Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 145 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Dies Loblied ist einer der alphabetischen Psalmen, die mit viel Kunst zusammengesetzt und ohne Zweifel auch deshalb so geordnet sind, damit sie sich leichter dem Gedächtniss einprägen. Der Geist Gottes bedient sich auch dieser mehr künstlichen Dichtungsform, um die Aufmerksamkeit zu sichern und die seligen Wahrheiten dem Herzen einzuprägen.

Überschrift
Ein Lob Davids. Dieser Psalm enthält nichts als Lobpreis, und zwar Lobpreis im höchsten Ton. David hatte seinen Gott gar oftmals in anderen Psalmen gepriesen, aber diesen Psalm erachtete er, so will es uns nach der Überschrift dünken, als seinen besonderen Lieblings-Lobpsalm. Sicherlich war Davids Lob des HERRN von der besten Art, denn es war der Lobpreis eines Mannes von reicher Erfahrung, von ganzer Aufrichtigkeit, von ruhiger Überlegung und doch zugleich von glühender Liebe zum HERRN. Unser keiner vermag genau Davids Lob zu singen, das konnte nur er selber; wohl aber mögen wir uns Davids Lobgesang zum Muster nehmen und danach trachten, unsere eigene Anbetung des HERRN der seinen im innersten Wesen so ähnlich wie möglich zu machen. Es wird lange dauern, bis wir diesem Vorbild gleichkommen. Möge jeder christliche Leser sein besonderes, ihm eigenes und seiner Gabe und Führung entsprechendes Loblied dem HERRN darbringen und seinen Namen dazusetzen. Welch eine Fülle mannigfaltigen Lobpreises wird dann unserem Gott durch unseren Mittler Jesus Christus dargebracht werden!

Einteilung. Der Psalm hat keine eigentlichen Teile, sondern ist ein Ganzes. Doch mögen wir zur leichteren Übersicht einer alten, wenn auch etwas unvollkommenen Einteilung folgen, nach welcher David in diesem Psalm den HERRN preist für seine Erhabenheit (V. 1-7), für seine Güte (V. 8-10), für sein Königreich (V. 11-13), für seine Vorsehung (V. 14-16) und für seine errettende Gnade (V. 17-21).


Auslegung

1. Ich will dich erheben, mein Gott, du König,
und deinen Namen loben immer und ewiglich.
2. Ich will dich täglich loben
und deinen Namen rühmen immer und ewiglich.
3. Der HERR ist groß und sehr löblich,
und seine Größe ist unausforschlich.
4. Kindeskinder werden deine Werke preisen
und von deiner Gewalt sagen.
5. Ich will reden von deiner herrlichen schönen Pracht
und von deinen Wundern,
6. dass man soll sagen von deinen herrlichen Taten,
und dass man erzähle deine Herrlichkeit;
7. dass man preise deine große Güte
und deine Gerechtigkeit rühme.


1. Ich will dich erheben, mein Gott, du König. David als König von Gottes Gnaden huldigt Gott als seinem König. Es ist gut, wenn Gottes Königsherrlichkeit in uns die Gefühle der Treue weckt und uns bewegt, seine erhabene Majestät zu preisen. Der Psalmist hat oft zuvor seinen Gott erhoben, er tut es jetzt und wird es in Zukunft tun: alles sonst hat seine Zeit, das Lob Gottes aber schickt sich für alle Zeiten. Wenn wir zur gegenwärtigen Stunde nicht all das Lob Gottes, das in unserem Herz ist, aussagen können, so ist es weise, wenn wir unseren Entschluss festlegen, in dem köstlichen Werke fortzufahren, und es als Gelübde niederschreiben: "Ich will dich erheben, mein Gott." Siehe, wie der Psalmist seine Hingebung und Anhänglichkeit an Gott durch das Fürwort "mein" bezeugt, wie er seine Stellung als Untertan feierlich anerkennt durch den Titel "du König", und wie er fortfährt, seinen festen Entschluss kundzutun, dieses Königs Lob zu singen: Und deinen Namen loben (wörtl.: segnen) immer und ewiglich. David beschloss, dass sein Lob sich bis zum Segnen oder Lobpreisen des HERRN steigern, sich mit Anwendung der erleuchteten Vernunft dem Namen, d. i. dem geoffenbarten Wesen Gottes zu Ehren ergießen und ohne Ende fortgesetzt werden solle. Er braucht das Wort segnen nicht nur zur Abwechslung im Klang, sondern zugleich, dass der Sinn noch tiefer und köstlicher werde. Gott segnen oder lobpreisen heißt, ihn mit persönlicher Zuneigung des Herzens preisen, in einer ihm wohlwünschenden Gesinnung; dies köstliche Werk wird uns immer leichter, je mehr wir an Erfahrung und Gnade wachsen. David bezeugt, dass er dem HERRN Lob darbringen wolle durch alle Zeiten seines Daseins hindurch. "Für immer" hat kein Ende; wenn er aber dann noch hinzufügt: "und ewiglich", so schließt er vollends jeden Gedanken an einen Schluss aus. Unser Lob Gottes wird so ewig währen wie der Gott, den wir loben.

2. Ich will dich täglich loben (segnen). Wie immer der Tag oder meine Lage und Umstände an dem Tage beschaffen sein mögen, will ich doch nicht davon ablassen, Gott zu preisen. Würden wir die Sache recht erwägen, so müssten wir an jedem Tage reichlich Ursache finden, dem HERRN ein besonderes Dank- und Loblied darzubringen. Alles, was dem Tage vorangegangen, alles, was der Tag selber in sich fasst, und alles, was ihm noch folgen wird, sollte uns drängen, unseren Gott jeden Tag das ganze Jahr hindurch zu erheben. Unsere Liebe zu Gott ist nicht eine Sache gewisser heiliger Zeiten; Gott geweihten Menschen ist jeder Tag gleich heilig. David kommt hier Gott noch näher, als da er vorhin sagte: "Ich will deinen Namen loben (oder segnen)"; jetzt nämlich sagt er: "Ich will dich loben (oder segnen)." Das ist der Mittelpunkt und innerste Kern aller wahren Anbetung; wir bewundern und verehren nicht nur die Worte und die Werke des HERRN, sondern ihn selber. Ohne lebhafte Vergegenwärtigung der Persönlichkeit Gottes ist es nahezu unmöglich, ihn zu lobpreisen; eine Idee kann man nicht anbeten. Und deinen Namen rühmen immer und ewiglich. Er hatte vordem gesagt, er wolle diesen Namen "segnen", und jetzt gelobt er, ihn zu rühmen; er will den HERRN loben auf jegliche Art und Weise. Der ewige Gottesdienst im Himmel wird nicht der Abwechslung ermangeln; er wird nie eintönig und langweilig werden. In der himmlischen Musik spielt man nicht immer auf einer Saite, hingegen werden alle Saiten zu einem Lob gestimmt sein. Beachten wir die persönliche Redeweise: viermal sagt der Psalmist: Ich will usw. Gottes Lob kann man nicht durch einen Stellvertreter besorgen lassen; entweder musst du selber, dein Ich, dein Herz, darin sein, oder es ist überhaupt nichts darin, es ist leerer Schall und Schein.

