sie bereitet, er schickt sie, und er teilt sie aus, frei und umsonst. Wen Gott speist, der ist wohl versorgt; die Himmelskost ist vorzüglich und reichlich. Wer je geschmeckt hat, was uns in Christus bereitet ist, der hat Besseres als Engelbrot gekostet; denn kein Seraph hat je erfahren, was es ist um erlösende Gnade und Liebe bis in den Tod. Wir tun weise, von diesem Himmelsmanna zur vollen Sättigung zu essen; denn Gott hat es in solch unerschöpflicher Fülle gesandt, dass unserm Genießen keine anderen Grenzen gesteckt sind als die, welche in unserm Aufnahmevermögen liegen. Glückliche Pilgrime, die in der Wüste ihre Speise aus dem höchsteigenen Palast des Himmelskönigs zugesandt bekommen! Mögen sie sich an dem himmlischen Festmahl gütlich tun und die allgenügsame Gnade dessen preisen, welcher alle ihre Bedürfnisse in Christo Jesu in herrlicher Weise nach seinem Reichtum erfüllt (Phil. 4, 19).

26. Er ließ den Ostwind aufbrechen am Himmel. (Wörtl.) Er ist der Allherr, hoch erhaben auch über alle Geistermächte, die in der Luft herrschen; Stürme wehen, Unwetter brechen aus auf seinen Befehl. Die Winde schlafen, bis Gott sie aufweckt; dann antwortet jeder wie Samuel: "Siehe, hier bin ich! du hast mir gerufen" (1. Samuel 3,5). Und erregte (wörtl.: leitete, d. i. führte herbei) durch seine Stärke den Südwind. Entweder sind diese Winde aufeinander gefolgt, so dass sie die Vögel in der gewünschten Richtung trieben, oder sie bildeten zusammen einen Südostwind.8 In jedem Fall dienten sie der Absicht des HERRN und waren ein Beweis, wie erhaben und allumfassend seine Macht ist. Erfüllt der eine Wind nicht den Zweck, so tut es der andere; ja, wenn nötig, müssen beide zusammenwirken. Wir sprechen geringschätzig von der Veränderlichkeit der Winde; aber nach dem Gehorsam, welchen sie ihrem Meister leisten, verdienen sie ein besseres Beiwort. Wären wir nur halb so gehorsam wie sie, so stände es besser um uns.

27. Und ließ Fleisch auf sie regnen wie Staub, wie vorher schon Brot statt Feuers und Schwefels, wozu er ein Recht gehabt hätte. Die Worte zeigen die Schnelligkeit und die Fülle an, in der die Wachteln herabkamen. Und Vögel wie Sand am Meer: so unzählbar. Ungeheure Mengen dieser Wandervögel mussten sich, von Gottes Vorsehung geleitet, rings um die Zelte Israels niederlassen. Doch war es ein zweifelhafter Segen, wie das bei leichterworbenem übermäßigem Reichtum gemeiniglich der Fall ist. Der HERR bewahre uns vor Speise, die mit göttlichem Grimm gewürzt ist!

28. Und ließ sie fallen unter ihr Lager allenthalben, da sie wohneten.9 Sie brauchten nicht erst weit zu gehen. Sie hatten laut nach Fleisch gerufen; nun flog es ihnen fast in den Mund. Das war für den Augenblick freilich lustig. Sie wussten aber offenbar nicht, dass Gaben auch im Zorn gesandt werden können; sonst hätten sie gezittert bei dem Anblick all der guten Dinge, womit ihr Gelüst befriedigt ward.

29. Da aßen sie und wurden allzu satt. Gierig verschlangen sie die Vögel, sogar bis zur Übersättigung. Der HERR zeigte ihnen, dass er "seinem Volke Fleisch verschaffen könne" (V. 20) genug und übergenug. Er ließ sie aber auch erfahren, dass die Lust sich, sobald sie das Begehrte hat, in Enttäuschung und durch Übersättigung sogar in Ekel wandelt. Erst sättigt der heißbegehrte Genuss, dann erzeugt er Widerwillen und Übelkeit. Er ließ sie ihre Lust büßen, d. h.: er befriedigte ihr Gelüst. Sie sollten ihren Willen haben. Die Fleischspeise war ihnen nicht gesund; aber sie hatten danach geschrien, so bekamen sie sie und zugleich damit das Unheil. Mein Gott, lieber versage mir meine dringendsten Bitten, als dass du sie in Ungnade erhörest! Besser hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, als wohl gesättigt werden mit den Leckerbissen der sündlichen Lust.

30.31. Noch hatten sie sich von ihrem Gelüste (d. h. von dem Gegenstand desselben) nicht abgewandt, noch war ihre Speise in ihrem Munde, da kam der Zorn Gottes über sie. (Grundtext) Noch ehe sie die so begehrte Speise verdauen konnten, erwies sie sich ihnen verhängnisvoll. Kurz war die Lust, plötzlich kam das Gericht; das Fest endete in einem schauerlichen Massenbegräbnis. Und würgte unter ihren Wohlgenährten und schlug darnieder die Jünglinge Israels. (Wörtl.) Unter den Wohlgenährten (Feisten) mögen mit Luther (vergl. Ps. 22,30) die Vornehmen zu verstehen sein, oder aber die Rädelsführer, welche in den andern die Lüsternheit geweckt und sich dann selber mit den Wachteln mehr noch als alle andern den Bauch gefüllt hatten: sie traf die Strafe zuerst. Und auch die Jünglinge, die Kräftigsten, der Kern des Volkes, erlagen der Seuche. Gottes Strafgerechtigkeit kennt kein Ansehen der Person; die Hohen und Mächtigen verfallen ihr ebenso wohl wie die Schwachen und Geringen. Was jene auf Erden in sich fraßen, mussten sie in der Hölle verdauen, wie viele nach ihnen. Wie plötzlich starben sie dahin und sahen und fühlten doch kein Schwert! Wie grässlich war das Gemetzel, wiewohl kein Waffengeklirr ertönte! Ja, Leidenschaft schafft Leiden - wie wahr ist dieses Sprichwort! Sieh hier an einem furchtbaren Beispiel, wie gefährlich es ist, sich den Begierden zu ergeben: sie sind die Pförtner der Hölle. Mögen die Kinder Gottes den Hunger aus Erfahrung kennen lernen müssen, Gott liebt sie dennoch, und Lazarus ist sein Freund, ob er sich auch kümmerlich von Brosamen nähren muss; aber wenn Gott die Gottlosen auch fett macht, so verabscheut er sie doch, und der reiche Mann ist ein Verworfener, ob er auch alle Tage herrlich und in Freuden leben kann. Wir dürfen eines Menschen Glück nicht von seiner Speisekarte ablesen wollen; das Herz ist der Punkt, wohin wir schauen müssen. Der ärmste Hungerleider, der durch den Glauben die Anwartschaft auf das ewige Erbe hat, ist mehr zu beneiden als der feinste Schlecker der Welt. Es ist besser, Gottes Hündlein als des Teufels Schoßkind zu sein.

32. Aber über das alles (Grundtext: bei alledem) sündigten sie noch mehr. Züchtigungen rührten sie so wenig wie Wohltaten. Sie trotzten dem Zorne Gottes. Wiewohl sie am eigenen Leibe erfuhren, welch tödliches Gift die Sünde ist, ließen sie doch nicht davon, sondern schlürften weiter den süßen Taumelkelch, als ob er ein heilsamer Trank wäre. Wie passen die Worte doch auf so viele, die, obwohl sie so oft heimgesucht, auf das Krankenbett gelegt, in tiefen Kummer der bittere Armut geführt worden sind, doch in ihren bösen Wegen verharren, weder von Schrecken noch von Drohungen beeinflusst. Und glaubten nicht an seine Wunder. Ihr Unglaube war ein chronisches, ja ein unheilbares Leiden. Weder Gnaden- noch Gerichtswunder vermochten etwas bei ihnen. Sie konnten wohl zum Erstaunen, aber nicht zum Glauben gebracht werden. Beharren in der Sünde und Beharren im Unglauben gehen miteinander Hand in Hand. Wenn sie Glauben gehabt hätten, so hätten sie nicht der Sünde gefrönt, und wenn sie nicht durch die Sünde verblendet gewesen wären, so hätten sie geglaubt. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Glauben und der Handlungsweise eines Menschen. Wie kann, wer die Sünde liebhat, glauben? Und wie kann anderseits jemand, der ohne Glauben ist, von der Sünde lassen? Gottes Wege mit den Menschenkindern sind derart, dass in ihnen eine Kraft zur Überführung und Bekehrung liegt; aber die Natur des Menschen ist solcherart, dass sie sich durch sie nicht überführen und bekehren lassen will.

33. Darum ließ er ihre Tage in Nichtigkeit dahin schwinden. (Wörtl.) Ohne Glauben ist das ganze Leben eitel. In der Wüste hin und her wandern, das war wahrlich ein nichtiges Leben, nachdem der Unglaube ihnen das Gelobte Land auf immer verschlossen hatte. Es war in der Ordnung, dass diejenigen, welche nicht im Glauben und Gehorsam für den gottverordneten Lebenszweck leben wollten, nun ein zweckloses Leben führen und vor der Zeit sterben mussten, unbefriedigt und ungesegnet. Da sie ihre Tage ja in der Sünde vergeudeten, hatten sie wenig Grund sich zu wundern, als der HERR ihr Leben verkürzte und schwur, sie sollten nicht zu der Ruhe kommen, die sie verachtet hatten. Und mussten ihr Leben lang geplaget sein. Tag um Tag und Jahr um Jahr mussten sie mit endloser Mühsal in der Wüste umherziehen, ohne einen Hoffnungsschimmer, jemals bessere Tage zu sehen. Und das Ende war der schauerliche Tod. Nach dem Grundtext setzt diese Vershälfte die erste fort: und (ließ dahinschwinden) ihre Jahre in bestürzender Schnelle. Unzählige Gräber bezeichneten den Weg, den Israel gezogen war, und wenn jemand fragt: "Wer hat diese alle getötet?" so muss die Antwort lauten: "Sie konnten nicht hineinkommen um ihres Unglaubens willen." Und wenn wir über das Leben vieler schreiben müssen, es sei ein verfehltes, voll Verdruss und leer von Nutzen, so hat das ohne Zweifel darin seine Ursache, dass es vom Unglauben unterhöhlt und von Leidenschaften zerrüttet ist. Niemand führt ein so unfruchtbares und jämmerliches Dasein, als wer Gesicht und Sinne den Glauben untertreten und Vernunft und Begierden über die Gottesfurcht Herr werden lässt. Schnell genug gehen unsere Tage und Jahre schon nach dem gewöhnlichen Flug der Zeit dahin; aber der HERR kann machen, dass sie in einer noch betrübenderen Weise hinschwinden, dass sie nämlich gleichsam wegrosten, so dass wir das Gefühl haben, der Kummer verzehre unser Innerstes und zernage unser Leben wie der Krebs. Das war die Strafe des aufrührerischen Israels; gebe Gott, dass wir nicht gleiches erfahren!

34. Wenn er sie erwürgte, suchten sie ihn. Sie machten’s wie die Hunde, die, wenn sie durchgepeitscht sind, ihrem Herrn die Füße lecken. Sie waren nur gehorsam, solange sie die Geißel auf ihrem Rücken fühlten. Was sind das für harte Herzen, auf die nur der Tod noch Eindruck machen kann! Als Tausende um sie her starben, da wurden die Israeliten plötzlich religiös und wandten sich in Scharen der Tür der Stiftshütte zu, wie die Schafe, die in einen Haufen zusammenlaufen, wenn der schwarze Hund sie treibt, sich aber bald wieder zerstreuen und irregehen, wenn der Schäfer ihn fortpfeift. Und kehreten sich zu Gott, wörtl.10: und kehreten um und suchten Gott (ernstlich). Jetzt konnten sie nicht eifrig genug sein; sie beeilten sich, einer schneller als der andere, ihre Anhänglichkeit an ihren göttlichen König zu zeigen. "Als der Teufel krank ward, wollte er ein Mönch werden." Wer wollte nicht fromm sein, wenn die Seuche wütet? Dann sieht man das weiße Kreuz auf Türen, die vordem nie solch ein geweihtes Zeichen getragen haben. Selbst ganz ruchlose Menschen schicken nach dem Pfarrer, wenn sie im Sterben liegen. So zollen die Sünder unfreiwillig der Macht der Gerechtigkeit und Majestät Gottes ihre Huldigung; aber solch heuchlerische Unterwerfung hat in den Augen des erhabenen Richters wenig Wert.

35. Und gedachten, dass Gott ihr Hort ist. Die scharfen Schläge weckten ihr schlummerndes Gedächtnis auf. Die Heimsuchung führte sie zum Nachdenken. Sie lernten einsehen, dass sie ihr Vertrauen ganz und allein auf Gott setzen müssten, der allein ihre Zuflucht, ihr einiger fester Grund, ihr einziger unwandelbarer Freund gewesen war. Wie hatten sie das doch vergessen können? War daran das schuld, dass ihr Bauch so voll war von dem Fleisch, dass ihnen kein Raum mehr blieb, daneben noch geistliche Dinge zu verarbeiten? Und Gott, der Höchste, ihr Erlöser ist. Auch das hatten sie vergessen. Die erhobene Hand und der ausgestreckte Arm, die sie aus der Knechtschaft geführt hatten, waren ihrem geistigen Auge ganz entschwunden. Ach, du armseliger Mensch, wie rasch vergissest du deinen Gott! Schmach über dich, du undankbarer Wurm der Erde, dass du von Wohltaten schon wenige Tage, nachdem du sie empfangen hast, nichts mehr weißt! Ist denn nichts imstande, dir die Güte deines Gottes ins Gedächtnis einzuprägen, als wenn sie dir entzogen wird?

36. Und heuchelten ihm mit ihrem Munde. Auch ihr Bestes taugte nichts: ihr Kniebeugen war Heuchelei, ihr Beten Lüge. Lippendienst ohne Herzenshingabe muss Gott im höchsten Grad widrig sein. Andere Könige mögen Schmeicheleien gern hören; der König aller Könige hat einen Gräuel daran. Dass fleischlich gesinnten Menschen auch die härtesten Züchtigungen nur eine heuchlerische Unterwerfung abnötigen können, darin liegt ein klarer Beweis, wie überaus arglistig und bösartig das Menschenherz ist (Jer. 17,9) und dass die Sünde in unserm innersten Wesen eingewurzelt ist. Gib einem Tiger noch so viele Hiebe, du kannst ihn nicht in ein Lamm umwandeln. Mit Schlägen kann man den Teufel nicht aus der menschlichen Natur austreiben, wiewohl man einen anderen Teufel, die Heuchelei, hineinprügeln kann. Frömmigkeit, die in der dumpfen Luft des Kummers und der Hitze des Schreckens erzeugt worden ist, hat die Art der Pilze an sich: sie schießt schnell auf - "sie suchten eifrig wieder Gott" (V. 34) - ist aber auch nur ein schwammiges Gebilde schnell vergehender Gefühlsaufregung. Im Grundtext liegt der Sinn, dass sie Gott durch ihr frommes Geschwätz betören wollten, wie wenn er ein leichtgläubiger, mit glatten Worten schnell zu beredender Mensch wäre. Und logen ihm mit ihrer Zunge. Ihre gottseligen Reden waren Verstellung, ihr Lobpreisen reiner Wind, ihr Beten Betrug. Ihre oberflächliche Reue war ein zu dünnes Häutlein, um die tödliche Wunde der Sünde zu verdecken. Wir sehen daraus, dass wir auf die Bußbekenntnisse von Leuten, die im Sterben liegen, nicht viel geben dürfen, nicht einmal auf die Geständnisse anderer, wenn sie ihnen augenscheinlich nur durch knechtische Furcht erpresst werden. Jeder gemeine Dieb würde dem Richter Reue vorwimmern, wenn er dächte, dass der Hüter des Gesetzes dadurch bewogen werden könnte, ihn ungestraft ausgehen zu lassen.

37. Aber ihr Herz war nicht fest an ihm. Ihre Reue ging nicht tiefer als in die Haut, ihre Umkehr war nicht Herzenssache; darum waren sie veränderlich wie der Wetterhahn, jeder Wind drehte sie. Und hielten nicht treulich an seinem Bunde. Kaum hatten sie ein Versprechen gemacht, so war es auch schon gebrochen, als ob sie mit dem Geloben nur Spott getrieben hätten. Die guten Vorsätze kehrten in ihre Herzen ein wie Leute in ein Wirtshaus: sie verweilten einen Augenblick und gingen dann wieder.11 Heute brannten sie vor Eifer, heilige Leute zu werden; am andern Morgen war ihnen das höchst gleichgültig. Sie wechselten die Farbe wie der Delphin, schlugen von Verehrung in Empörung, von Dankbarkeit in Murren um. An einem Tage gaben sie ihr Gold her, damit Jehova die Stiftshütte erbaut werde, und am nächsten Tage rissen sie ihre Ohrringe ab, dass man daraus ein goldenes Kalb mache. Wahrlich, das Menschenherz ist ein Chamäleon. Proteus konnte sich nicht so oft verwandeln. Wie man im Fieber bald brennt, bald friert, so geht es unbeständigen Naturen mit ihrer Religiosität.

38. Er aber war barmherzig und vergab die Missetat und vertilgte sie nicht. Wiewohl sie von Heuchelei erfüllt waren, blieb er doch voller Barmherzigkeit und hatte darum Mitleid mit ihnen. Nicht weil sie sich so gut verstellen, so kläglich jammern, so bußfertig schwatzen konnten, sondern weil er wirklich mit ihnen Erbarmen hatte, übersah er ihre Herausforderungen. Und wandte oft seinen Zorn ab. Selbst wenn sein Grimm schon heraufzog wie ein Unwetter, wandte er ihn, dass er nicht über sie losbrach. Siebenzigmal siebenmal vergab er ihnen ihre Beleidigungen und Missetaten. Er war langsam, ja wahrlich sehr langsam zum Zorn. Das Schwert war oft schon gezückt und blitzte in der Luft; doch ward es wieder in die Scheide gesteckt, und das Volk blieb am Leben. Wiewohl unser Psalm nicht davon spricht, wissen wir doch aus der Geschichte, dass ein Mittler dazwischen kam: Mose trat in den Riss. So fleht auch zur heutigen Stunde Jesus für die Sünder und wendet den göttlichen Zorn von ihnen ab. Mancher unfruchtbare Feigenbaum bleibt noch stehen, weil der Weingärtner bittet: "Herr, lass ihn noch dies Jahr!" Und ließ nicht seinen ganzen Zorn gehen. Hätte er all seinen Grimm aufgeboten, so hätten sie sämtlich in einem Augenblick umkommen müssen. Denn wenn sein Grimm nur ein wenig entbrennt, so werden die Menschen schon wie Spreu von den Flammen verzehrt; ließe er aber seine Zornglut sich zu voller Stärke erregen, so würde die Erde selbst schmelzen und die Hölle die Aufrührer alle verschlingen. Wer erkennt die Stärke deines Zornes, HERR? (Ps. 90,11.) Wir sehen etwa die Fülle des Erbarmens Gottes, aber nie seinen ganzen Zorn.