3. Der HERR ist groß und sehr löblich. Unsere Anbetung sollte wenigstens einigermaßen ihrem Gegenstande angemessen sein: ein so großer Gott ist auch hoch zu rühmen. Es gibt in Jehovahs Größe nichts, das nicht des Lobpreises in den höchsten Tönen würdig wäre. Bei etlichen Wesen ist die Größe nur eine Ungeheuerlichkeit im Bösen; bei ihm ist sie unermessliche Erhabenheit im Guten. Kein Gesang kann zu prächtig, kein Chor zu groß, kein Psalm zu erhaben sein, um den Herrn der Herrlichkeit zu preisen. Und seine Größe ist unausforschlich. Unsere Gesänge sollten die Frucht ernster und emsiger Geistesarbeit sein; Lieder, die ohne tieferes Nachdenken verfasst sind, haben keinen Wert, und oberflächliche Melodien sind unter der Würde des Gottesdienstes. Doch wenn wir uns noch so tiefem Sinnen und Forschen hingeben und alle erdenkliche Mühe und Sorgfalt aufwenden, so werden wir uns doch immer noch von unerforschlichen Wundern umgeben finden, die alle unsere Versuche, sie würdig zu besingen, als ganz unzulänglich erscheinen lassen. Die beste Weise, den Unerforschlichen anzubeten, ist die, es zu bekennen, dass er unerforschlich ist, und vor dem blendenden Licht seiner Herrlichkeit in Ehrfurcht niedersinkend die Augen zu schließen. All die Forschungskraft aller hohen Geister aller Jahrhunderte reicht nicht hin, den unausforschlichen Reichtum des Wesens Gottes auszuschöpfen; die Größe Jehovahs ist schlechterdings unergründlich, und deshalb ist der Lobpreis, der ihm gebührt, stets hoch erhaben über allem, was wir ihm davon darbringen können.

4. Ein Geschlecht preist1 dem andern deine Werke. (Grundtext) Es gibt und soll geben eine Überlieferung des Ruhmes des HERRN von einem Zeitalter zum andern; die Menschen werden die Anbetung Jehovahs fortpflanzen und es als einen Hauptzweck ihres Lebens ansehen, ihre Nachkommen in diesem heiligen Geschäft zu unterweisen. Wir blicken auf die Erfahrungen unserer Väter zurück und singen davon in heiligen Liedern; ebenso werden unsere Kinder den HERRN preisen lernen aus den Werken, die er unter uns vollführt. Lasst uns wohl darauf Acht haben, dass wir Gott vor unseren Kindern loben und nie in ihnen den Gedanken aufkommen lassen, dass sein Dienst keine Lust, sondern eine Last sei. Und deine gewaltigen Taten verkündigen sie. (Grundtext) Die aufeinander folgenden Geschlechter arbeiten hieran, einander ablösend; ein einzigartiges Geschichtswerk ist es, mit dessen Abfassung sie beschäftigt sind. Jede Generation schreibt ihr Kapitel, und wenn das Werk vollendet sein wird, wird es ein einheitlicher Band von wundersamem Inhalt sein. Der Psalmist fing mit ich an, schon in diesem Vers aber ist er bei einer unzählbaren Schar von Sängern angekommen, die all die Myriaden unseres Geschlechtes in allen Zeitaltern umfasst. Das Preisen des HERRN macht einem das Herz weit; in dem Maße, wie in uns die Erkenntnis, wie hoch der HERR zu rühmen ist, sich mehrt und der Drang zu solchem Rühmen sich steigert, wächst auch unsere Fähigkeit dazu. Gottes Werke der Güte und seine gewaltigen Taten sind ein Gegenstand, der von der Menschheit in allen Jahrtausenden ihrer Geschichte nicht erschöpft werden kann. Ein vom Lobe Gottes erfülltes Herz lebt in herzerfreuender Gesellschaft mit den Besten aller Zeitalter. Wir fürchten nicht, dass der Weihrauch auf dem Altar Jehovahs je erlöschen werde; die einzelnen Priester mögen sterben, aber die Anbetung nicht. Preis sei ihm, der da bleibt derselbe herrliche Herr und Gott durch alle Geschlechter.

5. Ich will reden von deiner herrlichen schönen Pracht, oder: von der herrlichen Pracht deiner Hoheit. Es ist geziemend, dass gerade ein König von der Majestät des Königs aller Könige rede. David kann die Anbetung Gottes nicht andern überlassen, selbst wenn alle Geschlechter damit beschäftigt sind, sie zu einer immerwährenden zu machen; er muss seinen persönlichen Anteil daran haben. So sagt er denn: Ich will reden usw. Und wie warm und gut redet er! Denn sowie er beginnt, häuft er alsbald die Ehrentitel: von der Pracht der Herrlichkeit deiner Hoheit. Seine Sprache müht sich, dem, was er denkt und fühlt, Worte zu verleihen; er vervielfältigt die Ausdrücke, mit denen er Jehovah, seinen König, erheben möchte. Alles an dem erhabenen König ist majestätisch, Ehrfurcht gebietend, herrlich. Sein Geringstes ist größer als das Größte, das der Mensch ist, hat oder macht, sein Niedrigstes höher als das Höchste, das der Mensch ausdenken oder erreichen kann. An diesem König ist nichts zu finden, das seiner Hoheit unwürdig wäre, und andererseits fehlt nichts zu dem vollen Glanz seiner Herrschaft: seine Majestät ist herrlich und prächtig, und seine Pracht ist majestätisch, er ist lauter Hoheit und Herrlichkeit und Pracht. Und von deinen Wundern. Alles, was Gott unter den Menschen tut, ist dieses erhabenen Herrschers würdig; aber etliche seiner Taten sind besonders darauf berechnet, Erstaunen hervorzurufen. Viele Gotteswerke der Macht, der Gerechtigkeit und der Weisheit sind wunderbar, und sein Werk der Gnade ist das Wunder aller Wunder. Von diesem zumal, aber auch von den andern im entsprechenden Verhältniss, soll nun auch geredet werden. Dazu tüchtig sind gottselige Leute, Männer von Einsicht und Erfahrung, besonders solche, denen die Gabe kraftvoller Beredsamkeit verliehen ist. Solch große Dinge darf man nicht mit Stillschweigen übergehen; wenn andere sie unbeachtet lassen, dann müssen Männer in hervorragender Stellung wie ein David es sich angelegen sein lassen, von ihnen in der Unterhaltung mit Einzelnen wie auch öffentlich zu sprechen. Möge es unser aller Lust sein, gut von unserm Herrn zu reden, ein jeder auf die Weise, die seiner Stellung entspricht.

6. Und von der Gewalt deiner furchtbaren Taten sagen sie. (Grundtext) Wenn die Menschen auch an andern Werken Gottes achtlos vorübergehen, so erzwingen doch gewaltige Schreckenstaten, in denen sich Gerichte des HERRN vollziehen, ihre Aufmerksamkeit und erfüllen ihr Gemüt so, dass sie davon reden müssen. Sprachen nicht in den Tagen unseres Heilands die Menschen auch von dem Einsturz des Turmes zu Siloah und von den Galiläern, welcher Blut Pilatus samt ihrem Opfer vermischt hatte (Lk. 13,1.4)? Und wie laut erhebt sich das Geschrei von Kriegen, während man von Dingen, die lieblich sind und wohl lauten, vielleicht kaum etwas hört. Schreckensnachrichten verbreiten sich sicher. Bei Wohltaten können die Menschen stumm sein; sobald es sich aber um ein Unglück oder sonstige Übel handelt, erheben sie ein großes Geschrei. Die Gewalt des Schreckens ist eine Macht, die der großen Menge die Zunge löst; von Dingen, die einem die Ohren gellen und die Haare zu Berge stehen machen, können die Leute nicht schweigen. So hat man in der Welt auch je und je von den furchtbaren Ereignissen geredet, von denen die Bibel berichtet, von der Sintflut, von der Umkehrung von Sodom und Gomorra, von den ägyptischen Plagen, von der Vernichtung Pharaos und seines Heeres am Schilfmeer und so weiter. Der Psalmist aber sah solche Ereignisse in einem andern Licht an und sang von ihnen mit einer gar anderen Melodie: Und deine Großtaten (oder nach anderer Lesart. deine Größe), die will ich erzählen. (Grundtext) Jene Ereignisse, in denen die meisten Menschen nur furchtbare Taten sahen, waren unserem heiligen Sänger Erweisungen der Größe Jehovahs, und diese großen Taten des HERRN will er verkündigen gleich einem Herold, der die Ehren und Würden seines königlichen Gebieters ausruft. Es ist der Beruf jedes wahren Gläubigen, die großen Taten seines großen Gottes zu verkündigen (vergl. Apg. 2,11). Wir dürfen das nicht der gewöhnlichen Unterhaltung der Leute überlassen - dann wäre es um den Ruhm unseres Königs schlecht bestellt -, sondern sollen persönlich von dem zeugen, was wir gesehen und gehört und erkannt haben. Wir sind sogar verpflichtet, in feierlichster Weise die Menschen vor den furchtbaren Gerichtstaten, in denen sich die Größe des HERRN noch aller Welt kundtun wird, zu warnen, damit sie sich dadurch mahnen lassen, den HERRN nicht noch weiter zu reizen. Diese Pflicht zu erfüllen sind wir ohnehin schon durch heilige Verpflichtung verbunden, und wir werden gut tun, uns selber durch einen wohlbedachten Entschluss noch fester darin zu binden: "Ich will es tun - mit Gottes Hilfe will ich die großen Taten meines Gottes erzählen, so gut ich’s kann!"

7. Das (ehrenvolle) Gedächtnis (= den Preis) deiner großen Güte (eigentlich: des überreichen Inhalts deiner Güte) strömen (wörtl. sprudeln) sie aus. (Grundtext) Der Ruhm der Gnade wird aus ihren dankerfüllten Herzen hervorsprudeln wie das Wasser aus einer mächtigen Quelle, so reichlich, so natürlich, so munter und fröhlich und so ununterbrochen. Der HERR hat den Seinen, die seine Erlösung erfahren haben, das Herz mit seiner großen Güte erfüllt, und so bewahren diese das Gedächtnis daran in ihrem Innern und fühlen sich gedrungen, oft und immer wieder von neuem der heiligen Erlebnisse auch vor andern zu gedenken. Sie können sich dem überreichen Inhalt dieser Güte gegenüber nicht an spärlicher Erwähnung genügen lassen; es drängt sie, solch überströmende Liebe auch mit überströmendem Dank zu preisen. Es ist ihre Lust, miteinander von dem zu reden, was der HERR an ihnen getan, ihre Erfahrungen zu vergleichen und im Abstatten ihrer Dankesschuld miteinander zu wetteifern. Gott hat nie kärglich an uns gehandelt, alle seine Güte ist immer große Güte gewesen, alle seine Wohltaten sind es wert, dass man ihrer rühmend gedenke, sie alle geben uns Anregung, darüber zu reden. Dies Thema ist sicher nicht arm an Stoff, und wenn es um das Herz nur recht bestellt ist, so brauchen wir nie deshalb Schluss zu machen, weil wir keine Tatsachen mehr haben, die wir erzählen könnten. O dass wir solch heilige Erinnerungen pflegten und mehr vom Ruhm des HERRN übersprudelten; denn es ist wahrlich nicht geziemend, dass die Güte dessen, der sich so mächtig und reichlich als der lebendige Gott erwiesen, auf dem Totenacker des Schweigens, in der Gruft der Undankbarkeit begraben werde.
  Und über deine Gerechtigkeit jubeln sie. (Grundtext) Erst reden sie, dann singen, jubeln sie. Und was ist das Thema, das sie veranlasst, die Kanzel zu verlassen und mit dem Chor zu vertauschen? Wovon jubeln sie? Von Gottes Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit, die des Sünders Schrecken ist und deren auch vortreffliche Männer nur mit tiefem Ernst erwähnen können. Aber die Heilige Schrift kennt nicht nur eine strafende, vergeltende, sondern auch eine Heil spendende Gerechtigkeit Gottes, und wunderbar, jene ist nur die Kehrseite von dieser. Gottes Gerechtigkeit ist "sein unverbrüchlich ratschluss- und heilsordnungsmäßiges Verhalten" (Delitzsch), in welchem er seinem unterdrückten Volke Recht schafft, denen, die auf ihn hoffen, Erlösung wirkt und seine Verheißungstreue bewährt. Die Gerechtigkeit ist im Alten wie im Neuen Bunde die Hoffnung der Gläubigen. Gottes Gnadenbund ist unser Trost, weil der, der ihn geschlossen hat, gerecht ist und nicht davon zurückweichen wird. Seit Jesus an unserer Statt gestorben ist, verlangt und verbürgt die Gerechtigkeit das Heil derer, die durch den Glauben Jesum als ihren Heiland ergreifen. Diese Eigenschaft Gottes ist unser bester Freund, deshalb singen wir davon.
  Die theologische Mode möchte die Gerechtigkeit aus dem Gottesbegriff ausmerzen; Leute, die selber eine gründliche Bekehrung erlebt haben, teilen dies Bestreben nicht. Es ist ein Zeichen von Wachstum in der Heiligung, wenn gerade die Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes unsere Freude werden. Selbst ein im Herzen unveränderter Hochverräter mag sich freuen, wenn ihm Gnade widerfährt, wiewohl er sie als einen Ausfluss moralischer Schlaffheit ansieht; ein treu gesinnter Untertan des himmlischen Königs hingegen frohlockt ob der Erkenntnis, dass Gott so durch und durch gerecht ist, dass er nicht einmal, um seine Auserwählten zu retten, darin einwilligte, die Gerechtigkeit seiner sittlichen Weltordnung zu verletzen. Nur wenige Menschen werden über die Gerechtigkeit Jehovahs in Freudenjubel ausbrechen; aber die es tun, sind seine Auserkorenen, an denen seine Seele Wohlgefallen hat.