39. Denn er gedachte, dass sie Fleisch sind. Hatten sie Gottes vergessen, so gedachte er ihrer doch. Er wusste, dass sie aus irdenem, gebrechlichem und vergänglichem Stoff gemacht waren, und verfuhr darum sacht mit ihnen. Wiewohl er darin keine Entschuldigung für ihre Sünden erblicken konnte, so benutzte er es doch als einen Grund, Erbarmen walten zu lassen. Ein Wind (oder Hauch), der dahinfähret und nicht wiederkommt. Der menschliche Lebensgeist und der Wind (das Hebräische hat für Geist und Wind nur ein Wort) sind in dem Stück einander gleich: sie fahren beide dahin und können nicht zurückgerufen werden. Was für ein Nichts ist unser Leben! Wie gnädig aber ist es vom HERRN, dass er die menschliche Nichtigkeit als einen Grund ansieht, seinem gerechten Zorne Einhalt zu tun!

40. Wie oft erzürneten sie ihn in der Wüste. Ja, oft genug gingen sie empörerisch gegen ihn an: sie waren so beharrlich im Herausfordern Gottes wie er in der Geduld. Und wir selbst - wer mag die Menge seiner Verschuldungen zählen? Was für ein Buch könnte all die Fälle von Widerspenstigkeit und Auflehnung wider Gottes Willen und Wege aufzählen, die unser Leben aufweist? In der Wüste trat es so augenscheinlich hervor, wie abhängig das Volk von Gott war, wie völlig hilflos ohne seine ständige Fürsorge; dennoch verwundeten sie die Hand, die ihnen die Nahrung darbot, und zwar während sie das tat. Ist zwischen ihnen und uns keinerlei Ähnlichkeit? Treibt es uns nicht die Tränen ins Auge, wenn wir uns selbst hier wie in einem Spiegel sehen? Und entrüsteten (oder: betrübten) ihn in der Einöde. Ihr fortwährendes Reizen Gottes hatte seine Wirkung. Gott war nicht gefühllos dagegen; er ward dadurch betrübt, gekränkt, entrüstet. Seine Heiligkeit konnte an ihrer Sünde, seine Gerechtigkeit an ihrem ungerechten Wesen, seine Wahrhaftigkeit an ihrer Falschheit keinen Gefallen finden. Was muss das sein, den Gott der Liebe zu kränken! Und doch haben auch wir den heiligen Geist oft betrübt, und er hätte sich längst von uns entzogen, wenn er ein Mensch und nicht Gott wäre. Wir leben in der Wüste, wo wir unseren Gott sehr nötig haben; lasst sie uns nicht zu einer Einöde voll bleichender Gebeine machen dadurch, dass wir Gott betrüben und entrüsten.

41. Sie wandten sich um und versuchten Gott. (Luther 1524 und die englische Bibel.) Ihre Herzen schmachteten und seufzten nach Ägypten und seinen Fleischtöpfen. Immer wieder wandten sie sich zu ihren alten Wegen, sooft sie auch durch Gottes scharfe Zuchtrute aus ihnen herausgetrieben worden waren. Sie hielten nie den geraden Weg ein, sondern liebten die Schleichwege und krummen Pfade. - Wir übersetzen besser, wie auch Luther später: Sie versuchten Gott immer wieder. Einmal Gott versuchen ist schlimm genug; sie taten aber immer wieder ihr Möglichstes, in sündhafter Weise Gott auf die Probe zu stellen. Seine Wege waren gut; indem die Israeliten sie geändert zu sehen begehrten, versuchten sie Gott. Sie wollten immer aufs Neue erst Zeichen sehen, ehe sie glauben könnten; sie forderten, der HERR solle dies tun und jenes tun, und taten, als ob sie ihn durch Liebkosen und Schmeicheln zum gefügigen Werkzeug ihrer Gelüste machen könnten. Wie gotteslästerlich war das! Lasst uns aber auch Christus nicht versuchen, damit wir nicht wie jene umgebracht werden durch den Verderber. (1. Kor. 10,9 f.) Und meisterten12 (wohl besser mit Luther 1524: reizeten) den Heiligen in Israel. Sie bezweifelten seine Macht, indem sie ihr nach ihrem Dünken Grenzen setzten; sie machten seiner Weisheit Vorschriften: reizten sie ihn nicht durch solches Meistern? Gott einen Weg vorschreiben wollen ist anmaßende Gottlosigkeit. Was Gott tut muss recht sein, der Bundesgott Israels kann nicht anders als wahrhaftig und treu sein; darum ist es eine entrüstende Frechheit, ihm zu sagen: Du musst dies oder das tun, sonst bete ich dich nicht an. So lässt sich der Ewige nicht von seinem ohnmächtigen Geschöpf am Strick führen. Er ist Herr und wird tun, was ihn gut dünkt.


42. Sie gedachten nicht an seine Hand
des Tages, da er sie erlösete von den Feinden;
43. wie er denn seine Zeichen in Ägypten getan hatte
und seine Wunder im Lande Zoan;
44. da er ihr Wasser in Blut wandelte,
dass sie ihre Bäche nicht trinken konnten;
45. da er Ungeziefer unter sie schickte, das sie fraß,
und Frösche, die sie verderbeten,
46. und gab ihre Gewächse den Raupen
und ihre Saat den Heuschrecken;
47. da er ihre Weinstöcke mit Hagel schlug
und ihre Maulbeerbäume mit Schloßen;
48. da er ihr Vieh schlug mit Hagel
und ihre Herden mit Wetterstrahlen;
49. da er böse Engel unter sie sandte in seinem grimmigen Zorn
und ließ sie toben und wüten und Leid tun;
50. da er seinen Zorn ließ fortgehen
und ihrer Seele vor dem Tode nicht verschonte und übergab ihr Leben der Pestilenz;
51. da er alle Erstgeburt in Ägypten schlug,
die Erstlinge ihrer Kraft in den Hütten Hams,
52. und ließ sein Volk ausziehen wie Schafe
und führte sie wie eine Herde in der Wüste.
53. Und er leitete sie sicher, dass sie sich nicht fürchteten;
aber ihre Feinde bedeckte das Meer.

Diese Verse enthalten die schwere Anklage, Israel habe auch der Wunder vergessen, unter denen seine Befreiung aus Ägypten erfolgt war.

42. Sie gedachten nicht an seine Hand, obwohl es schwer sein musste, sie zu vergessen. Es muss eine außerordentliche Anstrengung erfordert haben, solche Erweise der göttlichen Macht, die Ägypten und sogar die entfernten Kanaaniter (vergl. Jos. 2,9 ff.) vor Staunen und Schrecken erstarren ließ, von den Tafeln des Gedächtnisses auszulöschen. Es wird wohl gemeint sein, dass sie die Machttaten Jehovas nicht sowohl im Kopf als im Herzen, nicht theoretisch, aber in ihrem praktischen Verhalten vergessen hätten. Wer den schuldigen Dank zu erstatten versäumt, dem wirft man mit Recht vor, dass er die Pflicht der Dankbarkeit vergesse. (Sie gedachten nicht) des Tages, da er sie erlösete von den Feinden. Der Tag stand nicht mehr in ihrem Kalender - obwohl sie das Jahr von dem Monat des Auszugs an rechneten. Es ist seltsam, welche Fähigkeit das menschliche Gedächtnis besitzt im Vergessen nicht minder als im Behalten. Die Sünde verkehrt die Kräfte und Gaben des Menschen; sie macht, dass sie nur nach falschen Richtungen wirksam werden und für rechte Zwecke so gut wie tot sind.

43. Wie er denn (oder: da er) seine Zeichen in Ägypten getan (wörtl.: hingestellt) hatte. Die Plagen waren Zeichen der Gegenwart Jehovas und Beweise seines Hasses gegen den Götzendienst. Diese lehrreichen Machttaten geschahen offen vor aller Augen, wie Signale, die man aufhisst, damit sie von jedermann, nah und fern, gesehen werden. Und seine Wunder im Lande Zoan. Mitten in der berühmten alten Stadt, und nicht nur dort, sondern weit umher in ihrem Gebiet, mitten unter dem stolzen Volk der Ägypter hatte Jehova Wunder getan. Diese denkwürdigen Taten hätten die Israeliten nie vergessen dürfen; waren sie doch das bevorzugte Volk, zu dessen Erlösung sie alle geschehen waren.

44. Da er ihr Wasser (ihre Ströme) in Blut wandelte.13 Die Gewässer des Nils hatten dazu herhalten müssen, die neugeborenen hebräischen Kindlein umzubringen, und nun verraten sie sozusagen das Verbrechen - sie erröten ob der Schandtat und rächen sie an den Mördern. Der Nil mit seinen zahlreichen Kanälen war gleichsam das Adernetz Ägyptens, in welchem das Lebensblut des Landes strömte; aber auf Gottes Geheiß ward er ein Fluchstrom, der die Strafe über das ganze Land ergoss. Jeder Tropfen dieser Flut war ein Schrecken, zum Trinken Gift, zum bloßen Anschauen entsetzlich. Wie schnell könnte der Allmächtige das gleiche mit der Themse oder der Seine, der Spree oder der Donau, dem Rhein oder der Newa tun! Zuweilen hat er es solchen, die er als Geißeln gebrauchte, zugelassen, Flüsse rot zu färben mit dem Blut der Erschlagenen, und das ist ein ernstes Gericht; aber dieses Ereignis dort in Ägypten war geheimnisvoller, allgemeiner und vollständiger und muss daher eine Plage ersten Grades gewesen sein. Und ihre Bäche, dass sie nicht trinken konnten. (Grundtext) Die Nebengewässer des Nils, die Bäche und Kanäle, mussten ebenfalls den Fluch verbreiten. Gott tut nichts halb. Ganz Ägypten war stolz auf das süße Wasser seines Stroms; aber nun erregte es ihnen mehr Ekel, als vordem Behagen und Wohlgenuss. Unsere Vorzüge können sich schnell genug in Quellen des Jammers, unsere Genüsse in Schrecknisse verwandeln, wenn der HERR sich anschickt, uns seinen Zorn fühlen zu lassen.

45. Da er Ungeziefer unter sie schickte, das sie fraß. Kleine Tierlein werden große Plagegeister. Wenn sie in Massen schwärmen, können sie einen Menschen stechen, dass er daran stirbt, und es gibt winzige Tierchen, die mit vereinten Kräften einen ganzen Menschen auffressen. Denken wir an die Ameisen oder gar an die Bazillen. Es ist hier die vierte ägyptische Plage gemeint, welche Luther und die englische Bibel nach hebräischen Auslegern von allerlei Ungeziefer verstehen. Ein schreckliches Heer von allerlei Waffengattungen, das da unter einem Banner focht! Voller Wut und Blutgier stürmten die unzählbaren Scharen daher und quälten die Sünder Ägyptens ohne Erbarmen. Die kleinlichsten Plagen sind oft die größten. Die griechischen Dolmetscher (der Septuaginta), die ja in Ägypten lebten, verstanden das Wort von der Hundsfliege, einem nach Blut und Fleisch sehr gierigen Insekt, unseren Bremsen verwandt. Welches Schwert, welcher Speer vermögen gegen diese zahllosen Räuberhorden anzukämpfen? Hilflos war der mächtige Herrscher Ägyptens ihnen preisgegeben, weder Purpur noch Rüstung schützten ihn; die kleinen Kannibalen verfuhren mit dem fürstlichen Leib nicht nachsichtiger als mit dem gewöhnlicher Sterblichen: er hatte dasselbe Blut in sich, dieselbe Schuld auf sich. Wie groß ist der Gott, der so durch das winzigste Geschöpf den allgewaltigsten Herrscher lahmlegen kann! Und Frösche, die sie verderbeten. Diese ekelhaften Tiere wimmelten überall umher, bis die Leute sterbenskrank wurden von ihrem bloßen Anblick; und als das Geschmeiß tot war, ging von den überall zusammengeschaufelten Haufen ihrer Kadaver ein solcher Fäulnisgestank aus, dass eine Pestseuche drohte. So sandten nicht nur Erde und Luft zahllose Heere von schrecklicher Behendigkeit und unwiderstehlicher Siegeskraft aus, auch das Wasser ließ seine grausigen Hilfstruppen dazu stoßen. Es war, als hätte der Nil sich erst in einen ekelhaften Pfuhl verwandelt und dann sein Bett gar verlassen, in Frosch- und Krötengestalt über Gärten und Felder, in Hütten und Paläste, in die Schlafkammern und die Betten, in die Backöfen und die Brotteige, auf Fürsten und Bettler hüpfend. Die Sterblichen, welche mit dem Allmächtigen streiten, haben wenig Ahnung davon, was für Pfeile er in seinem Köcher hat. Erstaunliche Sünden werden mit erstaunlichen Strafen heimgesucht.

46. Und gab ihre Gewächse den Raupen (wörtl.: dem Abfresser, womit eine Heuschreckenart gemeint ist) und ihre Saat (wörtl. Luther 1524: was sie gearbeitet hatten, den Ertrag ihrer Felder) den Heuschrecken. Verschiedene Arten von Heuschrecken verzehrten alles, dass nichts Grünes übrigblieb an Bäumen und Feldfrüchten in ganz Ägyptenland. Was die einen nicht fraßen, vertilgten die andern. Alles, was die Ägypter von der natürlichen Fruchtbarkeit des Bodens und ihrer mühsamen Arbeit als Ertrag einzuheimsen hofften, sahen sie vor ihren Augen von einer unersättlichen Menge verzehrt, gegen deren Verheerungen keine Waffe zu finden war. Man beachte in den vorliegenden Versen, dass der HERR dies alles tat; es heißt: er schickte, er gab, er schlug usw. Was immer als Mittel und Werkzeug dienen mag, die Hand des HERRN ist in jeder nationalen Heimsuchung selber tätig.

47. Da er ihre Weinstöcke mit Hagel schlug. Nicht mehr wird dein Mundschenk, o Pharao, die Trauben dir in deinen Becher zerdrücken. (1. Mose 40,11.) Die jungen, fruchttragenden Schößlinge sind abgebrochen, der Weinberg trägt auch nicht eine edle Traube mehr. Und ihre Maulbeer(feigen)bäume mit Schlossen. Das nur hier vorkommende Wort des Grundtextes wird nach manchen Alten wohl von schweren Hagelsteinen zu deuten sein; denn wir stehen an der siebenten Plage. Doch übersetzen es andere, wie auch Luther 1524, mit den meisten alten Übersetzungen Frost oder Reif. Frost war in Ägypten etwas ganz Außergewöhnliches; aber Jehova bindet sich nicht an die ja von ihm selber frei geordneten Naturgesetze, wenn die Menschen sich nicht an seine Sittengesetze gebunden achten. Die Früchte des Maulbeerfeigenbaums, eines der verbreitetsten Bäume Ägyptens, spielten in der Ernährung der breiten Volksschichten eine bedeutende Rolle. Von den Reichen wurde die nicht sehr würzige, etwas holzige Frucht dagegen wenig genossen, jedenfalls weniger als die Frucht der Reben. So war denn die Vernichtung dieser Bäume mehr ein Schlag für die Armen, während der schwere Hagelschaden an den Weinstöcken vornehmlich die Reichen traf. Siehe, wie die Himmel, ihrem Herrn gehorsam, ihren Hagelvorrat ausschütten, und wie das unbeständige Wetter dem göttlichen Willen dienstbar ist!

48. Da er ihr Vieh dem Hagel preisgab. (Wörtl.) Was für ein Hagel muss das gewesen sein, der Kraft genug hatte, Ochsen und Stiere niederzuschmettern! Für gewöhnlich bewahrt Gott die Tiere vor solchem Schaden; hier aber entzog er ihnen seinen Schutz und gab sie der Vernichtung anheim. Möge der HERR uns nie so dem Untergang preisgeben! Und ihre Herden den Wetterstrahlen. Hagel und Feuer fuhren untereinander; das Feuer schoss auf die Erde, sagt der Bericht 2. Mose 9,23 f. Alles Kleinvieh ward getötet. Was für ein Unwetter muss das gewesen sein! Die Wirkung auf die Reben und Bäume war schrecklich genug; aber der Anblick der vielen erschlagenen Tiere muss herzbrechend gewesen sein! Das waren Herzen von Stein, die unter solchen Schlägen nicht weich wurden, und härter noch als ein Diamant die Herzen derer, welche in späteren Jahren alle diese Gottestaten vergaßen und Jehova treubrüchig wurden.

49. Da er wider sie entsandte die Glut seines Zornes, Entrüstung und Grimm und Drangsal. (Wörtl.) Sein letzter Pfeil war der schärfste. Er sparte den starken Wein seines Zornes bis zuletzt auf. Man beachte, wie der Psalmist die Worte häuft. Es folgte Schlag auf Schlag, jeder heftiger als der vorhergehende, und der schrecklichste war bis zum Ende aufbehalten. Eine Schar (eigentlich: Aussendung) schädlicher Engel. (Wörtl.) Unglück bringende Boten traten um Mitternacht in die Häuser der Ägypter und schlugen ihre teuersten Lieblinge nieder. Die Engel waren ihnen verderbenbringend, wiewohl sie an sich gut waren. Dieselben Gesandten Gottes, welche für die Erben der Seligkeit Diener der Gnade sind, sind für die Erben des Zornes die Scharfrichter der unerbittlichen Gerechtigkeit. Wenn Gott Engel sendet, kommen sie unfehlbar, und wenn er ihnen Befehl gibt zu töten, so kennen sie kein Verschonen. Siehe, wie die Sünde alle Mächte des Himmels in Schlachtordnung stellt gegen den Menschen; im ganzen Weltall bleibt ihm kein Freund, wenn er Gott zum Feind hat.