8. Gnädig und barmherzig ist der HERR,
geduldig und von großer Güte.
9. Der HERR ist allen gütig
und erbarmt sich aller seiner Werke.
10. Es sollen dir danken, HERR, alle deine Werke
und deine Heiligen dich loben
11. und die Ehre deines Königreichs rühmen
und von deiner Gewalt reden,
12. dass den Menschenkindern deine Gewalt kund werde
und die herrliche Pracht deines Königreichs.
13. Dein Reich ist ein ewiges Reich,
und deine Herrschaft währet für und für.


8. Gnädig und barmherzig ist der HERR usw. Hat sich der HERR nicht mit (im Grundtext fast) genau denselben Worten einst dem Mose (2. Mose 34,6) geoffenbart? Ist das nicht Jehovahs großes Selbstzeugnis, das uns seine Herrlichkeit enthüllt, so wie sie sich in milden Strahlen der gefallenen Kreatur erzeigt? Allen auf Erden lebenden Menschenkindern will sich Gottes Wesen also zu erfahren geben: Erstens ist er gnädig, von gütiger Gesinnung und großherziger Handlungsweise. Er behandelt seine Geschöpfe mit Wohlwollen, seine Untergebenen mit bedachtsamer Güte, seine Heiligen mit Huld. Seine Worte und seine Taten, seine Verheißungen und seine Gaben, seine Beschlüsse der Gegenwart und seine Ratschlüsse für die Zukunft offenbaren alle seine Wohlgeneigtheit, seine freie Huld. Nichts ist an Jehovah zu finden von argwöhnischem, von Vorurteilen gebundenem, parteiischem, grämlichem und finsterem, tyrannischem oder unnahbarem Wesen, - er ist voller Herablassung und Güte. Und er ist barmherzig, voll weicher, ob auch niemals weichlicher Empfindung. Gegen die Leidenden, die Schwachen, die in Torheit Verirrten, die Zagenden ist er überaus milde und mitleidig; er fühlt für die Gefallenen, Verirrten das Elend, das sie noch nicht fühlen, und er fühlt mit ihnen, wenn sie unter Schmerzen zucken, unter ihren Leiden zusammenbrechen. Sein Herz ist nicht kalt, gefühllos, sondern warm und weich, seine Herablassung ist nicht stolz und wehtuend, und sein Mitleid schwärmt nicht nur in Gefühlen, wie manchmal das der Menschen, sondern seine Barmherzigkeit ist eine "herzliche Barmherzigkeit" (Lk. 1,78) und durchaus praktischer Art, in selbstvergessener Liebe wahrhaft hilfreich. Sein Erbarmen ist tief und reich, sein Herz wallt davon über, es ist göttlich groß, anhaltend und wirksam. Gottes Herz birgt einen Reichtum, dessen Fülle das kleine Menschenherz auch nicht ahnend zu erfassen vermag, und diese ganze Fülle ist durchströmt von dem Wohlgeruch des Erbarmens mit dem menschlichen Elend. Weil Gottes Herz des Erbarmens voll ist, ist darin kein Raum für Vergesslichkeit oder barsche Härte, und niemand sollte so etwas bei ihm argwöhnen. Ferner ist er geduldig oder langmütig, langsam zum Zorn. Selbst diejenigen, welche seine Gnade ausschlagen, erfahren noch seine Langmut. Wenn die Menschen nicht Buße tun, sondern im Bösen beharren und sogar zu immer schlimmeren Sünden fortschreiten, wird es ihm doch noch schwer, seinen Zorn in ganzer Stärke wider sie auflodern zu lassen. Seine Geduld ist überaus zäh, und von dem heißen Wunsche erfüllt, dass der Sünder sich doch noch bekehre und lebe, lässt er das schon erhobene Schwert niedersinken und schont noch des Missetäters. "Die Liebe ist langmütig und gütig" sagt Paulus (1. Kor. 13,4), und Gott ist die Liebe. Und von großer Güte, oder groß an Gnade. Das ist sein Verhalten gegen die Schuldigen. Wenn die Menschen endlich reuig umkehren, finden sie die Vergebung schon auf sie warten. Ihre Sünde ist groß, aber groß auch Gottes Gnade. Sie bedürfen eines großen Heiles, und es wird ihnen, wiewohl sie dessen nicht wert sind, zuteil, weil die Liebe Gottes so groß ist, dass sie einen Weg findet, auf dem sie auch die größte Schuld verzeihen und tilgen kann.