50. Da er seinen Zorn ließ fortgehen, wörtl. (Luther 1524): da er seinem Zorn einen Weg machte. Nachdem Gott durch Zerstörung ihres Eigentums ihre Außenwerke angegriffen hatte, ging er nun wie durch eine Mauerbresche in die innere Festung und auf die Ägypter selber los. Erst brachte er sie um alle Annehmlichkeiten und Bedürfnisse des Lebens, dann führte er gegen ihr Leben selbst den Schlag. Nichts konnte ihm den Weg versperren; er machte einen Platz frei, auf welchem er den Urteilsspruch an seinen Widersachern vollstrecken konnte. Und ihrer Seele vor dem Tode nicht verschonte und übergab ihr Leben der Pestilenz. In ihrer Seele war die Quelle ihrer Sünde; so verfolgte er die Sünde denn bis zu ihrem Ursprung und schlug sie dort. Der schwarze Tod zog durchs Land und füllte es mit Gräbern. Jehova teilte Tausende von Todesstreichen aus, und Unzählige mussten darob ihren Geist ausgeben.

51. Da er alle Erstgeburt in Ägypten schlug. Nicht eine Ausnahme ward gemacht: der gewaltige Herrscher musste ebenso um seinen Erben trauern wie die Sklavin, die an der Handmühle saß. (2. Mose 11,5.) Sie hatten sich an Jehovas erstgeborenem Sohne vergriffen; so schlug er ihre Erstgeborenen. (2. Mose 4,23; Hos. 11,1.) Die Erstlinge ihrer Kraft in den Hütten Hams. Der Tod schwang seine Sense hoch über das Feld und schnitt damit die höchsten Blumen ab. Jede einzelne der Hütten Hams erfuhr ihre besondere Trauer, und die Ägypter mussten nun wohl oder übel mit dem Kummer mitfühlen lernen, den sie so erbarmungslos über die Wohnungen Israels gebracht hatten. So kommen die Flüche wie die Tauben immer wieder heim. Unterdrücker werden in ihrer eigenen Münze bezahlt, und ohne einen Pfennig Abzug.

52. Und ließ sein Volk ausziehen wie Schafe. Der unvermittelte Übergang ist auffallend und malt trefflich den grellen Gegensatz zwischen dem Geschick Israels und der Ägypter, den das Volk nie hätte vergessen sollen. Die Wölfe wurden haufenweise erschlagen, die Schafe sorgsam gesammelt und herrlich errettet. Die Rollen wechselten; die armen Fronarbeiter stiegen plötzlich zu hohem Ansehen, während ihre Bedrücker vor ihnen gedemütigt wurden. Israel zog in geschlossenen Haufen aus wie eine Herde. Sie waren an und für sich so hilflos wie Schafe; aber unter ihrem allmächtigen Hirten waren sie ganz sicher. Sie verließen Ägypten so gemächlich, wie eine Schafherde von einer Weide zur andern zieht. Und führte sie wie eine Herde in der Wüste. Ihnen war der Weg völlig unbekannt; doch wurden sie recht geleitet, denn ihr allwissender Führer kannte jedes Fleckchen der Wüste. Zum Meer, durchs Meer und vom Meer weg führte der HERR seine Auserwählten, während ihren früheren Peinigern Mut und Kraft zu sehr gebrochen waren, als dass sie sie noch hätten belästigen dürfen.

53. Und er leitete sie sicher, dass sie sich nicht fürchteten. Wohl bekamen sie erst einen Schrecken, als sie sich von ihren alten Feinden und Bedrückern verfolgt sahen; aber bald nahmen sie sich ein Herz und wagten sich kühn in das Meeresbett und hernach in die menschenleere Wüste. Aber ihre Feinde bedeckte das Meer. Sie waren weg, hinweg für immer; nie wieder sollten sie die Flüchtlinge stören. Jener furchtbare Schlag schützte die Israeliten aufs wirksamste vierzig Jahre lang vor jedem weiteren Versuch der Ägypter, sie in das Land zurückzutreiben. Ägypten fand den Stein zu schwer; es ließ ihn gerne liegen. Gepriesen sei der HERR, der sein auserwähltes Volk mit so nachhaltiger Wirkung befreite!
  Welch großartige Geschichte ist es doch, die wir da jetzt betrachtet haben! Händel, der gewaltige Meister heiliger Musik, tat einen guten Griff, als er "Israel in Ägypten" zum Gegenstand einer seiner genialen Tonschöpfungen wählte, und jedes gläubige Gemüt tut wohl daran, sinnend bei jedem einzelnen Akt des wunderbaren göttlichen Schauspiels zu verweilen, das sich dort in Zoan und am Schilfmeer abspielte. Unbegreiflich ist, wie das so hoch bevorzugte Volk so dahinleben konnte, als ob das alles es nichts anginge; und doch, so ist die menschliche Natur. Ach, du armer Mensch! oder vielmehr: Pfui, du gemeines Herz!


54. Und er brachte sie zu seiner heiligen Grenze,
zu diesem Berge, den seine Rechte erworben hat,
55. und vertrieb vor ihnen her die Völker
und ließ ihnen das Erbe austeilen
und ließ in jener Hütten die Stämme Israels wohnen.
56. Aber sie versuchten und erzürneten Gott, den Höchsten,
und hielten seine Zeugnisse nicht
57. und fielen zurück und verachteten alles wie ihre Väter
und hielten nicht, gleich wie ein loser Bogen,
58. und erzürneten ihn mit ihren Höhen
und reizeten ihn mit ihren Götzen.
59. Und da das Gott hörte, entbrannte er
und verwarf Israel gar,
60. dass er seine Wohnung zu Silo ließ fahren,
die Hütte, da er unter Menschen wohnte;
61. und gab seine Macht ins Gefängnis
und seine Herrlichkeit in die Hand des Feindes
62. und übergab sein Volk ins Schwert
und entbrannte über sein Erbe.
63. Ihre junge Mannschaft fraß das Feuer,
und ihre Jungfrauen mussten ungefreiet bleiben.
64. Ihre Priester fielen durchs Schwert,
und waren keine Witwen, die da weinen sollten.
65. Und der Herr erwachte wie ein Schlafender,
wie ein Starker jauchzet, der vom Wein kommt,
66. und schlug seine Feinde zurück
und hängte ihnen eine ewige Schande an.

Wir folgen nun wieder der Kette der Ereignisse und sehen, wie Israel in das Gelobte Land einzieht - um dort seine Torheiten zu wiederholen und seine Missetat zu vergrößern!

54. Und er brachte sie zu seiner heiligen Grenze. Er ließ sie auf der Wanderung zu ihrem verheißenen Erbland nicht halbwegs stecken, sondern schützte und leitete das Volk mit seiner Macht und Weisheit, bis die Palmen von Jericho jenseits des Jordans sichtbar wurden. Und auch dann verließ er sie nicht, sondern führte sie treulich, bis zu diesem Berge, den seine Rechte erworben hatte. Unter dem Berge kann das ganze heilige Gebirgsland verstanden werden, und so ist das Wort wohl in der prophetischen Grundstelle unseres Verses, 2. Mose 15,17, zu verstehen. Hier mögen wir aber auch an den Berg Zion insbesondere denken. Diesen hatte der HERR schon vorbildlich als sein Eigentum erworben durch die Opferung Isaaks, das treffende Sinnbild des größeren Opfers, welches zu seiner Zeit dort gebracht werden sollte. Diesen Berg hatte Jehova aber auch durch Gewalt erobert, als seine Rechte die Helden Israels stark machte, die Jebusiter zu schlagen und den heiligen Hügel den höhnenden Kanaanitern zu entreißen. So werden Gottes Auserwählte den sichern Schutz des Herrn der Heerscharen genießen bis zu dem Grenzland des Todes und durch den Strom hindurch bis zu dem Berge des HERRN in der Herrlichkeit. Das erkaufte Volk wird das erkaufte Erbe sicher erreichen.

55. Und vertrieb vor ihnen her die Völker. Nicht nur wurden feindliche Heere geschlagen, sondern ganze Völker vertrieben. Die Missetat der Kanaaniter war voll; das seit langem morsche Gebäude brach zusammen. Darum verschlang das Land seine Bewohner, Hornisse quälten sie, Pestilenz vernichtete sie, und das Schwert der Stämme Israels vollendete das Gericht, zu welchem die so lange schon herausgeforderte himmlische Gerechtigkeit sie jetzt bestimmt hatte. Der HERR war der eigentliche Eroberer Kanaans. Er warf die Einwohner heraus, wie Menschen den Unrat aus ihren Häusern; er entwurzelte sie, wie der Landmann schädliches Unkraut ausreißt. Und verloste sie (d. h. ihr Land) als zugemessenes Erbteil. Er verteilte das Land der Heviter, Pheresiter, Jebusiter, und wie die Völker alle hießen, mit Los und Messschnur unter die Stämme Simeon, Juda, Ephraim usw. Unter den dem Vertilgungsgericht verfallenen Völkern gab es nicht nur Riesen an Gestalt und Kraft, sondern auch Riesen an Lasterhaftigkeit. Diese Ungeheuer von Bosheit hatten die Erde zu lang schon geschändet; es war Zeit, dass ihnen die Möglichkeit genommen wurde, weiter den unnatürlichen Lastern zu huldigen, um derentwillen sie berüchtigt waren. Darum traf sie das Verhängnis, Land und Leben durch die Hand der Israeliten zu verlieren. Die Austeilung des verfallenen Landes geschah nach göttlicher Bestimmung. Es war kein wildes Ansichreißen fremden Gebietes (wie die berüchtigten Verteilungen der Indianer-Territorien), sondern eine gerichtliche Zuteilung von Ländereien, welche der Krone dadurch verfallen waren, dass die Besitzer ihr Leben verwirkt hatten. Und ließ in jener Hütten die Stämme Israels wohnen. Diese bevorzugten Leute bezogen gleichsam ein völlig ausgestattetes Hans; sie fanden die Speisekammern gefüllt, denn sie aßen von dem Getreide des Landes (Jos. 5,11), und ihre Heimstätten waren fertig zum Einziehen. So tritt oft ein Volk in das Erbe eines andern, und es ist sehr traurig, wenn solcher durch den Spruch der Gerechtigkeit verursachte Wechsel sich dann doch nicht als eine Veränderung zum Bessern erweist, weil die neuen Besitzer nicht nur die Güter, sondern auch das Böse der vor ihnen Vertriebenen erben. Diese gerichtliche Heimsuchung der Kanaaniter hätte auf die Stämme Israels einen heilsamen Einfluss üben sollen; aber ach, diese waren unverbesserlich und wollten nicht einmal von Beispielen lernen, die ihnen so nah vor die Augen geführt worden und so erschütternd ernst waren.

56. Aber sie versuchten und erzürneten Gott, den Höchsten. Der Wechsel ihrer äußeren Lage veränderte nicht ihre Gesinnung und ihr Verhalten. Sie gaben ihr Nomadenleben auf, aber nicht ihre Neigung, fern von Gott in die Irre zu schweifen. Wiewohl alle göttlichen Verheißungen buchstäblich in Erfüllung gegangen waren und das Land, das von Milch und Honig floss, nun tatsächlich ihr Eigentum war, versuchten sie doch den HERRN von neuem mit ihrem Unglauben und reizten ihn durch andere Sünden. Gott ist nicht bloß erhaben und herrlich, sondern der Höchste, das einzige Wesen, welchem es gebührt, so hoch in Ehren gehalten zu werden; aber statt ihn zu ehren, erzürnte ihn Israel durch Empörung. Und hielten seine Zeugnisse nicht. Sie waren nur einem treu: ihrer angeerbten Treulosigkeit; sie standen nur in einem fest: in dem Wankelmut ihres falschen Herzens. Sie kannten die göttliche Wahrheit, vergaßen sie aber, wussten um Gottes Willen, gehorchten ihm aber nicht, kannten wohl seine Gnade, verkehrten sie aber in einen Anlass zu desto größerer Übertretung. Lieber Leser, hast du einen Spiegel nötig? Sieh, hier ist einer, der für den, welcher diese Erklärung niederschreibt, gut passt; wirft er nicht auch dein Bild zurück?

57. Und wandten sich ab und waren treulos wie ihre Väter. (Grundtext) Damit zeigten sie sich als deren echte Kinder. Sie waren ein anderes Geschlecht, aber kein anderer Menschenschlag, ein neues Volk und doch das alte. Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen. Böse Neigungen erben sich fort. Der Wildesel erzeugt wilde Esel, und die Jungen des Raben fliegen zum Aas. Die menschliche Natur wird nicht besser; die neuen Auflagen derselben enthalten alle Druckfehler der ersten und zuweilen noch neue dazu. Und wandten sich wie ein falscher Bogen (Luther 1524), der den Pfeil nicht nur nicht in gerader Richtung zum Ziele schickt, sondern ihn sogar zurückfliegend den Schützen selber treffen und in die Reihen der Freunde fahren lässt.

58. Und erzürneten ihn mit ihren Höhen. Das war ihr erster Hauptfehler: selbsterwählter Gottesdienst. Sie beteten Gott an, aber nicht nach seinen Verordnungen, sondern nach ihrem Gutdünken. Viele denken darüber sehr leicht; es ist das aber nichtsdestoweniger eine nicht geringe Sünde, und es liegen darin überdies kräftige Keime zu weiteren Vergehen. Der HERR wollte, dass das von ihm verordnete Heiligtum der einzige Ort sei, wo Opfer dargebracht würden; Israel aber war in eigenwilliger Auflehnung gegen den göttlichen Befehl (die es freilich ohne Zweifel mit besonders großer Frömmigkeit beschönigte) entschlossen, viele Altäre auf vielen Bergen zu haben. Sollten sie nur einen Gott haben, so wollten sie wenigstens nicht auf eine heilige Opferstätte beschränkt sein. Wie vieles von dem, was in unseren Tagen Gottesdienst heißt, ist nichts mehr und nichts weniger als eitel selbsterwählter Gottesdienst! Wer dürfte sich auch nur für den zehnten Teil der Ämter, Festtage, Zeremonien und Gebräuche gewisser Kirchen auf eine göttliche Anordnung berufen? Es kann kein Zweifel sein, dass Gott durch eine Verehrung, die Er nicht geboten hat, von ferne nicht geehrt, vielmehr höchlich entrüstet wird. Und reizeten ihn mit ihren Bildern.14 Das war nur ein Schritt weiter. Sie verfertigten sich Sinnbilder des unsichtbaren Gottes; denn es gelüstete sie nach etwas Greifbarem und Sichtbarem, dem sie Verehrung erweisen könnten. Das ist auch eine himmelschreiende Sünde unserer Zeit. Hören und sehen wir nicht, wie der Aberglaube überhandnimmt? Man verehrt Statuen, Bilder, Kruzifixe und wer weiß was alles; ja es ist so weit gekommen, dass Menschen heutigestags solches anbeten, das sie essen! Wahrlich, der HERR ist sehr geduldig, sonst würde er die Erde wegen solcher Dinge mit seinen Gerichten heimsuchen. Er ist aber bei aller Langmut ein eifriger Gott und hat einen Gräuel daran, sich durch irgendeine Form der Darstellung, die aus Menschenhänden hervorgehen kann, verunehrt zu sehen.

59. Und da das Gott hörte, entbrannte er. Schon das Hören der Gebete und Gesänge bei diesem falschen Gottesdienst und dem daraus hervorgehenden Götzendienst entflammte Gottes Zorn; er mochte es nicht hören, er ward aufs höchste darüber entrüstet, und mit vollem Recht. Und verwarf (wörtl.: verschmähte) Israel gar. Er verstieß das abgöttische Volk aus seiner Gunst und überließ es sich selbst und den sündlichen Gedanken seines Herzens. Wie konnte er sich auch mit den Götzen vertragen? Wie stimmt Christus mit Belial? Die Sünde ist etwas so Widriges und Anstößiges, dass sie auch den Sünder Gott widrig und ekelhaft macht. Götzen sind, welcherart sie auch sein mögen, Gott ein Gräuel, und wir müssen allen Ernstes zusehen, dass wir uns mit Hilfe der göttlichen Gnade von ihnen fernhalten; denn wir mögen versichert sein, dass irgendwelcher Götzendienst sich mit dem Gnadenstand schlechterdings nicht verträgt. Wenn Dagon in einer Seele thront, so ist für die Lade Gottes dort keines Bleibens (1. Samuel 5). Wo der HERR wohnt, wird kein seinen Eifer reizender Abgott geduldet. Eine sichtbare Kirche wird sich bald in einen sichtbaren Fluch verwandeln, wenn Götzenbilder in ihr aufgerichtet werden, und das scharfe Messer wird sie dann wie eine abgestorbene Rebe vom Weinstock abschneiden.
  Man beachte immerhin, dass Gott sein Volk Israel auch dann, als er, wie es hier heißt, sein gar überdrüssig ward und es deshalb verwarf, doch nicht endgültig, nicht für immer von sich stieß, sondern es in Gnaden wieder heimsuchte, wie uns spätere Vers (65 ff.) kundtun.15 So wird auch jetzt wieder der Same Abrahams, wiewohl er für eine Weile unter einer dicken Wolke ist, noch gesammelt werden; denn das ist ein Salzbund (2. Chr. 13,5), der nicht gebrochen werden kann. Was aber die geistlichen Kinder Abrahams betrifft, so hat der HERR sie noch nie verschmäht oder verworfen; sie sind sein besonderes Kleinod, das er stets auf dem Herzen trägt.

60. Dass er seine Wohnung zu Silo ließ fahren, die Hütte, da er unter Menschen wohnte.16 Seine Herrlichkeit sollte sich dort nie mehr enthüllen; er verließ Silo und gab es preis, dass es ein Trümmerhaufen werde. Vor der Stiftshütte, die dort seit der Eroberung des Landes stand (Jos. 18,1), war schamlose Sünde verübt worden (1. Samuel 2,22), und ringsumher auf allen Bergen hatte Israel Höhen- und Götzendienst getrieben; darum verließ die Schechina17 jenen Ort, und Ikabod (1. Samuel 4,21), "Die Herrlichkeit ist dahin," ertönte als Schreckenswort über Silo und über den ganzen Stamm Ephraim, in dessen Gebiet es lag. So kann der Leuchter weggestoßen werden von seiner Stätte, wiewohl gottlob! das Licht selbst nicht ausgelöscht wird. Kirchen, welche Irrtum dulden, werden abtrünnig und verfallen dem Gericht; aber es bleibt trotz alledem eine wahre Kirche des HERRN auf Erden. Verfällt Silo der Entweihung, so wird Zion geweiht. Doch ist es eine feierlich ernste Warnung an alle Versammlungen der Heiligen, demütig vor Gott zu wandeln, wenn wir Worte wie die des Propheten Jeremia lesen (Jer. 7,4.12): "Verlasset euch nicht auf die Lügen, wenn sie sagen: ,Hie ist des HERRN Tempel, hie ist des HERRN Tempel, hie ist des HERRN Tempel!’ Gehet hin an meinen Ort zu Silo, da vorhin mein Name gewohnt hat, und schauet, was ich daselbst getan habe um der Bosheit willen meines Volks Israel." Lasst uns auf der Hut sein, dass nicht, wie damals die Bundeslade nie wieder nach Silo zurückkam, als sie von den Philistern erbeutet worden war, so uns das Evangelium zum Gericht weggenommen werde, um derselben Kirche nie wieder gegeben zu werden.