9. Der HERR ist allen gütig. Niemand, auch nicht sein erbittertster Feind, kann dies leugnen; denn das wäre eine allzu unverschämte Lüge, da schon das Vorhandensein der Lippen, die ihn so verleumden, ein Beweis wäre, dass es eine Verleumdung ist. Er lässt seine Feinde am Leben, er versorgt sie sogar mit Nahrung und erleichtert ihnen den Lebensweg durch mancherlei Annehmlichkeiten und Wohltaten; die Sonne scheint für sie so warm und hell, als ob sie Heilige wären, und der Regen bewässert ihre Felder so reichlich, wie wenn diese vollkommenen Gerechten gehörten. Heißt das nicht Güte gegen alle üben? In unserem Lande schallt die Stimme der Heilsbotschaft an die Ohren aller, die da hören wollen, und die Heilige Schrift, der große Brief Gottes an die Menschen, ist im Bereich des ärmsten Kindes. Es würde eine mutwillige Verdrehung des Bibelwortes sein, wollten wir den vorliegenden Ausspruch auf die Erwählten einschränken, wie etliche sich erkühnt haben; wir frohlocken über die erwählende Liebe, aber nicht minder freudig nehmen wir die herrliche Wahrheit auf, dass der HERR gegen alle gütig ist.
  Und erbarmt sich aller seiner Werke, oder noch wörtlicher: Und sein Erbarmen erstreckt sich über alle seine Werke, waltet über ihnen. Erbarmende Güte ist ein Gesetz, das wir überall in Gottes Weltall verkörpert sehen. Die Welt war bestimmt zur Glückseligkeit, und selbst jetzt, da die Sünde Gottes Meisterwerk so traurig entstellt und in die Welt Elemente hineingebracht hat, die von Anfang nicht da waren, sehen wir mit Staunen, wie Gott die Dinge so geordnet hat, dass der Sturz in den Abgrund noch aufgehalten wird, dem Fluche ein Gegenmittel gegenübergestellt ist und die unvermeidlichen Schmerzen noch durch Linderungsmittel gemildert werden. Selbst in dieser von der Sünde geschlagenen Welt, in der die ursprüngliche Ordnung so schwer gestört ist, sind reichlich Spuren zu finden von dem Walten einer Hand, die wunderbar geschickt ist, Schmerzen zu lindern und Gebrechen zu heilen. Was das Leben hienieden erträglich macht, ist die erbarmende Güte des allwaltenden Vaters. Diese Güte zeigt sich im Großen wie im Kleinsten, in dem gottgeschaffenen Wesen eines Insektes und der dessen Daseinsbedingungen angepassten Natur so gut wie in der Leitung der Geschicke der Völker. Der Schöpfer ist in seinem Walten nie roh, der Erhalter nie gleichgültig, vergeblich, der Gebieter nie tyrannisch. Nichts ist zu dem Zwecke gemacht, Unheil anzurichten, keine Werkzeuge sind dazu geschaffen, nur Jammer und Elend zu verbreiten; das Hereinbrechen von Krankheit und Schmerz ist nicht dem ursprünglichen Plane gemäß, sondern eine Folge unseres zerrütteten Zustandes. Der Leib des Menschen war so, wie er aus des Schöpfers Hand hervorging, weder zu Krankheit, noch zum allmählichen Verblühen, noch zum Tode geschaffen, auch war die Bestimmung des Menschenlebens nicht Unbehagen, Leid und Angst und Qual; im Gegenteil, der Mensch ward geschaffen zu fröhlichem Wirken und zu seliger Gemeinschaft mit Gott. Der HERR hat in zartfühlendem Mitleid mit unserem Elend für uns in der Welt Arzneien für unsere Krankheiten und Hilfsmittel für unsere Schwäche vorsorglich bereitet, und wenn manche von diesen von Gott uns bereiteten Mitteln erst nach langer Zeit von uns entdeckt worden sind, so steht auch das unter Gottes Erzieherweisheit, weil es dem Menschen nützlicher war, jene Heil- und Hilfsmittel selber herauszufinden, als wenn sie ihm fertig etikettiert und in Reihen geordnet vor Augen gestellt worden wären. Wir dürfen des ganz gewiss sein, dass der HERR nie an den Übeln und Leiden seiner Geschöpfe sich ergötzt, sondern dass er ihr Bestes gesucht und alles aufgeboten hat, die Schmerzen und Trübsale zu mildern, in die sie sich durch eigene Schuld gestürzt haben.
  Die Pflicht der Güte und des Mitleids gegen die Tiere kann man aus diesem Vers mit richtiger Schlussfolgerung ableiten. Sollten die Kinder Gottes ihrem Vater nicht an Güte und Erbarmen ähnlich sein?

10. Es loben dich (Grundtext), HERR, alle deine Werke. Es ist an jedem Geschöpf etwas, das Gott zur Ehre gereicht, zu seiner Verherrlichung dient. Die Kunst, die Güte und die Macht, die sich in der Bildung jedes lebenden Wesens kundtun, dienen an sich schon zum Preise Gottes, und vollends, wenn ein geistbegabtes Wesen diese Werke Gottes betrachtet, wird der HERR darob gepriesen. Etliche seiner Werke preisen Gott durch ihr Dasein, andere durch ihr Wohlsein; einige ganz unbewusst, andere durch bestimmte muntere Willensäußerungen. Und deine Heiligen (Frommen) preisen (wörtl.: segnen) dich. Diese Gott von Herzen zugeneigten Wesen kommen näher zum Herzen Gottes und bringen ihm höhere und wonnigere Anbetung dar. Es hat Fälle gegeben, wo Menschen solche gerühmt haben, die sie hassten, gerade wie wir die Tapferkeit an einem Krieger bewundern können, der unser Feind ist; aber die Heiligen preisen Gott aus liebeerfülltem Herzen, weshalb es von ihnen heißt, dass sie den HERRN segnen. Sie sind Gott wohlgesinnt; sie würden ihn gerne noch seliger und noch herrlicher machen, wenn das überhaupt möglich wäre; sie begehren reiche Segnungen für seine Sache und seine Kinder und erflehen guten Erfolg für sein Werk und seine Kriege. Nur selber Gesegnete segnen den HERRN. Nur Heilige loben den dreimal heiligen Gott. Wenn wir den Höchsten rühmen um seiner Werke willen, die um uns her sind, so müssen wir noch einen Schritt weiter gehen und ihn segnen, ihn lobpreisen um dessen willen, was er in uns gewirkt hat und noch wirken wird. Möge der erste Teil unseres Verses, vornehmlich aber der zweite reichlich erfüllt werden.