61. Und gab seine Macht ins Gefängnis. Die Bundeslade ward von den Philistern im Kampfe erbeutet nur deshalb, weil der HERR beschlossen hatte, sie Israel zur Strafe in deren Hände zu überliefern; sonst hätten die Unbeschnittenen nie über die heilige Lade Gewalt bekommen. Das Zeichen der Gegenwart Gottes wird hier dichterisch seine Macht genannt, und ist nicht auch wirklich die Gegenwart des HERRN seine Macht unter seinem Volk? Ja, das war ein dunkler Tag, als der Gnadenthron weggeführt wurde, als die Cherubim wichen und Israels Schutzheiligtum dahin war. Und seine Herrlichkeit (seine Zier) in die Hand des Feindes. Die Bundeslade war der Ort, wo sich die Herrlichkeit des HERRN niederließ, und die Feinde frohlockten hoch, als sie sie in ihre eigenen Städte trugen. Nichts hätte Israel deutlicher das göttliche Missfallen zeigen können. Es schien zu sagen, dass Jehova lieber noch unter seinen erklärten Feinden wohnen wollte als unter einem so falschen Volke wie Israel; dass er eher noch die offenen Beschimpfungen der Philister als die Treulosigkeit Ephraims ertragen wollte. Welch schrecklicher Sturz war das für das so hoch bevorzugte Volk, umso mehr, als er noch andere Züchtigungen der empfindlichsten Art im Gefolge hatte. Wenn Gott hinweg ist, ist alles hinweg. Kein Unglück kommt dem gleich, wenn Gott seine Gnadengegenwart einem Volke entzieht. O Israel, wie bist du herabgekommen! Wer wird dir nun helfen können, da dein Gott dich verlassen hat?

62. Und übergab sein Volk ins Schwert. Sie fielen im Kampfe, weil ihnen Gottes Macht nicht mehr beistand. Das Schwert wütete arg, aber ärger noch war die Ursache, um derentwillen es wider sie gezückt ward. Und entbrannte über sein Erbe. Noch immer waren sie sein, und zweimal wird das in diesem Vers hervorgehoben; doch hielt ihn die Rücksicht darauf, dass sie sein Eigentum waren, nicht ab sie zu züchtigen, und das mit einer eisernen Rute. Wo die Liebe am brünstigsten ist, ist die Eifersucht am grimmigsten. Gott kann die Sünde nicht dulden bei Leuten, die zu ihm in so naher Beziehung stehen.

63. Ihre junge Mannschaft fraß das Feuer. Wie einst buchstäblich Feuer vom HERRN ausgefahren war und Nadab und Abihu verzehrt hatte (3. Mose 10), so fiel das Feuer des Zornes Gottes auf die Söhne Elis, die das Heiligtum Jehovas entweiht hatten, und das gleiche Feuer verzehrte, als Kriegsflamme lodernd, die Blüte des Volks. Und ihre Jungfrauen mussten ungefreiet bleiben, wörtl.: wurden nicht (durch Hochzeitslieder) gefeiert. Keine Hochzeitslieder wurden gesungen, denn die Braut hatte ihren Bräutigam nicht mehr: die Schärfe des Schwerts hatte das Band des Ehegelöbnisses zerschnitten und ließ die in Trauer und Einsamkeit zurück, welche sonst mit frohen Liedern zu ihrem Ehrentag beglückwünscht worden wäre.

64. Ihre Priester fielen durchs Schwert. Hophni und Pinehas wurden erschlagen; sie taten es den andern im Sündigen zuvor und kamen darum mit den andern um. Das Priestertum ist kein Schutz für Übertreter; die Juwelen des Brustschildleins halten die Gerichtspfeile nicht ab. Und ihre Witwen weinten nicht (wörtl.), d. h. sie hielten keine (Toten-) Klage. Ihr besonderer Kummer ward verschlungen von dem noch größeren nationalen, dass die Lade Gottes genommen war (1. Samuel 4,21.22). Wie die Mägdlein kein Herz hatten, Hochzeitsgesänge anzustimmen, so hatten die Witwen keinen Mut, die Totenklage zu halten. Es gab der Toten zu viele zu begraben, und man musste sie zu eilig in die Erde scharren, als dass die gewohnten Klagegebräuche hätten eingehalten werden können. Oft genug wohl gingen unter der Drangsal des Feindes die Gemordeten ganz des ehrlichen Begräbnisses verlustig. Das war die tiefste Tiefe der Schmach Israels; von diesem Punkt aus werden die Dinge eine gnädige Wendung nehmen.

65. Und der Herr erwachte wie ein Schlafender. Zu gerechter Bestrafung des halsstarrig ungehorsamen Volks hatte er sich untätig verhalten und dadurch zugelassen, dass der Feind triumphierte, die heilige Lade erbeutet und das Volk hingemetzelt ward. Nun aber erweckt er sich aus seiner dem Schlummer vergleichbaren Zurückhaltung; sein Herz ist voll Mitleids mit seinen Auserwählten und voll Zornes gegen den Feind, der sich so schändlich an ihnen vergreift. Wehe dir, Philistäa, jetzt wirst du seine schwere Hand fühlen! Der Allherr regt sich und zeigt seine Kraft wie ein Kriegsheld, der sich mit einem erfrischenden Trunk belebt hat: wie ein Starker jauchzet, der vom Wein kommt. In voller Kraft und Energie stürzte sich der HERR auf seine Widersacher, dass sie unter seinen gewaltigen Streichen alsbald zurückweichen und das Feld räumen mussten. Die heilige Lade zog von Stadt zu Stadt viel mehr als ein Rächer denn als Siegesbeute, und hilflos fielen die Götzen vor ihr zusammen.

66. Und schlug seine Feinde hinten. (Luther 152418. Die schandbare Krankheit, von der die Philister befallen wurden (1. Samuel 5,6-12), machte sie verächtlich, und ihre zahlreichen Niederlagen vollendeten ihre Schmach. Sie flohen, wurden aber überholt und von hinten verwundet zu unauslöschlichem Schimpf. Und hängte ihnen eine ewige Schande an. Die Morgenländer sind nicht gerade wegen feiner Sitten des Umgangs berühmt; so können wir es uns wohl denken, dass die Pestbeulen "an den heimlichen Orten" (wie Luther übersetzt) den Philistern manche Stichelei und Hohnrede eintrugen, ebenso wie die Niederlagen, welche sie so häufig von Israel erfuhren, bis sie zuletzt ganz unterdrückt wurden, um nie wieder als ein besonderes Volk zu existieren.


67. Und er verwarf die Hütte Josephs
und erwählte nicht den Stamm Ephraim,
68. sondern erwählte den Stamm Juda,
den Berg Zion, welchen er liebte.
69. Und baute sein Heiligtum hoch
wie die Erde, die ewiglich feststehen soll.
70. Und erwählte seinen Knecht David
und nahm ihn von den Schafställen;
71. von den säugenden Schafen holte er ihn,
dass er sein Volk Jakob weiden sollte
und sein Erbe Israel.
72. Und er weidete sie auch mit aller Treue
und regierte sie mit allem Fleiß.


67. Und er verwarf (verschmähte) die Hütte Josephs. Gott hatte Ephraim hoch geehrt; denn diesem Stamme hatten sowohl Josua, der große Eroberer, als auch Gideon, der gewaltige Richterheld, angehört, und in seinen Grenzen lag Silo, die Stätte der Bundeslade und des Heiligtums. Nun aber machte der HERR in alledem eine Änderung und bestellte andere zu Herrschern. Er wollte die Angelegenheiten Israels nicht mehr länger der Leitung Ephraims anvertrauen, weil dieser Stamm in der Probe zu leicht erfunden worden war. Und erwählte nicht den Stamm Ephraim. Vor aller Augen war die Sünde dieses mächtigen Volksteils, seine Torheit und Unbeständigkeit klar hervorgetreten; darum ward er als zur Führerschaft unfähig beiseitegestellt.

68. Sondern erwählte den Stamm Juda. Um dem Volke noch eine Gelegenheit zur Bewährung zu geben, ward dieser Stamm jetzt zur Oberherrschaft berufen. Das war der Verheißung des sterbenden Jakob gemäß. Aus Juda ist unser Herr aufgegangen, und er ist’s, den seine Brüder loben sollen (1. Mose 49,8). Den Berg Zion, welchen er liebte. Zelt und heilige Lade kamen unter der Regierung Davids nach Zion; den verkehrten Ephraimiten ward nichts mehr gelassen, worauf sie hätten stolz sein können. Auf dieses Berges Spitze, dem Morija, hatte einst der Vater der Gläubigen seinen Sohn auf den Altar gelegt, und ebendort sollten in zukünftigen Tagen die großen Versammlungen des auserwählten Samens Abrahams stattfinden; darum wird gesagt, der Zionshügel sei Gott lieb.

69. Und baute sein Heiligtum hoch, wörtl.: wie Hochragendes, wobei manche Alte an hohe Paläste, andere, so fast alle Neueren, an Berges- oder Himmelshöhen denken. Gewöhnlich ergänzt man: so beständig wie diese, parallel dem zweiten Versgliede, wo zweifellos die Festigkeit den Vergleichungspunkt bildet. Im ersten Gliede kann aber auch, wie Moll urteilt, auf die hervorragende Hoheit, die Erhabenheit des Heiligtums als einer Gründung Gottes hingewiesen sein. Wie das Heiligtum äußerlich auf hochragender Stätte erbaut war, so war es auch im geistlichen Sinne ein hocherhabener Ort, und mit ihm war die wahre Religion im Lande hoch erhöht. (Fest) wie die Erde, die ewiglich fest stehen soll, wörtl.: die er auf ewig gegründet hat. Nicht nur Stattlichkeit und Erhabenheit, auch Beständigkeit war dem Tempel verliehen. "Dies, auf ewig’ gilt freilich", sagt Delitzsch treffend, "nicht dem steinernen Gebäude, vielmehr der Offenbarungsstätte Jehovas und der Verheißung, dass er in Israel, und zwar Juda, eine solche haben werde. Geistlich, d. i. wesenhaft, mit Absehen von der zufälligen Erscheinungsweise angesehen, ist der Tempel auf Zion so ewig als das Königtum auf Zion, mit welchem der Psalm schließt. Die Erwählung Davids gibt der Heilsgeschichte bis in die Ewigkeit hinein ihr Gepräge." So geht also der Blick des Sängers nicht nur auf Zelt und Tempel, sondern prophetisch auf die Gemeinde Gottes; ihr kommen himmlische Erhabenheit und ewige Beständigkeit im vollen Sinne zu.

70. Und erwählte seinen Knecht David. Diese Erwählung war eine Tat frei waltender Gnade, und sie hatte eine mächtige Einwirkung auf die erwählte Persönlichkeit, indem sie dieselbe zum willigen Knecht des HERRN machte. David ward nicht erkoren, weil er ein Knecht Gottes war, sondern damit er einer sei. Er rechnete es sich stets zur hohen Ehre, dass er beides, ein Erwählter Gottes und ein Knecht Gottes, war. Und nahm ihn von den Schafställen. Ein Hirt der Schafe war er gewesen: das war eine gute Schule für einen Hirten des Volks. Niedrigkeit der Lebensstellung und Hantierung schließt niemand von den Ehren aus, welche damit, dass Gott ihn zu seinem Werkzeug erwählt, auf ihn kommen; denn der HERR sieht nicht, wie ein Mensch sieht. Er liebt es, solche zu segnen, die in der Menschen und ihren eigenen Augen gering sind.

71. Von den säugenden Schafen (eigentl.: hinter ihnen weg) holte er ihn, dass er sein Volk Jakob weiden sollte und sein Erbe Israel. In der Sorgfalt für die säugenden Schafe und deren Lämmer gibt sich besonders die rechte Hirtentreue kund. Auf Schritt und Tritt musste David diesen folgen und durfte sie nie aus dem Auge verlieren, musste auch das Wandern der Herde so einrichten, dass diese Tiere nicht übertrieben wurden. Die Sorgfalt und Geduld, die er sich in diesem Beruf erwarb, waren vorzüglich geeignet, Charaktereigenschaften auszubilden, welche einem König gar wohl anstanden. Dem so zubereiteten Manne ward zur rechten Stunde die Würde und Bürde zuteil, welche Gott ihm bestimmt hatte, und er ward dadurch befähigt, beide in gottgefälliger Weise zu tragen. Es ist wunderbar, wie oft Gottes Weisheit bei Menschen, die zu großen Dingen berufen sind, die Jahre ihrer Jugend und Verborgenheit so ordnet, dass sie eine Vorbereitungsschule werden für die Zeit einflussreicher Tätigkeit und Berühmtheit.

72. Und er weidete sie auch mit aller Treue. David suchte in Herzenseinfalt und ganzer Redlichkeit Jehova zu dienen. Was für Fehler er auch hatte, er war doch ohne alle Beimischung von Heuchelei dem himmlischen König Israels gehorsam ergeben; so erfüllte er denn auch seinen Hirtenberuf an dem ihm anvertrauten Volke in Gemäßheit ganzer Herzenshingabe, wie der Grundtext sich wörtlich ausdrückt. Und leitete sie (wörtl.: mit der Einsicht seiner Hände, d. h.) mit kluger Hand. (Grundtext) Seine Regierung zeigt ihn als Muster eines weisen Herrschers. Er war nicht nur einfältig, sondern auch klug, und nicht nur eifrig und tatkräftig, sondern auch einsichtsvoll. Er befahl nicht nur, sondern er verstand es das Volk zu leiten, es in bestimmter Richtung zu führen. So preist der Psalmdichter denn den HERRN, dass er dem Volke diesen Mann zum Hirten gegeben hatte. Unter David erhob sich das israelitische Reich zum ersten Mal zu einer unter den Nationen geachteten Stellung und übte auf die Nachbarreiche Einfluss aus.
  Wir freuen uns, den Psalm, der das auserwählte Volk in so verschiedenem und zumeist recht trübem Lichte gezeigt hat, so friedlich schließen zu sehen; alles Getöse des Aufruhrs, alle Disharmonien der Sünde sind zum Schweigen gebracht. Nach langer Fahrt über ein sturmbewegtes Meer hat sich nun die Arche des israelitischen Staates unter der Leitung eines weisen Steuermanns auf ihrem Ararat niedergelassen, um fürder nicht mehr von Fluten und Stürmen hin und her geworfen zu werden. Der Dichter hatte sich gewiss schon von Anfang an vorgenommen, seinen Psalm mit einer Strophe dieses Inhalts zu schließen; und wir dürfen es auch zufrieden sein, alle unsere Gesänge in das Lob der Herrschaft des Gesalbten Jehovas ausklingen zu lassen. Nur wollen wir ernstlich fragen: Wann wird diese Herrschaft erscheinen? Wann werden wir all die Irrwanderungen in der Wüste, all die Empörungen des argen Herzens, darum auch all die Züchtigungen für immer hinter uns haben und in die Ruhe des wohlgeordneten Reiches Gottes eingehen unter dem Zepter des Fürsten aus dem Hause Davids?
  So sind wir denn am Ende der langen Parabel. Mögen wir in der Parabel unseres Lebens weniger Sünde und ebenso viel Gnade ausgeprägt finden wie in der Geschichte Israels, und mögen auch wir unser Leben schließen unter der sanften Führung des großen Erzhirten der Schafe. Amen.


Erläuterungen und Kernworte

V. 2. Sprüche, Rätsel. Die der alttestamentlichen Chokma (Weisheitslehre), der vorzugsweise die Sprüche, Hiob und der Prediger, aber dem Inhalte nach auch manche Psalmen angehören, eigentümliche Form ist der Maschal. Dieser Ausspruch ist Bezeichnung des Lehrspruchs nicht bloß in der engeren Bedeutung der Vergleichung, sofern viele Sprüche wirkliche Gleichnisse und bildliche Rede enthalten, sondern in dem allgemeineren Sinne, sofern Lebenserfahrungen und Erscheinungen untereinander verglichen und aneinander beleuchtet werden, in höherer Instanz aber alles sittliche Handeln gemessen wird an seinem Typus, dem heiligen Gotteswillen. So wird auch Ps. 78 in V. 2 als ein Maschal bezeichnet, weil in ihm die Führung Israels als Spiegel zur Ermahnung und Warnung vorgehalten wird. Der Maschal fordert bündige, präzise Fassung, vermöge welcher er geeignet ist, sich leicht und tief einzuprägen und dauernd zu haften, gleich Stacheln und eingeschlagenen Nägeln (Pred. 12,11). - Sofern die Sprüche das sittliche Urteil wecken, etwas zu erraten geben wollen, heißen sie auch Rätsel. Dass nämlich dieser Ausdruck nicht bloß die zugespitzte Form bezeichnen soll, sondern wirklich darauf geht, dass etwas erraten werden soll, und zwar namentlich der unter einem Bilde verhüllte Gedanke, zeigt der Gebrauch des Worts in Richt. 14,12; 1. Könige 10,1; Hes. 17,2, vergl. auch 4. Mose 12,8. Die ethische Bedeutung des Worts, dass es sich um Weckung des sittlichen Urteils handelt, ist besonders aus Ps. 49,5; 78,2 deutlich. - Theologie des A. T., von Prof. J. F. Öhler, 1882.
  Maschal, "das Darstellende", bedeutet im Hebräischen immer die darstellende Rede mit den hinzugedachten Merkmalen des Verblümten und Körnigen. - So heißt die Gleichnisrede, insbesondere der Sinnspruch als eigentümliche Dichtungsart der Chokma (der alttestamentlichen Weisheit) und dann überhaupt ein in Bildern malendes, sinniges, körniges und gerundetes Redeganzes gehobenen Stils. - Der Dichter will nicht sagen, dass er eigentlich Sinnsprüche vortragen und Rätsel aufgeben, sondern dass er die Geschichte der Väter sinnspruch- und rätselartig vortragen will, so dass sie zu einer Parabel, d. i. Lehrgeschichte, und ihre Geschehnisse zu Fragezeichen und Notabenes für die Gegenwart werden. - Die Darstellungsweise des Psalms ist episch gedehnt, zugleich aber sinnspruchartig konzis (knapp). Die einzelnen geschichtlichen Aussagen haben gnomenartige Rundung, gemmenartige Feinheit. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Die Bezeichnung dieser Tatsachen der Geschichte als Gleichnis und Rätsel weist darauf hin, dass in der heiligen Geschichte überall ein verborgener Hintergrund der Lehre sich findet, dass sie eine rückwärts gekehrte Weissagung ist, dass bei ihr durchgängig das "mutato nomine de te fabula narratur" - "Mit verändertem Namen bloß handelt die Erzählung von dir" (Satiren des Horaz, † 8 v. Chr.) - gilt, überall zwischen den Zeilen das "Wer es lieset, der verstehe es" steht, vergl. Gal. 4,24 und besonders 1. Kor. 10,6, und fordert auf, durch die Schale zum Kern hindurchzudringen, aus den Trauben der Geschichte den Wein der Lehre zu keltern. Prof. E. W. Hengstenberg 1844.
  Asaph variiert hier jenes wunderbare Mysterium des Reiches Gottes, dass, wo die Sünde mächtig geworden, die Gnade noch darüber hinaus mächtig ward (Röm. 5,20). Der Psalm gipfelt in der Erwählung Davids, welche stattfand, trotzdem dass ein Strom von Sünden ein Denkmal der göttlichen Gnade nach dem andern wegschwemmte. Also wird das Herz befestigt (Ps. 78,8) - durch Gnade, nicht durch eigene Werke. Prof. Ed. Böhl 1878.
  Der höchste Sinn aller Geschichte ist der, wo ihre Ereignisse göttliche Gleichnisse an die Menschheit werden. Freiherr G. F. Ph. v. Hardenberg (Novalis) † 1801.


V. 4. Nicht verhalten. Du sollst nicht nur selber Gott preisen, sondern auch bestrebt sein, das Andenken seiner Güte der Nachwelt zu überliefern. Kinder sind die Erben ihrer Väter; es wäre für einen Vater unnatürlich, wenn er seine Schätze, ehe er stirbt, in die Erde vergrübe, wo seine Kinder sie nicht finden würden, so dass sie also von ihnen keinen Genuss haben könnten. Nun sind aber die Gnadenerweisungen Gottes wahrlich nicht der geringste Teil des Reichtums eines gottseligen Mannes und auch nicht der geringste Teil des Erbes seiner Kinder; denn sie sind ihrem Glauben eine Förderung, geben ihnen Stoff zum Lobpreis und locken sie zum Gehorsam. "Unsere Väter haben’s uns erzählet, was du getan hast zu ihren Zeiten, wie du die Heiden vertrieben hast, aber sie eingesetzt usw." Ps. 44,2 ff. Darauf gründen die gläubigen Israeliten ihre Zuversicht, ebenda V. 5: "Du, Gott, bist mein König; entbiete Hilfe für Jakob!", und auf Grund dessen rufen sie sich zum Danken auf V. 9: "Wir wollen täglich rühmen von Gott und deinem Namen danken ewiglich." Wie die Kinder die Erben ihrer Väter sind, so sind sie auch sittlich verpflichtet, die Schulden ihrer Väter zu bezahlen. Die große Schuld nun, mit welcher der Gläubige bei seinem Tode belastet erscheint, ist die, welche er Gott für dessen Gnadenerweisungen zu entrichten hat; darum ist es nur billig, wenn er es seinen Nachkommen aufs Herz bindet, sie abzutragen. So kannst du im Himmel und auf Erden zugleich Gott preisen. William Gurnall † 1679.
  Dass wir’s nicht verhalten sollten ihren Kindern; die Altväter haben auch noch Recht an ihre Nachkommen. Johann David Frisch 1719.


V. 4-6. In der Wolle gefärbtes Tuch hält am besten die Farbe. Übung und Erfahrung fördern in jeder Kunst und Wissenschaft. Je länger dein Kind in der Schule Christi erzogen ist, desto geschickter wird es sein, die Fallstricke Satans zu erkennen und zu meiden. Je länger es schon Gott dient und seine Gemeinschaft genießt, desto besser wird es zu beidem, zum Dienst und zum Genusse, tüchtig sein. Der Baum steht im Alter fest gegen den Wind, gerade weil er noch jung gepflanzt worden ist. - Die Kinder Merindals antworteten so trefflich vor dem verfolgungssüchtigen Bischof von Cavailon, dass einer der Dabeistehenden zu dem Bischof sagte: "Ich muss gestehen, ich habe oft den Disputationen der Doktoren in der Sorbonne (der berühmten Pariser theologischen Fakultät) beigewohnt; aber ich habe nie so viel gelernt wie von diesen Kindern." Sieben Söhne erlitten einst (unter dem Kaiser Hadrian) in Trier den Märtyrertod mit ihrer Mutter, der gottseligen Witwe Symphorosa. Solcher Segen begleitet oft wahrhaft fromme Erziehung; deshalb wollte Julian der Abtrünnige, um das Wachstum des Christentums zu hindern, es nicht zulassen, dass die Kinder der Christen, sei es weltliche oder geistliche Bildung erhielten. - Philipp, der König von Mazedonien, war froh, dass Alexander zu Lebzeiten des Aristoteles geboren war, weil er so von dem berühmten Weisen unterrichtet werden konnte. Es ist nichts Geringes, dass deine Kinder in den Tagen des Evangeliums geboren worden sind und in einem Land des Lichts, wo sie im Christentum unterwiesen werden können. Darum versäume es nicht, deine Kinder über Gott und Christus, über ihre Sünde und den Weg des Heils, über den Zweck, zu welchem sie von Gott ins Leben gerufen worden, und über die Notwendigkeit der Wiedergeburt und eines heiligen Lebens zu unterweisen. - Die Einwohner von Mytilene legten (nach Älian) auf die unterworfenen Nachbarvölker, wenn diese sich empörten, die Strafe, dass sie ihnen verboten, ihre Kinder zu unterrichten, indem sie das für eine genügende Rache ansahen. Lieber Leser, wenn du in dieser Pflicht nachlässig bist, so möchte ich dich fragen, was deine Kinder dir denn Leides getan haben, dass du dich an ihnen rächen willst durch Verweigerung dessen, was ihnen zukommt, ich meine, der religiösen Unterweisung? - Die jüdischen Rabbiner reden von einer sehr genauen Sitte und Methode der Unterweisung der Kinder nach deren Alter und Fassungsvermögen. Mit fünf Jahren wurden die jüdischen Knaben "Söhne des Gesetzes" - sie lernten es lesen. Mit dreizehn waren sie "Söhne der Vorschrift", da sollten sie das Gesetz verstehen und halten. Mit fünfzehn waren sie Talmudisten; da gingen sie an das Studium der schwereren Teile des Gesetzes und sogar talmudischer Spitzfindigkeiten. Wie deine Kinder heranwachsen, so schreite du immer weiter fort, sie über Gottes in seinem Wort geoffenbarten Willen zu belehren. Es ist ebenso deine Pflicht, deine Kinder mit den Werken Gottes bekannt zu machen. Lehre sie, was er getan hat sowohl als was er gesagt hat. Gottes Wunder sollten ewig im Gedächtnis behalten werden. Darum müssen wir sie unseren Kindern ins Gedächtnis schreiben, indem wir sie ihnen erzählen, wie es die Erzväter getan haben. Es soll das geschehen teils zu Gottes Preis (V. 4), teils aber auch zu der Kinder eigenem Nutzen (V. 7 f.). George Swinnock † 1673.


V. 5. Wir verstehen in diesem Vers unter dem Zeugnis (oder der Mahnung) und dem Gesetz jene besondere Vorschrift, welche 5. Mose 4,9 gegeben ist. Simon de Muis † 1644.
  Unter dem Zeugnisse und dem Gesetze ist der ganze Inhalt des Pentateuchs zu verstehen, die darin enthaltenen direkten Gebote und die Taten Gottes, welche als indirekte Gebote zu betrachten sind; denn alle Taten Gottes enthalten einen Kern der Lehre, der Verpflichtung und der Ermahnung in sich. "Dies tat ich für dich; was tust du für mich?" "Seid reichlich dankbar." "Heute, so ihr seine Stimme höret usw." Prof. E. W. Hengstenberg 1844.
  Ihre Kinder. Wer das Gesetz in der Jugend lernt, der gleicht jemand, der mit leichter Mühe auf neues, geschmeidiges Pergament schreibt; wer aber erst im Alter zu lernen beginnt, ist wie jemand, der es versucht, auf altes, zusammengeschrumpftes Pergament zu schreiben. Johannes Drusius (Van den Drische) † 1616.


V. 6. Dass sie es auch ihren Kindern verkündigten. Daraus aber nicht folget, dass man in Glaubenssachen sich an die mündlichen Satzungen zu halten habe, obschon dieselben nicht in dem geschriebenen Worte Gottes gegründet seien. Denn der Prophet will nur das auch mündlich verkündigt haben, was Mose in seinen heiligen Schriften verfasst hinterlassen hat. Johann David Frisch 1719.
  Kinder sollten mit allem Fleiß der Unterweisung ihrer Eltern zuhören, damit sie selber hernach imstande seien, das gleiche ihren Kindern zu sagen, und sich so eine goldene Kette bilde, durch welche verbunden die ganze Familie den Himmel suche. Der Vater ziehe den Sohn, der Sohn den Enkel, der Enkel den Urenkel zu Christus, dem Magneten aller, damit sie alle eins werden. Thomas Le Blanc † 1669.


V. 7. Dass sie setzten auf Gott ihre Hoffnung: das ist der Hauptzweck, warum uns Gott sein Wort gegeben, auf dass wir durch Geduld und Trost der Schrift Hoffnung haben, Röm. 15,4. Johann David Frisch 1719.
  Sie sollten ihre Hoffnung setzen nicht auf das Gesetz, das züchtigt, sondern auf die frei geschenkte erlösende Gnade; darum wird auch hinzugefügt: und nicht vergäßen der großen Taten Gottes. Kardinal Juan de Torquemada † 1468.


V. 8. Und nicht würden wie ihre Väter. Die Warnung wird einem ganz naheliegenden Beispiel entnommen. Er sagt nicht: "Dass sie nicht würden wie die Heiden, die von Gott nichts wissen," sondern: "wie ihre Väter." Böse häusliche Beispiele sind viel verderblicher als solche von Fremden. Lasst uns aus dieser Schriftstelle lernen, dass es nicht geraten ist, in allen Dingen den Fußtapfen der Väter zu folgen. Er spricht von jenen Vätern, die in der Wüste umkamen; über welche siehe 4. Mose 14; 5. Mose 1 und Ps. 68,7. Wolfgang Musculus † 1563.
  Eine abtrünnige und ungehorsame Art: schlechtes Lob für Leute, denen Gott so viel zugute getan! Johann David Frisch 1719.
  Da diese so schlechte Nacheiferung der Vorfahren uns Menschen so schwer aus dem Herzen zu bringen ist, weil uns die Ehrfurcht für unsre Väter angeboren ist, häuft der Prophet die Worte, wo er die Sünden der Väter schildert. H. Moller 1639.


V. 9. Wie die Kinder Ephraim usw.: wie man im Deutschen von einem, der zur bösen Zeit nicht standhält, sondern ausreißt, zu sagen pflegt: Er geht durch wie ein Holländer. J. D. Frisch 1719.
  Mögen die Waffen noch so gut sein, ja befänden sich die Krieger in einer Feste, deren Fundament der reine Fels und deren Mauern ehern wären - steht ihr Herz aber nicht treu zu ihrem Fürsten, so wird ein leichter Angriff sie von den Mauern treiben und ein kleiner Schrecken das Tor öffnen, das nicht mit diesem Riegel der wahren Königstreue verschlossen ist. In unseren letzten Kriegen haben wir es gesehen, dass redliche, tapfere Männer in schwachen Verteidigungswerken die Stadt gehalten haben, während keine noch so starken Wälle Verräter davon abhalten konnten, das in sie gesetzte Vertrauen zuschanden zu machen. William Gurnall † 1679.


V. 10. Und wollten nicht in seinem Gesetz wandeln. Zu Athen gab es eine i(era` o(do/j, einen heiligen Weg, auf dem, wie Harpokration berichtet, die Priester der Mysterien nach Eleusis wandelten. Auch in Rom war eine Via sacra genannte Straße. Wir haben wirklich einen heiligen Weg zum Himmel, der durch die Fußtapfen der Heiligen geweiht ist. Es ziemt uns daher, nicht zu säumen, sondern auf diesem heiligen Wege stets rüstig vorwärts zu gehen. Thomas Le Blanc † 1669.


V. 12. Nicht ohne guten Grund entfaltete Gott seine wunderbare Macht und Herrlichkeit in der so gewaltig berühmten Stadt Zoan, wie er es auch sonst in solchen Hauptorten zu tun pflegt, um so desto wirksamer die Kenntnis und den Ruhm seines Namens auszubreiten. Wolfgang Musculus † 1563.


V. 14. Die ganze Nacht hindurch (wörtl.) leuchtete die Wolke ununterbrochen; wir brauchen nicht breit auszuführen, wie wertvoll das für die Israeliten beim Wandern und beim Ruhen war. Wäre dieses Licht plötzlich erloschen, so würde ganz Israel in Verwirrung und Schrecken geraten sein; es hätte das den geordneten Heerzug in einen wirren Haufen verwandelt. Ph. B. Power 1862.


V. 15. Und tränkte sie wie mit Fluten in Fülle. (Grundtext) Das zweite Murren wegen Wassermangels, zu Kadesch, scheint ein noch schlimmerer Fall der Empörung gewesen zu sein als der frühere, und doch ward das Wasser, wie aus dem Bericht: "Da ging viel Wasser heraus" (4. Mose 20,11) zu schließen ist, in größerer Fülle als zuvor gegeben. O wie wunderbar freigebig ist doch die Gnade Gottes! Vergl. Röm. 5, 20. W. Wilson 1860.


V. 17. Dennoch sündigten sie weiter wider ihn, nämlich gegen Gott, und gegen was für einen Gott! Gegen ihn, der sie durch große, unerhörte Wunder aus Ägypten errettet hatte, der sie als ein freies Volk trockenen Fußes durchs Rote Meer hatte gehen lassen, der fortgefahren hatte, sie Tag und Nacht mit der Wolken- und Feuersäule zu leiten und zu schützen, und der sie wie mit Fluten reichlich aus dem harten Felsen getränkt hatte. Gegen diesen Gott häuften sie Sünde auf Sünde. Sündigen ist der gefallenen Menschennatur eigen und kommt selbst bei den Gläubigen vor, die die Gnade an ihrem Herzen erfahren haben; aber im besonderen Sinn des Worts gegen Gott sündigen verrät einen besonderen Grad der Gottlosigkeit. Es heißt, ihn in Dingen, die ihn selbst unmittelbar betreffen, beleidigen und verunehren. Sie sündigten wider Gott dadurch, dass sie, nachdem ihnen so viele außergewöhnliche Proben und Zeugnisse einer Fürsorge vor Augen geführt worden waren, fortfuhren, von ihm übel zu denken und zu reden. Alle Sünden, welcherart sie auch sein mögen, geschehen ja freilich wider Gott, weil sie gegen seinen Willen verstoßen; aber diejenigen Sünden, welche im besonderen Sinne wider Gott begangen werden, sind sicherlich größer als andere. Es sind solche, die gegen seinen Namen, seine Güte, Fürsorge, Macht und Wahrheit, gegen seine Anbetung usw. begangen werden. Vergl. 1. Samuel 2,25 f. Wolfgang Muskulus † 1563.


V. 18. Und versuchten Gott in ihrem Herzen. Geschieht allemal, sooft der Mensch von seinem Gott neue Proben seiner Allmacht begehret und ihm Zeit, Ort, Art und Weise vorschreibt, außerdem aber Gott nicht trauen noch ihm dienen will. Ist so viel als Gott ins Angesicht sagen: Ich will erst sehen, was du kannst, und ob du tun wirst, was ich will. J. D. Frisch 1719.
  Sie versuchten Gott, stellten seine Geduld immer wieder aufs neue auf die Probe, machten gleichsam ein neues Experiment mit Gottes Langmut. Der Ausdruck "sie versuchten Gott in ihrem Herzen" scheint andeuten zu sollen, dass sie es zum Gegenstand stiller Berechnung machten, ob er sie wohl auch dann noch mit Geduld tragen werde. Thomas Chalmers † 1847.
  Für ihr Gelüsten. Ihre Sünde war nicht nur Murren, so sündlich das war, sondern ungezähmtes Gelüsten. Sie waren des Himmelsbrotes überdrüssig und orderten Fleisch. Als sie zu Massa haderten, begehrten sie etwas Notwendiges, nämlich Wasser; damals bestand ihre Sünde darin, dass sie murrten, statt zu bitten. Brot für den Hunger sollten sie auch haben. Jetzt aber sind sie lüstern nach etwas nicht Notwendigem, und das war eine noch schwerere Sünde, wie es auch der Psalmist hier schildert, V. 17 ff. George Wagner 1862.


V. 19. Es war keine Sünde, dass sie hungrig und durstig waren; alles Lebendige bedarf und begehrt Speise, und wenn wir das nicht mehr tun, sind wir tot. Die Sünde der Kinder Israel bestand darin, dass sie zweifelten, ob Gott sie in der Wüste versorgen könne und wolle, dass sie fürchteten, es könnte denen, die seiner Führung folgten, an irgendeinem Guten fehlen. Das war ihre Sünde. Ebenso ist es jetzt beim Christen; die Israeliten hatten es nicht in höherem Grad nötig, tätlich mit den nötigen Speisen für den Leib versorgt zu werden, als es der Christ für seine Seele bedarf. Haben wir kein Begehren nach Nahrung, so ist das ein Zeichen des geistlichen Todes. Dies Verlangen ist aber so wenig eine Sünde, dass der Herr vielmehr die selig gepriesen hat, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, und die köstliche Verheißung hinzugefügt hat, dass alle solche satt werden sollen. Aber es wäre Sünde und eine große Sünde, wollten wir murren und zagen, wenn uns diese Nahrung nicht gleichsam greifbar und sichtbar alsbald gegeben wird. Zur Prüfung ihres Glaubens widerfuhren diese Dinge den Israeliten, und ebensolchen Zweck haben die Prüfungen aller Christen aller Zeiten. Nur wenn wir "eine kleine Zeit leiden", können wir erwarten, vollbereitet, gestärkt, gekräftigt und gegründet zu werden (1. Petr. 5,10). Brownlow North 1865.