11. Und rühmen die Ehre deines Königreichs. Ein herrliches Thema für Gott liebende Seelen. Sie, die Gott in ihrem Herzen segnen, frohlocken darüber, dass er auf dem Thron sitzt, und jauchzen, wenn seine Königsherrschaft sich ruhmvoll und mächtig offenbart. Es gibt keinen Gegenstand der Betrachtung, der uns mehr in der Demut, dem Gehorsam, der Hoffnung und der Freude zu fördern geeignet ist, als die Herrschergröße unseres Gottes. Seine Werke preisen ihn, aber sie können ihm nicht huldigen; das bleibt heiligen Herzen und Händen vorbehalten. Den Heiligen ist es selige Freude, von der Herrlichkeit des Reiches dieses Königs zu reden, von der Gerechtigkeit, der Güte, der ewigen Dauer seines Herrscherwaltens, und was dessen mehr ist. Es gibt irdische Königreiche, die wegen ihres Reichtums, der Größe ihres Herrschaftsgebietes, ihrer siegreichen Geschichte, der Freiheit, die in ihnen herrscht, der Blüte des Handels und dergleichen berühmt sind; aber das Königreich Jehovahs übertrifft sie an wahrem Ruhm, an echter Herrlichkeit in allen Beziehungen. Wir sahen einst ein herrliches Gebäude, das "all dem Ruhme Frankreichs" geweiht war; aber Zeit und Ewigkeit und aller Raum sind von der Herrlichkeit und dem Ruhme Gottes erfüllt, und von diesen zu sprechen ist unsere Wonne. Und reden von deiner Gewalt. Diese Macht erhält das Reich und tut die Herrlichkeit des Herrschers dar; wir rühmen natürlich auch sie, wenn wir von dieser Herrlichkeit sprechen. Gottes Macht, zu schaffen und zu verderben, zu segnen und zu strafen, zu stärken und zu zerbrechen, bietet reichen Stoff, immer wieder davon zu erzählen. Alle Macht kommt von Gott. Ohne ihn würden die Gesetze der Natur unwirksam sein; seine Macht ist die einzige Quelle aller Kräfte, der mechanischen wie der lebendigen, der geistigen wie der geistlichen. Außer der Macht, die in die Erscheinung tritt, ruht eine unendliche Fülle von Kraft in Gott verborgen. Wer vermöchte die Reservekräfte des Unendlichen zu berechnen? Wie kann dann je sein Reich zusammenbrechen? Man redet von den staatlichen Großmächten, aber was sind sie im Vergleich zu dieser einen wirklichen Großmacht? Der HERR ist "der Selige und allein Gewaltige" (1. Tim. 6,15). Wir wollen uns doch gewöhnen, diese Macht, die stets nur auf die Ausübung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bedacht ist, tiefer zu erfassen und reichlicher davon zu reden.

12. Um den Menschenkindern seine Machttaten kundzutun. (Wörtl.) Diese herrlichen Taten sollten allen Menschen bekannt werden; und doch halten nur wenige solches Wissen für einen wichtigen Teil der Bildung. Da der Staat hier versagt und versagen muss, weil es zum Lehren heiliger Erkenntnis mehr braucht, als er geben oder fordern kann, so müssen Gottes Kinder sich alle Mühe geben, die heiligen Geschichten von Gottes Taten selber unter ihren Mitmenschen zu verbreiten und fortzupflanzen. Diese Arbeit muss in jedem Zeitalter wieder von neuem geschehen, denn die Menschen haben für das, was Gott und seine gewaltigen Taten betritt, ein kurzes Gedächtnis. Sie schreiben die Taten ihrer Helden in Erz, die glorreichen Taten Jehovahs hingegen in den Sand, wo die Flut der Zeit ihr Gedächtnis bald hinwegspült; darum müssen wir diese Wahrheiten immer und immer wieder von neuem wiederholen. Die Heiligen, die Männer und Frauen, die Gottes Offenbarungen in Wort und Werk kennen und in seiner Liebe leben, sind die religiösen Erzieher und Unterweiser der Menschheit; sie sollen sich nicht nur wie gelehrte Geschichtsforscher mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern sie sollen die Barden der Gegenwart sein, als solche, die den Beruf haben, die großen Taten, die der HERR in den Tagen ihrer Väter und in den vorangehenden alten Zeiten gewirkt hat, im Gedächtnis der Menschenkinder unserer Tage wach und frisch zu erhalten. Beachten wir auch noch den Gegensatz zwischen den gewaltigen Taten Jehovahs und den zwergenhaften Menschenkindern, den Söhnen Adams, die gegen ihren Vater ein heruntergekommenes Geschlecht darstellen, wiewohl auch dieser schon gegen seinen Schöpfer wie ein Nichts war.
  Und die herrliche Pracht seines Königreiches. Welch erhabener Gegenstand! Doch sollen wir sie kundmachen; die Verkündigung derselben ist uns übergeben, die wir den HERRN lieben und segnen. "Die Glorie der Herrlichkeit seines Königtums", welch ein Thema! Jehovahs Herrschaft als des unumschränkten Gebieters über alles, seine Majestät und Herrlichkeit in dieser Königsherrschaft, und der Ruhm dieser Hoheit - dieses dreifältige Thema bringt auch das willigste Gemüt in Verlegenheit. Wie sollen wir dieser Aufgabe gerecht werden? Lasst uns zuerst danach trachten, selber in die Herrlichkeit des göttlichen Reiches tiefe Blicke zu tun, und dann lasst es uns zu einem häufigen Gegenstand unserer Gespräche machen, so werden die Menschen durch uns davon Kenntnis bekommen, wenn der Heilige Geist mit seiner Kraft unsere Worte begleitet.

13. Dein Reich ist ein ewiges Reich. Einen Augenblick hat der Dichter von Gott und seinem Königtum in der dritten Person gesprochen (V. 12 Grundtext, vergl. V. 8.9); aber sein Nachdenken über Gott bringt ihn immer wieder zur Anbetung vor Gott. Er wechselt die Rede von "sein" in "dein". Er schaut den großen König und wirft sich vor ihm nieder. Es ist gut, wenn unsere andächtigen Betrachtungen, unser Bibellesen, unser Nachsinnen uns in die Pforte des Himmels einführen und uns Gott und Gott uns so nahe bringen, dass wir mit ihm reden von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet. Der Gegenstand, mit dem der Psalmist diesen Teil schließt, ist die Ewigkeit des göttlichen Thrones: Dein Reich ist ein Reich für alle Ewigkeiten (wörtl.). Das Königtum Jehovahs ist ohne Anfang, ohne Unterbrechung, ohne Grenzen und ohne Ende. Er entsagt seinem Thron niemals und beruft keinen dazu, sich mit ihm in die Herrschaft zu teilen. Niemand vermag seine Macht zu stürzen oder von seiner Regierungsgewalt etwas abzubröckeln. Weder das gegenwärtige Zeitalter noch das künftige, noch auch alle, die hernach noch kommen mögen, werden seine Majestät zum Erbleichen, seine Herrschaft zum Zusammenbrechen bringen. Wie darf der Glaube darauf ausruhen: Der HERR thront als König in Ewigkeit! (Ps. 29,10.) Und deine Herrschaft währet für und für, Grundtext: durch alle und alle Geschlechter (wörtl. mit eigentümlich gehäuftem Ausdruck: in jedem Geschlecht und Geschlecht). Die Menschen kommen und gehen wie Schatten an der Wand, Gott aber regiert ewiglich. Wir unterscheiden die Könige nach der Reihe ihrer Thronfolge, indem wir sie den Ersten, den Zweiten usw. nennen; dieser König aber ist Jehovah der Erste und der Letzte. Adam lebte schon in seinem fernen Zeitalter unter diesem König, und der letzte seiner Nachkommen wird unter des gleichen Allherrschers Zepter stehen. Heil dir, o großer Gott, du bist und bleibst der Herr aller Herren!
  Diese drei Vers sind eine ehrfurchtsvolle Hymne auf das Königtum und Reich Gottes; sie werden am besten von denen gewürdigt werden, die sich in dem Gottesreich, dies Wort in dem vollkommeneren Sinne genommen, wie Jesus es verkündigt hat, befinden und ihrem Herrn und König von Herzen treu gesinnt sind. Dies Gottesreich ist nach den vorstehenden Versen ein Königreich voller Macht und Herrlichkeit; ein Reich des Lichtes, von dessen Licht die Menschen erleuchtet werden sollen, und ein Reich der Macht, dessen Macht die Menschen fühlen sollen; es ist ein Königtum voller Hoheit und von ewiger Dauer; es ist der Segen jedes Geschlechtes aller Zeitalter. Wir sollen von diesem Reiche rühmen und reden, wir sollen es den Menschenkindern kundmachen, und wir sollen dies Königtum anerkennen, indem wir dem König persönlich unsere Huldigung darbringen, wie der Sänger des Psalms dies im dreizehnten Vers tut.