V. 20. Nach allen solchen Erfahrungen bezweifelten sie die göttliche Allmacht (Ps. 106,12.13), als ob dieselbe für nichts zu halten wäre, solange sie ihren Lüsten nicht dienen will. So tief sitzt der Unglaube im menschlichen Herzen, dass, wo Gott auf Erden Wunder tut, der Unglaube zweifelt, ob er’s auch am Himmel tut, und wo er’s am Himmel tut, er ihm vorhält, ob er es auch auf Erden tun könne. (Vergl. Mt. 16,1.) Prof. August Tholuck 1843.
  Aber wie kann er Brot geben? Sie hätten sagen sollen: Aber wird er auch unser Gelüsten befriedigen? Aber das auszusprechen schämten sie sich. John Trapp † 1669.


V. 23. Gott, der den Schlüssel zu den Wolken hat, tat auf die Türen des Himmels; das will mehr sagen als das Auftun der Fenster des Himmels, wovon doch Mal. 3,10 als von einem großen Segen gesprochen wird. Vergl. auch 1. Mose 7,11. Matthew Henry † 1714.


V. 25. Je vortrefflicher eine von Gott dargereichte Wohltat ist, desto schlimmer ist die Undankbarkeit dessen, der sie nicht schätzt und benützt, wie es sich geziemt. Hätte der HERR die Kinder Israel mit Staub der Erde oder mit Graswurzeln oder andern geringen Dingen genährt, so hätten sie keine Ursache zum Murren gehabt; nun er ihnen aber eine ganz neue, jeden Morgen für sie geschaffene, vom Himmel her gesandte Speise von so trefflichem Ansehen, Geschmack und Geruch und so gesunder Nährkraft gab, was für eine Herausforderung Gottes war es da, nicht damit zufrieden zu sein, zumal er sie ihnen in so reicher Fülle schenkte! David Dickson † 1662.


V. 27. Wie Staub. Den Vergleich bilden die ungeheuren Wolken feinen Staubes oder Sandes, wie sie ein heftiger Wind in den Wüsten des Orients aufwirbelt. W. K. Clay 1839.


V. 29. Er befriedigte ihr Gelüst. Man beachte, wie der Prophet in diesem Psalm gleichsam einen Kampf zwischen Gott und dem Menschen zur Darstellung bringt. Gott kämpft mit der Waffe des Wohltuns, der Mensch mit der Waffe der Sünde. Gott bringt seine Macht in Anwendung zugunsten des Menschen, der keine Güte verdient, V. 12, und der Mensch antwortet mit Untreue und Unglauben, V. 17.19. Darauf lässt Gott seine Güte auf die Sünder regnen, um ihre Undankbarkeit mit seinen Gaben zu überwältigen, V. 23. Aber diese Unmenschen setzen der Freigebigkeit Gottes ihre Gier entgegen und missbrauchen seine Gaben, V. 29. Sodann nimmt Gott den Kampf wieder auf; er sucht ihnen die Stumpfheit durch Strafen auszutreiben, V. 30 f. Aber sie löcken noch immer widerspenstig wider den Stachel, V. 32. Immer wieder aufs neue lässt sich Gottes Barmherzigkeit vom Himmel herab, um die Menschen zum Frieden einzuladen, V. 38; sie aber werden durch Gottes Langmut nur frech und fallen desto leichter in die Sünde zurück, V. 40. Obgleich alles verlorene Mühe scheint, kommt ihnen die Liebe dennoch nahe und vollbringt unerhörte Wunder, um ihre Hartherzigkeit zu überwinden, und errettet sie aus der schweren Drangsal Ägyptens, V. 43. Aber diesen Liebespfeilen Gottes setzen die Sünder schnödes Vergessen all seiner Wohltaten entgegen, V. 42. Und dies alles geschah, ehe sie ins Land der Verheißung eingingen. Der Kampf zwischen Israel und Gott setzte sich aber im Gelobten Lande fort, wie in dem späteren Teil des Psalms erzählt wird. Thomas Le Blanc † 1669.


V. 30. Noch hatten sie sich von ihrem Gelüste nicht abgewandt. Gesättigt waren sie, aber befriedigt nicht. Man könnte ebenso leicht das Feuer des Ätna dämpfen wie die von der Lust entbrannten Gedanken und Triebe. John Trapp † 1669.
  Bedenke, dass im Ertöten der Lüste mehr wahre Befriedigung ist als darin, dass man ihnen Nahrung gibt und ihnen frönt. Wäre im Sündigen irgendwelches wahre Vergnügen, so würde die Hölle keine Hölle sein; denn dann wäre je mehr Sünde desto mehr Freude. Du kannst auch nicht eine Lust befriedigen, und wenn du das Äußerste darin tätest und dich ihr ganz und gar zum Sklaven ergäbest. Du meinst wohl, du würdest Ruhe finden, wenn du deines Herzens Begehren hättest; aber du irrst dich darin sehr. Sie, die Israeliten, hatten, was sie begehrten; waren sie zufrieden? Alex. Carmichael 1677.


V. 31. Da kam der Zorn Gottes über sie. Warum gab er ihnen denn die vielen Wachteln und strafte sie erst nachher wegen ihres Murrens und Unglaubens? Wenn er sie vorher gestraft hätte, so hätte es geschienen, als vermöchte er es eher, sie zu vertilgen, als ihnen Fleisch zu geben. Darum zeigte er ihnen erst seine Macht zu helfen und stellte so den Unglauben des Volks desto heller ins Licht und zeigte ihnen damit, wie sehr sie gezüchtigt zu werden verdienten, weil sie gemeint hatten, er könne ihnen kein Fleisch geben, und dann strafte er sie für ihren Unglauben. Wolfgang Muskulus † 1563.
  Und würgte unter ihren Feisten usw. Sie wurden gemästet wie Schafe für die Schlachtbank. Der Schlächter nimmt die Fettesten zuerst. Wir dürfen wohl annehmen, es habe auch etliche fromme und zufriedene Israeliten gegeben, die nur mäßig von den Wachteln aßen und sich danach nicht schlechter befanden; denn nicht das Fleisch vergiftete sie, sondern ihre eigene böse Lust. Mögen Epikureer und Lüstlinge hier ihr Urteil lesen; wer den Bauch zu seinem Gott macht, dessen Ende ist die Verdammnis (Phil. 3,19). Matthew Henry † 1714.


V. 32. Und glaubten nicht an seine Wunder. Sie glaubten wohl die geschichtliche Tatsache, dass solche Dinge, wie die im Psalm berichteten, geschehen waren; sie konnten ja gar nicht anders, als glauben, dass Gott für sie Wunder getan hatte in Ägypten, dass er Pharao im Roten Meer ersäuft und sie durchs Rote Meer wohlbehalten hindurchgebracht hatte. Sie hatten ja diese Dinge gesehen, ihre Sinne waren Zeugen gewesen. Aber sie glaubten nicht an die Weissagung oder Verheißung, die tatsächlich in diesen Wundern lag, nämlich dass Gott noch mehr Wunder für sie tun werde, bis er ihre Befreiung ganz vollendet habe. Die Geschichte der Durchführung durch das Schilfmeer enthielt die Weissagung in sich, dass sie wohlbehalten nach dem Gelobten Lande gebracht werden sollten; aber sie glaubten nicht dieser Stimme der Weissagung. Als Gott ihnen Wasser aus dem Felsen gab, verhieß diese Tat, dass er ihnen auch auf außerordentliche Weise Brot geben werde, wenn sie es bedürften; aber sie glaubten das nicht. Siehe V. 19 ff. Joseph Caryl † 1673.
  Die Erfahrung sollte den Glauben stärken; aber es muss gegenwärtiger Glaube vorhanden sein, um die Erfahrung recht zu brauchen. J. N. Darby 1870.


V. 32.33. Was der Glaube einer Gerichtsweissagung gegenüber tun kann, nämlich sie entkräften, das kann auch der Unglaube gegenüber einer Gnadenverheißung. Joseph Caryl † 1673.


V. 34 f. Also taten die in Furcht gejagten Israeliten alles, was sonst zur Buße erfordert wird. Sie suchten Gott, d. i. sie bezeugten ihr Verlangen nach seiner Barmherzigkeit; sie kehrten sich auch wirklich zu Gott mit Abstellung der bisher gewohnten Sünden. Sie gedachten auch auf eine praktische Art und Weise, d. i. mit einiger Hoffnung dessen, was sie an und von Gott hatten; und das alles fein früh, d. i. gleich in dem Anbruch der Plagen. Johann David Frisch 1719.


V. 34-37. Manche Leute gleichen den Dachrinnen: wenn ein heftiger Regen fällt, laufen sie über. So fließen wir bei einem Unwetter der Trübsal über von guten Vorsätzen; aber sobald der Schauer vorüber ist, schwinden auch die Gemütsbewegungen. Alex. Wedderburn 1701.
  Wir sehen hier deutlich, dass diese Leute sehr eifrig waren, Gott zu bitten, dass er seine Züchtigungen von ihnen nehme, aber nicht, dass er sie von ihren Sünden heile, welche ihn reizten, das Schwert zu ziehen und es mit ihrem Blut zu färben; denn trotz der furchtbaren Todesgerichte, welche die göttliche Gerechtigkeit über sie gebracht hatte, logen und heuchelten sie nur und suchten Gott mit ihren glatten Worten zu betören (V. 36). Sie wollten ihre Leiden los sein; aber wie sie von ihren Sünden frei werden könnten, das kümmerte sie nicht. Echte Nathanaelsseelen rufen wie Augustin: A me, me salva, Domine, Von mir selber, Herr, errette mich! Der gläubigen Seele ist keine Bürde so schwer wie die ihrer Sünden. Herr, spricht sie, befreie mich von dieser inneren Last und lege mir an äußeren Bürden auf, was dir beliebt. Thomas Brooks 1680.


V. 36. Es gibt Menschen, die in ihrem natürlichen unversöhnten, gottfeindlichen Zustand sind, die aber nicht nur sehr fest im Zaum gehalten sind und ihre Feindschaft verbeißen, sondern auch, durch eine gewisse Einwirkung des Wortes und Geistes Gottes auf ihre Herzen, dazu geführt sind, sich um Gottes Gunst zu bewerben, ja die, was äußere Taten betrifft, viel für Gott tun und sich zu seinen Freunden halten; und doch sind sie, weil ihre Herzen unverändert sind und die fluchwürdige Feindschaft ihrer Natur nicht ertötet und hinweggenommen ist, innerlich voll bitterer Galle. So die Leute, von denen der Psalmist hier redet. Sie heuchelten Gott mit ihrem Munde. Wir wissen ja, dass sich der Heuchler dadurch von dem Freund unterscheidet, dass er große Freundlichkeit zur Schau trägt, aber im Herzen nicht wohlgesinnt ist; er ist freundlich in selbstsüchtiger Absicht. So schmeicheln manche Gott, die er doch für Feinde rechnet; denn sie flehen ihn an, weil sie sich von ihm gefangen wissen. Der Schmeichler übertrifft den wahren Freund noch an Freundschaftsbezeugungen, um seine Gesinnung zu verbergen. Wird solche schmeichlerische Heuchelei aber entdeckt, so erzeugt sie zwiefachen Hass. Wieviel mehr muss Gott die Heuchler hassen! Denn da er das Herz in allen seinen Falten kennt, ist ihm schmeicheln wollen der größte Hohn. Das ist es ja, was die Menschen vor allem reizt, solche, welche Freundschaft heucheln, zu hassen, weil darin ein Hohn, ein Spott liegt. Thomas Goodwin † 1679.
  Sie schienen Gott zu huldigen, und doch galt es alles ihnen selbst: sie wollten den Himmel ihren fleischlichen Zwecken dienstbar machen. Sie gaben Gott gute Worte, um ihre Haut zu schützen. Man kann einen Heuchler gut als einen frömmelnden Atheisten bezeichnen, als einen Gottesleugner, der die Maske der Religiosität trägt. Stephen Charnock † 1680.
  Das Herz ist das Metall der Glocke, die Zunge nur der Klöppel. Ist das Metall der Glocke gut, so wird auch der Ton gut sein; ist aber die Glocke gesprungen oder von Blei, so wird der Ton das einem geübten Ohr bald verraten. Gott kann uns auf der Zunge absehen, was für Krankheiten und Unreinigkeiten das Herz hat. George Swinnock † 1673.
  Gott tat nach ihrem Willen, indem er ihren Mund mit Speise, nicht ihr Herz mit seiner Gnade füllte; so vergalten sie ihm denn auch mit dem Munde, nicht mit dem Herzen. Sie waren lauter Mund und Zunge; Gott aber ist ganz Herz und Gemüt. Sie gaben gute Worte, Gott gibt Milch und vollkommene Liebe. Die Liebe dringt aber vielen Menschen gar nicht ins Innere; sie bleibt am Eingang stecken. Thomas Le Blanc † 1669.


V. 37. Die Rüge dieses Verses ist die eine immer wiederholte Klage, siehe V. 8.22. Es war keine Beständigkeit, keine Festigkeit in der durch die Not zustande gebrachten Änderung. Vergl. Hos. 6,4. J. J. Stewart Perowne 1864.


V. 36.38. Der Vers 36 ist nach der Zählung der Masora der mittelste der 2527 Vers des Psalters, der Vers 38 nach Kidduschim in 30a der mittelste der 5896 NyqwMp (sti/coi, Strophen) des Psalters. - Nach Maccoth 22b wurden Ps. 78,38 und vorher 5. Mose 28,58.59; 29,8 rezitiert, wenn dem Delinquenten die 40 Geißelhiebe weniger einen aufgezählt wurden, welche Paulus laut 2. Kor. 11,24 fünfmal erlitten hat. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 38. Wiewohl es der Biene Natur ist, Honig zu geben, sticht sie doch; aber sie sticht nur auf Veranlassung, wenn sie gereizt wird. Das gleiche bestätigt die Erfahrung von Gott. John Preston † 1628.
  Und erweckte nicht seinen ganzen Zorn. (Wörtl.) Wie ein zärtlicher Vater, wenn er ein widerspenstiges und unartiges Kind züchtigt, manchmal mit Strafen innehält, ehe noch das Kind um Gnade gebeten hat, und aus reiner Güte das Kind schont, so machte Gott es mit Israel. John Strickland 1645.
  Mäßigt er etwa deswegen seine Gerichte, weil sein Köcher keine Pfeile mehr hat oder sein Vorrat an Donnerkeilen erschöpft ist? Nein, er könnte einen Blitzstrahl nach dem andern auf die Menschheit loslassen; es wäre ihm ebenso leicht, eine unaufhörliche Folge von Donnern und Blitzen zu schaffen, wie den beständigen Kreislauf von Sonne und Sternen, und durch jenes die Erde so schrecklich zu machen, wie er sie durch dieses lieblich gemacht hat. Er öffnet nicht seinen ganzen Vorrat an Zorn; er sendet eine kleine Schar seiner Krieger aus, den Menschen kleine Gefechte zu liefern, und stellt ihnen nicht sein ganzes Heer gerüstet entgegen. Er sendet etliche Tropfen aus den Wolken, während diese, wenn sie sich ergössen, alles hinwegschwemmen könnten. Stephen Charnock † 1680.


V. 40. Wie oft erbitterten sie ihn in der Wüste! Wie oft machten sie ihm Schmerzen in der Einöde! Zehnmal hatten sie den HERRN versucht zur Zeit, da sie dem Josua und Kaleb, den treuen unter den übrigen untreuen Kundschaftern, widersprochen, wie es der HERR selbst gezählt 4. Mose 14,22; 1) bei dem Meer aus Furcht vor den Ägyptern, 2. Mose 14,11 f., 2) bei Mara, 2. Mose 15,23.24; 3) in der Wüste Sin, da sie nach dem Fleisch und Brot Ägyptens ungehalten waren und Gott vorgriffen, 2. Mose 16,2.4; 4) da sie Man übrigließen bis an den Morgen, welches doch Gott verbot, V. 20, 5) da sie wider Gottes Befehl am Morgen ausgegangen, Manna zu sammeln am siebenten Tage, und nichts gefunden, V. 27 f., 6) in Raphidim, da sie wegen Wassermangels gemurrt, 2. Mose 17,1-3; 7) bei Horeb, wo sie ein gülden Kalb gemacht, 2. Mose 32,22; 8) in Tabeera, da sie aus Verdrossenheit des Weges gemurrt, 4. Mose 11,1; 9) bei den Lustgräbern, 4. Mose 11,4.34; 10) in Paran, wo sie nicht mehr wollten ins Land Kanaan eingehen, weil sie durch ihre Kundschafter verzagt gemacht worden, 4. Mose 14,1 f. Nach dieser Zeit versündigten sie ich siebenmal: 1) da sie den Mund des HERRN vorbeigegangen und da Mose gesagt: "Ziehet nicht hinauf" und sie sich doch vermaßen, hinaufzuziehen, und von den Amalekitern und Kanaanitern geschlagen wurden, 4. Mose 14,44 f., 2) in der Rebellion Korah, Dathan und Abiram, 4. Mose 16,1.2; 3) bei dem Murren über den Tod Korah und seiner Rotte, V. 41; 4) bei Meriba, da sie wegen Mangel des Wassers sich erbittert, 4. Mose 20,2 f., 5) da sie nach dem Sieg über die Kanaaniter von Hor am Gebirge auf dem Wege vom Schilfmeer hinzogen, dass sie um der Edomiter Land reiseten und auf dem Weg verdrossen waren und Ekel am Manna hatten, da der HERR feurige Schlangen unter sie gesandt, 4. Mose 21,4 f., 6) bei Schittim, da sie Hurerei mit den Töchtern Moabs getrieben, 4. Mose 25,1; 7) an eben dem Ort, da sie sich an den Baal Peor Verkuppelten und allda Götzenopfer gegessen, 4. Mose 25,2 f. Magister Friedrich Christoph Oetinger 1775.
  Wie oft. Gott hielt darüber Buch, wie oft sie ihn erzürnten, wiewohl sie es vergaßen. Vergl. 4. Mose 4,22. Matthew Henry † 1714.


V. 42. Sie gedachten nicht an seine Hand. Gott mag es nicht leiden, dass wir seine Segnungen vergessen. Erstens, weil er befohlen hat, wir sollten sie nicht vergessen, 5. Mose 4,9; 8,14. Zweitens, weil Vergesslichkeit ein Zeichen von Geringschätzung ist. Drittens ist sie das eigentümliche Kennzeichen besonderer Unachtsamkeit. Viertens entspringt sie dem Unglauben. Fünftens ist sie das am meisten hervortretende Merkmal der Undankbarkeit. Thomas Le Blanc † 1669.
  Der Punkt, an welchem der Glaube sich in der Zeit der Anfechtung wieder sammelt, ist die erste Erweisung der Gnade. Dem Israeliten war die Erinnerung an die Errettung aus Ägypten der Prüfstein des Glaubens. Gleicherweise ist jetzt das Kreuz auf Golgatha das, was dem angefochtenen Gläubigen den Ausweg aus dem nebligen Dunkel zeigt, in welches unser Gewissen einzuhüllen dem Satan manchmal gestattet wird, wenn wir den Herrn nicht achtsam vor Augen gehabt haben. Weil Israel diese erste Errettung vergaß, ging es mürrisch auf dem Weg der Sünde. Weil der Christ manchmal in seinen geistlichen Kämpfen das Kreuz übersieht, ist er unfähig, den Feind zu besiegen, und bleibt unfruchtbar und unglücklich, bis er durch ein besonderes Eingreifen des himmlischen Seelsorgers wieder im Geiste zu dem Ort geführt wird, wo Gott ihm zum ersten Mal begegnet war. Arthur Pridham 1869.
  Gegessenes Brot ist bald vergessen. Nihil citius senescit quam gratia: Nichts wird so schnell alt wie eine Wohltat. John Trapp † 1669.


V. 43-51. Mose wirkte Zerstörungswunder, Christus Wunder der Erhaltung. Mose wandelte Wasser in Blut, Christus Wasser in Wein. Jener brachte Stechfliegen und Frösche und Heuschrecken hervor, die die Früchte der Erde beschädigten und die Menschen quälten; Christus vermehrte ein Weniges von den Früchten und Erzeugnissen der Erde, fünf Brote und zwei Fische, indem er sie segnete, so dass er damit fünftausend Mann speiste. Mose schlug beide, Menschen und Vieh, mit Hagel und Donner und Blitzen, dass sie starben; Christus machte Tote lebendig und rettete Kranke und Sieche vom Sterben. Mose war ein Werkzeug in der Hand Gottes, allerlei Zorngerichte und Unglücksengel über die Menschen zu bringen; Christus trieb Teufel aus und tat wohl auf allerlei Weise, indem er Blinde sehen, Lahme gehen, Taube hören, Stumme reden machte, Aussätzige von ihrem Aussatz reinigte und das tobende Meer stillte. Mose schlug die Erstgeburt Ägyptens, dass sich darob in ganz Ägyptenland ein schreckliches Geschrei erhob; Christus rettet alle die Erstgeborenen, oder vielmehr er macht sie dadurch, dass er sie rettet, zu Erstgeborenen, denn so werden sie Hebr. 12,23 genannt. John Mayer 1653.


V. 44. Da er ihr Wasser in Blut wandelte. Das bewies auch die Torheit der Anbetung der Kreatur. Pharao betete die lebenserhaltende Kraft der Natur an, wie sie in dem majestätischen Strom mit dem köstlichen Wasser verkörpert war. Der Gott aber der Natur verwandelte den befruchtenden Nil vor ihren Augen in einen Strom des Todes. James G. Murphy 1863.
  Die Ägypter, zumal ihre Priester, waren in ihren Gewohnheiten und Sitten überaus genau und eigen, und nichts verabscheuten sie mehr als Blut. Sie ließen nur selten blutige Opfer zu, und mit einem noch so geringen Flecken von Blut würden sie sich für aufs tiefste verunreinigt gehalten haben. Ihr Streben nach Reinheit war so groß, dass sie nicht ertragen mochten, mit einem Ausländer in Berührung zu kommen oder auch nur seine Kleider anzufassen; einen Leichnam aber anzurühren war ihnen ein Gräuel und erforderte augenblickliche Sühnung. Aus diesen Gründen nahmen die Priester fortwährend Waschungen vor. Vier Zeiten waren festgesetzt, zwei bei Tage und ebenso viele in der Nacht, zu welchen sie sich alle baden mussten. Mancherlei Zufälle gaben aber Anlass, es weit öfter zu tun. Daher muss sich ihnen dies Übel, als sich alles Wasser in Blut verwandelte, sehr peinlich fühlbar gemacht haben. Jakob Bryant † 1804.
  Die Verwandlung des Nilwassers in Blut musste umso empfindlicher sein, als dasselbe von so trefflichem Geschmack ist, dass es Fremden fast ein künstlich bereitetes Getränk scheint. Ein ägyptisches Sprichwort nennt es süß wie Honig und Zucker, und ein anderes sagt: "Wenn Mohammed davon getrunken hätte, würde er Gott um Unsterblichkeit gebeten haben, um sich immer daran erlaben zu können." Zudem ist das Nilwasser das einzige trinkbare Wasser in Ägypten; denn das Wasser der Brunnen und Zisternen ist dort, wie Maillet bemerkt, ekelhaft und ungesund. Regenwasser aber kommt gar nicht in Frage, da in Ägypten ja überhaupt fast kein Regen fällt. M. M. Kalisch 1867.


V. 45. Und Frösche. Galerius bemerkt, dass die Ägypter bei dieser Plage an allen fünf Sinnen gestraft worden seien. Das Auge ward angewidert von der Menge, der ekelhaften Gestalt und Farbe dieser Frösche. Ihr Gehör ward durch ihr Quaken gequält; denn das war raue Musik für verwöhnte Ohren. Der Geruchssinn ward beleidigt durch ihren Gestank, und der Geschmackssinn dadurch, dass die Frösche in die Backtröge kamen und ihnen so die Speise verdarben. Josias Shute 1645.


V. 46. Heuschrecken. Wie zahlreich diese auftreten, ist unglaublich für alle, die es nicht mit eigenen Augen gesehen haben; die ganze Erde wird meilenweit von ihnen bedeckt. Der Lärm, den sie verführen, wenn sie die Bäume und das Kraut abfressen, ist in großer Entfernung zu hören und gleicht dem Lärm einer plündernd umherschweifenden Armee. Selbst die Tataren kommen diesen kleinen Tieren an Zerstörungswut nicht gleich. Man könnte denken, Feuer wäre ihren Zügen gefolgt. Wo immer diese Zehntausend sich niederlassen, da verschwindet alles Grün des Landes; Bäume und Sträucher strecken ihre nackten Zweige in die Luft und lassen denken, der traurige Winter sei in einem Nu an die Stelle des reichen Frühlings getreten. Wenn diese Heuschreckenwolken sich erheben, um irgendein Hindernis zu überfliegen oder über einen Wüstenstrich schneller hinwegzukommen, wird der Himmel buchstäblich von ihnen verdunkelt. Constant. F. C. Comte de Volney † 1820.


V. 47. Weinstöcke. Noch immer wird von vielen Auslegern (zuletzt noch von Hupfeld und Hitzig) ganz irrig bemerkt, dass die Rebe nicht nach ägyptischem, sondern nach kanaanitischem Gesichtspunkt vor anderen Naturprodukten genannt werde; ja, dass Ägypten nur wenig Weinbau gehabt habe, weil man keinen Wein habe trinken dürfen (de Wette). Der Wein steht gerade in Ägypten unter den der Gottheit dargebrachten Flüssigkeiten in erster Reihe (Ebers). Es werden verschiedene Sorten unterschieden. Die Tempelinschriften zu Dendera zeigen, dass der Hathor, der Göttin der Lust und der Liebe, der "Herrin des Rausches", ein Fest, die "Volltrinkefeier", gefeiert wurde. Dass der Wen als ein Bedürfnis selbst des gemeinen Mannes betrachtet wurde, geht aus einer Randbemerkung hervor, welche ein Beamter Ramses’ II. im 52. Jahr seiner Regierung auf die Rückseite eines Papyros schrieb und welche die von ihm an die Arbeiter verteilten Rationen von Brot und Wein enthält (Ebers). General-Sup. K. B. Moll † 1878.
  Maulbeerfeigenbäume. Dieser Baum ähnelt dem Maulbeerbaum in den Blättern, dem Feigenbaum in den Früchten; von seinem Ertrage lebten die niedrigeren Volksschichten Ägyptens hauptsächlich. Der Psalmdichter erwähnt nur eine Art Fruchtbäume, meint aber damit offenbar alle. W. K. Clay 1839.


V. 49. Eine Aussendung von Unglücksengeln. (Wörtl.) Übel kommen ungerufen, wiewohl nicht ungesandt. Engel sind Boten; sie sind geschickt. Nicht nur unlebendige Dinge, auch lebendige Wesen, seien es Tiere oder Menschen oder Teufel, können ohne Gottes Befehl oder Zulassung keinerlei Schaden tun. Wie kam die dreitägige Finsternis über Ägypten? "Er ließ Finsternis kommen," sagt der Psalmist (105,28). So sagt Mose auch von dem Hagel, Donner und Blitz, der HERR habe sie gesandt. Die Frösche, die Läuse, die Heuschrecken, die Ägypten verheerten, und die Löwen, die die Götzendiener in Samarien töteten (2. Könige 17), von ihnen allen sagt die Schrift: Gott sandte sie. Und was Menschen betrifft: "Meinst du," sagt der Erzschenk im Namen des Königs von Assyrien (Jes. 36,10), "dass ich ohne den HERRN bin heraufgezogen in dies Land, dasselbige zu verderben? Ja, der HERR sprach zu mir: Zieh hinauf." Der Lügengeist in der falschen Propheten Munde war begierig, Ahab zu verführen; aber der HERR musste erst sagen: "Gehe aus und tu also!" (1. Könige 22,21 f.) Richard Clerke † 1634.


V. 52. Und ließ sein Volk ausziehen wie Schafe. In diesen Worten liegt nicht eine Beschreibung des Charakters der Israeliten, sondern eine Lobpreisung der Vorsehung und Güte Gottes. Wolfgang Musculus † 1563.


V. 53. Dass sie sich nicht fürchteten: erstens bei ihrem Ausziehen aus Ägyptenland. Sie sahen die Ägypter erschlagen, wider sie aber muckte nicht ein Hund (2. Mose 11,7). Sie waren alle bei guter Gesundheit. Sie gingen aus, beladen mit Schätzen, die sie von den Ägyptern zur Beute genommen hatten. Sie zogen aus in großer Zahl, wohlgeordnet und gerüstet. Zweitens fürchteten sie sich nicht, ins Rote Meer hineinzugehen; denn die durch das Herannahen Pharaos erregte Furcht ward schnell beschwichtigt. Drittens hatten sie keinen Grund zur Furcht auf der Wüstenwanderung, weil der HERR vor ihnen herging in der Wolken- und Feuersäule. Viertens brauchten sie sich nicht zu fürchten, auch wenn Feinde sie angriffen. Thomas Le Blanc † 1669.


V. 57. Und wandten sich wie ein falscher Bogen. (Wörtl.) Die im Morgenland gebräuchlichen Bogen, die in der Ruhe solche Form ... haben, müssen ganz umgebogen werden ..., sollen sie gespannt werden. Wenn jemand, der es nicht versteht oder zu schwach ist, einen solchen Bogen zu biegen versucht, so springt der Bogen leicht in die ruhende Lage zurück und bricht dem ungeschickten Schützen wohl gar den Arm. Ich habe es auch wohl zu meiner nicht geringen Gefahr erlebt, dass der Bogen mir seitwärts entschlüpfte und so in seine ursprüngliche Lage zurückkehrte; in ein oder zwei Fällen ward ich dabei verletzt. Manchmal liegt es auch am Bogen: ist er nicht gut gemacht, so fliegt er beim Abschießen des Pfeiles zurück. Von dem Bogen Jonathans heißt es, er sei nicht zurückgewichen (2. Samuel 1,22); das war ein guter Bogen, auf den man sich verlassen konnte. Hos. 7,16 werden die treulosen Israeliten einem falschen Bogen verglichen, d. i. einem solchen, der, wenn er gespannt wird, plötzlich seitwärts springt und wieder seine frühere Lage einnimmt. Das Bild ist sehr zutreffend: wenn sie durch Gottes mächtige Heimsuchungen aus ihrer natürlichen Richtung gebracht waren, fielen sie schnell wieder in ihr altes Wesen zurück. Die gleiche Form, wie vorhin beschrieben, hatte ohne Zweifel auch der krumme Bogen des Odysseus (21. Gesang der Odyssee). Adam Clarke † 1832.


V. 59. Der Psalmdichter stellt es dar, als sei das Geräusch der bösen Taten des Volks zu den Ohren des Ewigen aufgestiegen. Armand de Mestral 1856.


V. 60. Es ist ein heidnischer Wahn, zu denken, dass Gott an irgendeinen Ort gebunden sei. So meinten die Trojaner, ihre Stadt könne nicht eingenommen werden, weil sie den Tempel der Pallas darin hatten; und in der gegenwärtigen Zeit ist es die Weise der Päpstlichen, Christus an Rom und den Stuhl Petri zu binden und daraufhin kühn zu behaupten: "Ich werde nimmermehr wanken" (Ps. 10,6). Denn, sagen sie, das Schiff St. Petri mag ein wenig sinken, aber versinken nimmermehr. Das einzige, was daran auszusetzen ist, ist nur, dass sie gar nicht das Schiff St. Petri sind, sondern viel eher einem Ostindienfahrer gleichen, beladen mit indischen Affen und ähnlichen fremden Waren, Perlen, Purpur, Seide, Erz, Silber, Gold, Weihrauch, damit sie weiter Simonie (Handel mit geistlichen Ämtern) treiben und aus der Frömmigkeit einen Handel machen und die ganze Welt verführen können. (Off. 18,11-24.) Prof. Johann Andreas Cramer † 1788.


V. 61. Er nennt die Bundeslade die Macht Gottes, nicht etwa dass die Kraft Gottes darin eingeschlossen gewesen wäre oder so daran gebunden, dass der HERR sich nicht anders als durch sie hätte mächtig und stark erweisen können, sondern weil seine Gegenwart, deren Sinnbild die Bundeslade war, ihre Kraft und Macht stets an Israel erwiesen hatte in der beständigen Schirmung und in vielen Errettungen des Volkes. Nach der gleichen Weise nennt er sie die Herrlichkeit Gottes, weil Gott seine Herrlichkeit durch seine persönliche Gegenwart unter dem Volke geoffenbart hatte und wünschte, dass dieselbe vermittelst dieses äußerlichen Sinnbildes allgemein wahrnehmbar sei. H. Moller 1639.


V. 64. Und ihre Witwen hielten keine Totenklage. (Grundtext) Das zeigt den Umfang der Verheerung und ist für jemand, der während einer Seuche oder einer andern schweren Not in einer orientalischen Stadt gewesen ist, ergreifend verständlich. In solchen Zeiten ist das Klagegeschrei, das unter gewöhnlichen Umständen stets auf einen Todesfall folgt, zuerst laut und häufig; aber das Lärmen nimmt mit der Zunahme des Unglücks und der Verwüstung nicht zu, sondern wird schwächer und verstummt allmählich. Der Tod wird in jedem Hause ein bekanntes Ereignis, und jedermann hat, ganz von seinen eigenen schweren Verlusten hingenommen, wenig Mitleid für andere übrig. So finden denn schließlich auch die lautesten Wehklagen nicht mehr Beachtung und ziehen keine Beileid bezeugenden Freunde mehr in das Trauerhaus, und aus diesem Grunde wie wegen der Abstumpfung des Gefühls, welche andauernde Schreckensszenen stets erzeugen, wird ein neuer Todesfall schweigend oder nur mit Seufzern und stillen Tränen hingenommen. All die gewöhnlichen Gebräuche treten tatsächlich außer Übung. Die Leichen werden ohne Trauerzeremonien und ohne die Begleitung der überlebenden Freunde von Männern, die sich ein Gewerbe daraus machen, die Toten wegzuschaffen, auf dem Rücken von Maultieren oder Eseln aus den Häusern, die sie in Vereinsamung lassen, hinausgetragen und beerdigt. Wir haben das mit eignen Augen gesehen. John Kitto † 1854.


V. 65. Wie ein Starker jauchzet, dessen Geist feurig geworden und dessen Mut entflammt worden ist durch einen reichlichen Trunk edlen Weines. Diese Begleichung tritt der göttlichen Majestät ebensowenig zu nahe wie diejenige mit dem nächtlichen Kommen eines Diebes, womit die zweite Zukunft Christi 1. Thess. 5,2 verglichen wird. Mt. Polus † 1679.


V. 70. Und nahm ihn von den Schafställen. Die Kunst, die Herden zu weiden, und die Kunst, Menschen zu regieren, sind Schwestern. Basilius der Große † 379.


V. 71. Von den säugenden Schafen holte er ihn. Man hat wohl erzählt, ein hochgelehrter Oxforder Professor habe seine Lederhosen in seiner Studierstube aufgehängt, um seine Besucher dadurch an seine niedrige Herkunft zu erinnern. Ich verbürge die Wahrheit dieser Anekdote nicht; aber die Geschichte berichtet uns in der Tat von Agathokles, der vom Töpfer zum König von Sizilien emporstieg und sich bei Tisch nur aus irdenen Schüsseln bedienen ließ, um seiner früheren niedrigen Beschäftigung nicht zu vergessen. Es wäre gut, wenn manche sich erinnern wollten, wes Schuhe sie geputzt, wes Kohlen sie geschleppt und wessen Geld sie geliehen haben, und darum auch gegen ihre Schuldner barmherzig handeln würden wie der edle Cromwell. Da hat’s der heilige David anders gehalten, der in seiner königlichen Würde daran erinnert, dass er einst die säugenden Schafe gehütet hat, dahingegen er jetzt die Schafe Israels weidet. Sein güldenes Zepter weist auf seinen Krummstab, er spielt die alten Melodien, die er einst seinem Haberrohr entlockt hatte, auf der kostbaren Sandelholzharfe, die er jetzt besitzt, und spannt gleichsam sein bethlehemitisches Zelt mitten in seinem Marmorpalast auf Zion auf. Samuel Lee † 1691.
  Dass er sein Volk Jakob weiden sollte. Beachte: ein guter Hirte muss demütig und treu sein; er sollte Brot im Knappsack haben, einen Hund an einem Strick, einen Hirtenstab mit einer Gerte und ein gutes, wohltönendes Horn. Das Brot ist das Wort Gottes, der Ränzel das Gedächtnis des Wortes. Der Hund ist der Eifer, von welchem der Hirte glüht für das Haus Gottes, und durch welchen er die Wölfe mit frommem Gebell, d. h. mit Predigen und unermüdlichem Gebet, forttreibt; der Strick, an welchem der Hund gehalten wird, ist die Mäßigung des Eifers und die Vorsicht, mittelst derer der Eifer durch den Geist der Frömmigkeit und Erkenntnis gemildert wird. Der Stab ist die Tröstung durch gottselige Ermahnung, mit der die allzu Zaghaften ermutigt und unterstützt werden, damit sie nicht in der Zeit der Anfechtung erliegen; die Rute aber ist die Macht und Autorität, mit der die Widerspenstigen im Zaum gehalten werden. Das Horn, das so lieblich klingt, zeigt die Lieblichkeit der ewigen Glückseligkeit an, welche der treue Hirt seiner Herde oft in herzgewinnender Weise zu Ohren bringt.19 Joannes Paulus Palanterius 1600.