14. Der HERR erhält alle, die da fallen,
und richtet auf alle, die niedergeschlagen sind.
15. Aller Augen warten auf dich,
und du gibst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit.
16. Du tust deine Hand auf
und erfüllest alles, was lebt, mit Wohlgefallen.

In den uns nun beschäftigenden Versen wird Jehovah gepriesen wegen seiner gnadenreichen Fürsorge für die Menschen und alle anderen Geschöpfe. Dies folgt sehr passend auf die Verkündigung seiner Königswürde, denn hier sehen wir genauer, wie er seine Königsmacht verwendet und für seine Untertanen sorgt.

14. Der HERR erhält (wörtl.: stützt) alle, die da fallen. Lesen wir diesen Vers im Zusammenhang mit dem Vorhergehenden und bewundern wir den unerwarteten Gegensatz: Derselbe, der in solch glorreicher Majestät herrscht, neigt sich liebreich nieder zu denen, die im Begriff sind zu fallen, um sie zu stützen, sie aufzurichten und aufrecht zu erhalten. Die Form des Zeitwortes im Grundtext (das Partizip) zeigt, dass er dies allezeit tut: er ist Jehovah der Erhalter. Dass er die Fallenden und die Gefallenen zum besonderen Gegenstand seiner gnädigen Hilfe erwählt, ist vor allem zu beachten. Wir Menschen weichen den "Gefallenen" unseres Geschlechts aus, zumal den gefallenen Töchtern unseres Volkes, und es ist eine sonderlich zarte Barmherzigkeit, dass der HERR solche mit dem erbarmenden Blick der Liebe ansieht und ihnen mit liebreicher Hand aufhilft, dass er sich selbst derer annimmt, die sowohl die vornehmsten Sünder als auch bei den Menschen die Verachtetsten sind. Solche von uns, die am Fallen sind, werden allzu leicht von den Starken vollends zu Boden gestoßen und unter die Füße getreten; ihre Furchtsamkeit und ihre Abhängigkeit machen sie zu Opfern der Stolzen und Übermächtigen. Auch ihnen lässt der HERR seine aufrechterhaltende Hilfe zuteil werden. Er liebt es, die Dinge umzukehren - die Hohen erniedrigt er, und die Geringen erhöht er aus dem Staube.
  Und richtet auf alle, die niedergeschlagen sind, die zusammengekrümmt, gebeugt sind (Grundtext). Eine andere Erweisung derselben herablassenden Gnade. Es gibt ihrer viele, die ihr Haupt nicht mutig erheben, ihr Herz nicht durch Trost aufrichten können, sondern zagen und in der Gefahr des Verzagens sind; diesen flößt er neuen Mut ein und richtet sie liebend auf. Manche gehen gebückt unter ihrer täglichen Last und sind am Zusammenbrechen; diese stärkt er. Jesus löste eine Tochter Abrahams, die der Satan achtzehn Jahre schon so gebunden hatte, dass sie zusammengekrümmt war, vollständig unfähig, sich aufzurichten (Lk. 13,11-16). Darin erwies er sich so recht als der Sohn des Höchsten. Denken wir uns den unendlich Erhabenen sich niederbeugend, um die Gebeugten aufzurichten, und sich klein machend, damit die, welche zu fallen in Gefahr sind, sich auf ihn stützen können! Das zweimalige "alle" wollen wir auch nicht übersehen: der HERR hat ein mitleidiges Herz gegen die ganze Sippe der Elenden.

15. Aller Augen warten auf dich. Die Geschöpfe deiner Hand haben es gelernt, zu dir aufzublicken; es ist ihnen zur Natur geworden, sich für die Stillung aller ihrer Bedürfnisse an dich zu wenden. Wie Kinder alles, was sie benötigen, von den Eltern erwarten, so schauen die Kreaturen zu Gott auf als dem, der für alles sorgt. Es wäre gut, wenn alle Menschen Augen des Glaubens hätten, alle mit solchem Vertrauen auf Gott harrten. Und Du gibst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit. Sie harren auf Gott, und er gibt ihnen. Der Gedanke hieran bringt unserem Dichter Gott so nahe, dass er wieder mit Gott spricht in der lebhaften Form der Anrede, mit dem vertrauten Du. Kann uns dies wundern, wenn der HERR doch all die hungrigen Geschöpfe überall um uns her mit eigener Hand füttert, allen lebenden Wesen Speise gibt, und unter ihnen uns selber auch? Gleich einer Herde Schafe stehen die Geschöpfe um den HERRN als ihren großen Hirten; alle haben ihre Augen auf seine Hand gerichtet in der Erwartung, Speise zu empfangen. Und sie werden darin nicht enttäuscht; denn wenn die Stunde kommt, ist passende Nahrung für jedes einzelne bereit. Beachten wir die Pünktlichkeit des HERRN im Darreichen der Speise zur Essenszeit - denn "zu seiner Zeit" heißt doch: wenn es Zeit dazu ist, zur rechten Zeit, oder eigentlich: jedem zu seiner Zeit. Wie verschieden ist darin die Natur der mannigfaltigen Geschöpfe, und doch reicht er jedem die Nahrung zu seiner Zeit, so dass der Herr vom Himmel sowohl bei Tag als bei Nacht, zu allen Stunden und in jedem Augenblick damit beschäftigt ist, seine große Herde zu versorgen.