Homiletische Winke

V. 1. Die Pflicht, auf Gottes Wort zu hören. Wie kann man auf allerlei Weise diese Pflicht vernachlässigen und wie erfüllt man sie? Gründe für den Gehorsam und Nachteile der Unachtsamkeit.
V. 2a. in Verbindung mit dem ganzen Psalm: Das Gleichnis vom verlorenen Volk. (Anspielung auf Lk. 15.)
V. 2.3. 1) Wahrheiten sind darum nicht minder wert, weil sie alt sind: "alte Geschichten." "Altes Holz," sagt Baco von Verulam († 1626), "brennt sich am besten; alte Bücher zu lesen lohnt sich am meisten; alten Freunden traut man am sichersten." 2) Wahrheiten sind darum nicht minder wert, wenn sie unter Gleichnissen verborgen werden: "Ich will meinen Mund auftun zu Gleichnisrede, will Rätsel vortragen. " a) Sie regen so zu tieferem Nachdenken an und werden b) dadurch unter Umständen besser bekannt. 3) Wahrheiten sind darum nicht minder wert, dass sie oft wiederholt werden. a) Sie werden desto mehr erprobt, und b) desto besser beglaubigt. George Rogers 1871.
V. 3. Der Zusammenhang zwischen dem, was wir von religiösen Dingen gehört haben, und dem, was wir von solchen aus persönlicher Erkenntnis und Erfahrung wissen.
V. 4. Das wollen wir usw. (Grundtext) Ein heilsamer Entschluss mit gesegnetem Erfolg. Charles A. Davis 1872.
  1) Was soll kundgemacht werden? Der Ruhm (die ruhmwürdigen Taten) des HERRN, seine Macht und Wunder. 2) Wem sollen diese kundgemacht werden? Denen, die hernach kommen. 3) Durch wen? Durch die Eltern - jedes Geschlecht soll die Kunde dem folgenden überliefern. 4) Wie? So, dass nichts davon verhalten, sondern alles, was der HERR getan hat, kundgetan wird. George Rogers 1871.
V. 5. Schriftgemäße Überlieferung, oder das Evangelium als Familienerbstück.
V. 5-8. 1) Der Väter Erkenntnisschatz das Erbe der Kinder, V. 5.6. 2) Der Väter Abfall die Bewahrung der Kinder, V. 7.8. Charles A. Davis 1872.
V. 6. Fürsorge für das aufkommende Geschlecht und die späteren Nachkommen.
V. 7. Praktische Philosophie. 1) Handle weislich in der Wahl dessen, worauf du deine Hoffnung setzest. 2) Fülle reichlich dein Gedächtnis mit dem Besten, das es gibt. 3) So wirst du dein Leben in den Bahnen des Gehorsams führen.
V. 7.8. Wie sich das Menschenherz darin so trüglich erweist, dass es Gottes Gnadentaten gemeiniglich vergisst.
V. 8. Widerspenstigkeit nicht Festigkeit, oder der Unterschied zwischen einem uns von Natur anhaftenden Fehler (dem Eigensinn) und einer durch die Gnade in uns zu wirkenden Tugend (der Festigkeit).
  Das böse Herz mit seiner Eigensinnigkeit im Bösen zur Rechten und seiner Wankelmütigkeit im Guten zur Linken.
V. 9. Wer waren sie? Was hatten sie? Was taten sie? Wann taten sie es?
V. 9.67. Der Abfall hervorragender Gläubigen. 1) Die Krieger des HERRN - wer sie waren: sie gehörten zu Gottes auserwähltem Volke und waren durch Gottes freie Gnade besonders bevorzugt (1. Mose 48, 17-20), waren stark in Kraft göttlichen Segens (5. Mose 33,17), hatten einen Ehrenplatz unter ihren Brüdern und waren mit der Stiftshütte zu Silo beehrt (V. 60). 2) Ihre Ausrüstung bestand in Schutz- und Trutzwaffen, sie kam derjenigen anderer gleich, welche Siege errangen. 3) Ihr Verhalten im Kampfe: dass sie umkehrten, war verräterisch, feig, gefährlich, verhängnisvoll und entehrend. 4) Ihre Strafe: V. 67. Sie gingen ihres besonderen Vorzugs verlustig. (Off. 3,11.) Charles A. Davis 1872.
V. 10.11. Stufen der Sünde: Gott wird vernachlässigt, verworfen, vergessen. Charles A. Davis 1872.
V. 12-16. Gott geoffenbart in seinen Taten als Wundertäter V. 12-16, als Rächer V. 12, als Helfer V. 13, als Führer V. 14, als Vater V. 14-16. Charles A. Davis 1872.
V. 12-17. Die Eigensinnigkeit des Unglaubens. Der Unglaube setzt seinen Kopf auf gegen Gottes Majestät V. 17, gegen das gnadenreiche Walten seiner Vorsehung V. 14-16, gegen seine helfend eingreifende Fürsorge V. 13, gegen seine strafende Gerechtigkeit V. 12, gegen seine aussondernde Gnade V. 12-16. Charles A. Davis 1872.
  Wunder können das Herz nicht bekehren. Lk. 16,31. Charles A. Davis 1872.
V. 14. Wie Gott seine Offenbarungsweisen unseren wechselnden Bedürfnissen anpasst - ein ausgezeichnetes Predigtthema. Charles A. Davis 1872.
  1) Leitung. 2) Beschützung. 3) Erquickung. R. P. Buddicome † 1846.
  Der HERR führt die Seinen so, dass er für sie 1) im Sonnenlicht des Glückes kühlender und beruhigender Schatten, 2) in der Nacht des Unglücks erquickendes und wärmendes Licht ist.
V. 15.16. Was Gott den Seinen zur Stillung ihrer Bedürfnisse darreicht, ist zeitgemäß, reichlich, vorzüglich und wunderbar.
V. 16. Bäche aus dem Felsen Christus. 1) Ihre Quelle. 2) Ihre Mannigfaltigkeit. 3) Ihre Fülle. Benjamin Davies 1872.
V. 17. Die Sünde stärkt sich an Gottes Gnadenerweisungen, um desto schneller fortzuschreiten, wie sie auch die jeweiligen Umstände ihren Zwecken dienstbar macht.
V. 17-21. Sie stellten 1) Gottes Geduld V. 17, 2) Gottes Weisheit V. 18, 3) Gottes Macht V. 19 f. und 4) Gottes Zorn V. 21 auf die Probe. Edwin Gorsuch Gange 1872.
V. 18. Speise für ihr Gelüsten. (Bessere Übersetzung.) Wie können irdische Gaben als Nahrung für die böse Lust begehrt und erlangt werden?
V. 18-21. Der Fortschritt im Bösen. (Vergl. Jak. 1,14 f.) 1) Man wird von der eignen Lust gezogen und gelockt, V. 18. 2) Danach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde, V. 19 f. 3) Die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod, V. 21. Ihre Leiber fielen in der Wüste. Charles A. Davis 1872.
V. 19. Der Unglaube eine Lästerung Gottes.
V. 21.22. Böse Folgen des Unglaubens. 1) Die Sünde selbst: sie bezweifelten die Gewissheit, Vollkommenheit und Wirklichkeit der Errettung aus Ägypten. 2) Was die Sünde erschwerte: dass sie gegen Gott gerichtet war und dass diejenigen, welche diese Sünde hegten, Gottes Volk waren. 3) Wozu der Unglaube führte: zu innerer Versündigung V. 18, zu äußerer Versündigung V. 19 usw. 4) Was der Unglaube über sie brachte: V. 21. Feurige Schlangen usw. Charles A. Davis 1872.
V. 22. Der Unglaube der Vater vieler Nöte.
V. 25. Mancherlei Speise: Speise für das Vieh (Lk. 15,16); Speise der Sünder (Hos. 4,8: Von der Sünde meines Volks nähren sie sich, und nach seiner Verschuldung steht ihr Verlangen; vergl. Ps. 14,4); Speise der Heuchler (Hos. 12,2); Speise der Heiligen (Jer. 15, 16; Joh. 6, 53-57); Speise der Engel (hier); Speise Christi (Joh. 4,34). Charles A. Davis 1872.
V. 29-31. Gefährliche Bitten. Wenn die böse Lust dir die Wünsche eingibt, mag Gottes Zorn dir antworten. Lass die Gnade deine Wünsche bestimmen, so wird die Barmherzigkeit antworten. Charles A. Davis 1872.
V. 34-37. Des Heuchlers Füße, V. 34. Sein Gedächtnis, V. 35. Seine Zunge, V. 36. Sein Herz, V. 37. Oder: Des Heuchlers Mantel und sein Herz. Charles A. Davis 1872.
V. 36. Heuchelei gegen Gott eine 1) sehr verbreitete, 2) abscheuliche, 3) gefährliche Sünde. Benjamin Davies 1872.
V. 38.50. Wie erweist sich der Zorn Gottes an Gottes Volk und wie an Gottes Feinden? Charles A. Davis 1872.
V. 39.35. Wie Gott der Seinen gedenkt und wie diese Gottes gedenken.
V. 42. Ein denkwürdiger Tag. Israel gedenke 1) der Begegnung mit dem Feinde, 2) des Kampfes, 3) der Rettung, 4) der Freude. Benjamin Davies 1872.
V. 45. Welche Macht kleine Dinge ausüben können, wenn sie uns zur Strafe bestimmt sind.
V. 52. 1) Gott hat ein Volk in der Welt. 2) Er scheidet diese seine Auserwählten von anderen Menschen. 3) Er bringt sie in Gemeinschaft mit ihm selber. 4) Er bringt sie in Gemeinschaft miteinander. 5) Er leitet sie zu ihrer Ruhe.
V. 55. Göttliche Austreibungen. Er vertreibt die gefallenen Engel aus dem Himmel, ein Volk der Erde durch das andere (siehe die ganze Weltgeschichte), die Gedanken und Neigungen des Herzens bei der Wiedergeburt usw. Jes. 55,13. Charles A. Davis 1872.
V. 56.57. Die Trüglichkeit des Herzens im Erfüllen der Pflichten und in dem Vernachlässigen derselben.
V. 59-72. 1) Ein düsterer Sonnenuntergang, V. 59. 2) Eine Unglücksnacht, V. 60-64. 3) Ein herrlicher Sonnenaufgang, V. 65-72. Charles A. Davis 1872.
V. 69. Der Baumeister der Kirche. Die Heiligkeit, Erhabenheit, Größe (die Erde umfassend, Mk. 11,17) und Festigkeit des Bauwerks. Charles A. Davis 1872.
V. 70.71. 1) Davids Berufung. Es bieten sich zwei Fragen dar: a) Wie war Davids Hirtenleben eine ihm selbst unbewusste Vorbereitung auf seinen königlichen Beruf? b) Wie rüstete ihn die göttliche Berufung, als sie an ihn erging, zu seiner erhabenen Bestimmung aus? Beachte: Er ward zu den Schafen zurückgesandt. Nichts konnte ihn besser schulen als dieses Warten. Zwei wichtige Überzeugungen erwachten da in ihm, die ihm zu Quellen der Kraft wurden: a) der Glaube an einen göttlichen Führer (siehe Ps. 23); b) der Glaube an seine göttliche Erwählung. 2) Was lehrt uns diese Berufung Davids? a) Es ist in jedem Menschenleben ein göttlicher Plan. b) Es ergeht an jeden Menschen ein göttlicher Ruf. c) Gott will über jedem Menschen als Hirte wachen. E. L. Hull 1863.
V. 70-72. Geistliche Beförderungen. 1) Es sind oft Ähnlichkeiten zwischen dem niederen und dem höheren Dienst vorhanden, V. 71. 2) Geringere Aufgaben sind eine Vorbereitung für die höheren, V. 71 f. 3) Die Beförderung ist eine Tat des göttlichen Willens, V. 70 f. 4) Unsere Kräfte werden der Stellung angemessen sein, zu welcher Gott uns befördert. Charles A. Davis 1872.

Fußnoten

1. Vergl. übrigens die Anmerk. zu Ps. 32

2. Wir verbinden V. 3 mit V. 4

3. Phil. Doddridge, † 1751, ein hochgeschätzter engl. Prediger und theol. Lehrer, auch den Deutschen nicht unbekannt durch die Übersetzung seines im Englischen sehr verbreiteten Buches über den Anfang und Fortgang des geistlichen Lebens.

4. Das Gefilde Zoans ist das Gebiet jener berühmten alten Stadt (Tanis), die nach den Forschungen von Brugsch und Ebers mit Ramses (4. Mose 33,3) einerlei ist und sowohl Ramses II., dem Pharao der Bedrückung, als seinem Sohne Menephta, dem Pharao des Auszugs, wenigstens zeitenweise als Residenz gedient hat. Zoan war auch eine Hauptstadt des Landes Gosen und der Anfangspunkt des Auszuges der Kinder Israel.

5. Davon berichtet freilich die Geschichte nichts. Will Spurgeon so etwa einen Kern aus der späteren rabbinischen Dichtung herausschälen, dass der Fels sich dem Zuge Israels nach gewälzt habe. 1. Kor. 10,4 hat jedenfalls mit dieser rabbinischen Sage nichts zu tun; denn nicht von dem natürlichen, sondern von dem geistlichen Felsen (Christus) wird dort das Mitfolgen ausgesagt.

6. Spurgeon verwickelt sich hier, wie V. 20 beweist, in Widerspruch mit dem Psalm, weil er sich in allzu großer geschichtlicher Ängstlichkeit auf die chronologische Ordnung der hier in dichterischer Freiheit behandelten Begebenheiten versteift. Der Psalmist fasst augenscheinlich in V. 15 f. die beiden Wasserspendungen zu Raphidim (2. Mose 17) und zu Kadesch (4. Mose 20) und ebenso darauf in V. 18 ff. die beiden Gott versuchenden Forderungen nach Speise (2. Mose 16 und 4. Mose 11) zusammen, wiewohl die erstere derselben, auf welche die Speisung mit dem Manna erfolgte (2. Mose 16), der ersten Wasserspendung (2. Mose 17) zeitlich vorausging. Man vergl. auch, wie frei der Dichter nachher die ägyptischen Plagen behandelt.

7. Andere übersetzen: "Ein Geschenk ist das." Dazu stimmt, dass das natürliche Tamarisken-Manna bei den Arabern noch heute mann-es-semâ, Himmelsgeschenk, heißt. Der Ägyptologe Ebers führt den hebr. Namen auf das ägyptische mennu, Pflanzensaft, zurück; aber wenn diese Vermutung auch richtig sein sollte, ist das hebraisierte Wort doch davon unabhängig zu deuten. Es ist ja eine nicht vereinzelte Erscheinung, dass fremde Namen, in ähnlich lautende hebräische Form übergeführt, in dem israelitischen Bewusstsein ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren und nach der Wurzel des hebräischen Wortes, in welches sie umgebildet sind, gedeutet werden. Man vergleiche z. B. V. 51 den altägyptischen Namen des Nillandes Ham (kemi, das schwarze Land), ferner Mose, Babel usw.

8. Häufig verteilt die hebräische Poesie rhythmisch auf beide Versglieder, was logisch zusammengehört. Davon liegt hier ein besonders auffälliges Beispiel vor. Der Wind, welcher die Wachteln herauftrieb, kam vom Meer herüber (4. Mose 11,31), d. i. vom Atlantischen Golf, war also ein Südostwind.

9. Grundtext: mitten in sein Lager, rings um seine Wohnung her. Das kann man auf Israel oder auf Gott beziehen.

10. Das "sie kehrten um" wird von den einen als selbständiger Begriff gefasst: "sie bekehrten sich und suchten Gott", von den andern als Umschreibung des Begriffs wiederum, wie sonst so häufig im Hebr., vergl. V. 41. übersetzen wir: ernstlich suchen; Luther und die engl. Bibel haben es nach den LXX als Denominativ. von, Morgenröte, gefasst: und kehreten sich frühe zu Gott.

11. Man nimmt in den englischen Wirtschaften meist "Standseidel".

12. haben manche Alte nach Hes. 9,4, wo es ein Zeichen machen bedeutet, hier erklärt: Gott Grenzen setzen, danach Luther: meistern, die englische Bibel: beschränken. Andere wie notare: beschimpfen. Vermutlich ist es nach dem Aramäischen zu erklären: betrüben, kränken. So die LXX und Luther 1524: reizen.

13. Die Aufzählung der Plagen beginnt hier mit der ersten und schließt V. 49-51 mit der letzten, der Tötung der Erstgeburt, greift aber zwischen diesen beiden folgende heraus: die vierte (Hundsfliegen), die zweite (Frösche), die achte (Heuschrecken) und die siebente (Hagel). Die freie Anordnung lässt die Plagen vom niederen unorganischen durch die Gewächse und das Vieh zu den Menschen aufsteigen.

14. Luther: Götzen. Das Wort des Grundtexts bezeichnet aus Holz oder Stein gehauene (dann auch gegossene) Bildnisse. Diese konnten Jehova darstellen sollen (wie z. B. das Schnitz- und Gussbild Richter 17,3 ff. oder das goldene Kalb 2. Mose 32) oder eigentliche Götzenbilder sein (z. B. Jes. 44,9 ff.). Der Bilderdienst führt zum Götzendienst und ist im Grunde nichts anderes. Daher mag man hier mit Luther frischweg Götzen übersetzen, und es ist jedenfalls nicht ausschließlich an Bilderdienst zu denken.

15. Spurgeon versteht demnach unter Israel V. 59 das ganze Volk, nicht Israel im Gegensatz zu Juda. Die Ausleger sind darin geteilter Meinung.

16. Übersetzt man so mit den LXX, dann ist zu lesen. Will man das piel festhalten, so fasse man es in der Bedeutung, welche Jos. 18,1 das hiphil hat, also: Die Hütte, die er unter den Menschen aufgeschlagen hatte.

17. Siehe die Anmerkung zu Ps. 74,9.

18. Wiewohl es nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch am nächsten liegt, mit der revid. Lutherbibel zurückschlagen zu übersetzen, gibt es anderseits der Parallelismus an die Hand, zunächst an die 1. Samuel 5,6 ff. erzählte Bestrafung mit syphilitischen Geschwüren (breiten Kondylomen) zu denken und demnach in posteriora, hinten, zu deuten. So schon Targum, LXX, Vulg., auch Delitzsch, Hitzig, Moll u. a.

19. Dies ist ein interessantes Beispiel mittelalterlicher vergeistigender Auslegung und wird als solches hier aufgenommen. C. H. Spurgeon.