16. Du tust deine Hand auf und erfüllest alles, was lebt, mit Wohlgefallen, d. i. mit Gutem, das die Erfüllung ihres Begehrens ist. Du allein, HERR, sättigst alles. Du tust es freigebig, mit offener Hand; du tust es leicht, du brauchst dazu nur deine allezeit volle Hand aufzutun; du tust es so hurtig, als seien immer alle nötigen Vorräte fertig zur Hand. Lebendige Wesen haben Bedürfnisse, und diese wollen gestillt werden; der lebendige Gott hat des Guten, womit das mancherlei Verlangen befriedigt werden kann, die Fülle zur Hand, und er reicht es dar bis zur vollen Sättigung, bis zur inneren Befriedigung der Geschöpfe, so dass diese nicht mehr schmachten. In geistlichen Dingen stillt der HERR jedes Verlangen, das er selber im Herzen gewirkt hat, so dass unser Sehnen eine Voranzeige kommenden Segens ist. In keinem Falle wird ein Verlangen in einem lebendigen Wesen erregt, nur um Qual zu erzeugen, sondern damit das Geschöpf Befriedigung suche und finde. Alles rechte Verlangen muss sich in Wohlgefallen auflösen.
  Die betrachteten Vers handeln von Gottes gütiger Vorsehung in den natürlichen irdischen Dingen; wir dürfen sie aber auch auf das Gnadenleben anwenden, da der gleiche Gott in beiden Gebieten König ist. Wenn wir nur zu Gott aufblicken wollen um Vergebung, Erneuerung oder wessen immer wir bedürfen, so werden wir nicht umsonst harren. Die Hand der Gnade ist für den Sünder nie verschlossen, solange er lebt, wenn er sich wahrhaft zu Gott wendet.


17. Der HERR ist gerecht in allen seinen Wegen
und heilig in allen seinen Werken.
18. Der HERR ist nahe allen, die ihn anrufen,
allen, die ihn mit Ernst anrufen.
19. Er tut, was die Gottesfürchtigen begehren,
und hört ihr Schreien und hilft ihnen.
20. Der Herr behütet alle, die ihn lieben,
und wird vertilgen alle Gottlosen.
21. Mein Mund soll des HERRN Lob sagen,
und alles Fleisch lobe seinen heiligen Namen immer und ewiglich.

In diesen Versen sehen wir unseren Gott als König in dem Reich seiner freien Gnade an denen echt königlich handeln, die auf ihn harren.

17. Der HERR ist gerecht in allen seinen Wegen und heilig (Grundtext: gütig, liebevoll) in allen seinen Werken. Sein ganzes Schalten und Walten, seine Weisen des Verfahrens und alle seine Taten sind es würdig, gepriesen zu werden, denn sie entsprechen alle seiner Heiligkeit und seiner Liebe. Jehovah kann nicht ungerecht oder ungütig sein. Mag er tun und handeln, wie er will, immer ist sein Walten in voller Übereinstimmung mit seinen Ratschlüssen des Heils und der gütigen Gesinnung, die er gegen seine Geschöpfe hegt. Das ist das Bekenntnis der Gottseligen, die auf seinen Wegen wandeln, und der in seiner Liebe Lebenden, die seine Werke und Taten kennen und erforschen. Was immer Gott ist und tut, muss recht sein. In dem Heil, das er seinem Volke gewirkt hat, ist er so gerecht und so heilig wie in allen seinen Wegen und Werken. Gerechtigkeit und Huld sind in ihm wunderbar vereinigt.

18. Der HERR ist nahe allen, die ihn anrufen; und zwar nahe nicht nur nach seiner Allgegenwart, sondern nahe in seiner Gnade, mit ihnen fühlend und ihnen Huld und Wohltaten erweisend. Er überlässt betende Leute nicht der Not, und er lässt seine Kinder, die in der Welt in so viel Kampf stehen und im Gedränge zu ihm rufen, nicht allein, sondern ist ihnen stets zur Seite. Dieser Vorzug ist nicht für einige wenige von denen da, die zu ihm rufen, sondern für jeden, auf den diese Schilderung passt. Alle, die sich unter dem Schild seines glorreichen Namens bergen, indem sie ihn anrufen in gläubigem Bitten und Flehen, werden es erfahren, dass er ein Helfer ist, der in Drangsalen bewährt erfunden wird. Allen nämlich, die ihn in Wahrheit (so wörtlich, Luther etwas enger, aber doch treffend: mit Ernst) anrufen; denn es gibt allerdings viele, deren Scheingebete und heuchlerische Beteuerungen sie niemals mit dem HERRN in Verbindung bringen werden. Um in der Wahrheit beten zu können, müssen wir ein wahrhaftiges Herz und im Herzen die Wahrheit haben; auch müssen wir demütig sein, denn der Stolz ist Selbstbetrug, und wir müssen mit Ernst beten, sonst ist das Gebet selbst eine Lüge. Der Gott, der die Wahrheit ist, kann sich heuchlerischer Gesinnung nicht nahen; er kennt sie von ferne und hasst sie. Ebenso wenig aber kann er den Aufrichtigen sich fern halten, denn solche Gesinnung ist sein Werk, und das Werk seiner Hände lässt er nicht.

19. Er tut, was die Gottesfürchtigen begehren, sie, die seinen Namen und sein Gesetz in Ehren halten. Wie sie seinen Willen ehrfürchtig achten, so achtet er liebend auch auf ihren Willen, auf das, was sie wünschen. Sie sollen haben, was ihnen gefällt, denn ihr ganzes Trachten geht auf das, was ihm wohlgefällt. Ein geheiligtes Herz begehrt nur, was der heilige Gott geben kann, darum wird all sein Begehren völlig erfüllt aus der Fülle des HERRN. Und hört ihr Schreien und hilft ihnen. Seine Nähe wird sich ihnen sehr praktisch und in einer des erhabenen Königs würdigen Weise zu erfahren geben, denn sie wird ihre Befreiung bewirken. Er wird auf ihr klägliches Rufen achten und ihnen Erlösung senden von allem Übel. Er selber wird ihnen Heil schaffen; er wird sie nicht auf die Hilfe von Engeln oder Heiligen verweisen.

20. Der HERR behütet alle, die ihn lieben. Sie bewahren die Liebe zu ihm in ihrem Herzen, und er bewahrt sie durch seine Liebe. Sieh, welche Fortschritte nach innen und außen diese bevorzugten Leute machen, von denen zunächst gesagt war, dass sie den HERRN fürchten und zu ihm schreien: sie lieben ihn, und in dieser Liebe sind sie gesichert vor aller Gefahr. Wir wollen auch auf die vielen "alle" achten, die uns in diesen letzten Versen des Psalms (und schon von V. 14 an) entgegenleuchten. In jedem der Vers ist Gott alles in allen. Und wird vertilgen alle Gottlosen. Die Gottlosigkeit ist für alle Gott fürchtenden und liebenden Wesen ein Gräuel und ein Ärgernis, und schon darum müssen alle, die entschlossen sind, darin zu beharren, ausgerottet werden. Wie gute gesundheitspolizeiliche Gesetze und Verordnungen alle Erreger von Seuchen durch Vernichtung unschädlich zu machen suchen, so bestimmt auch die sittliche Weltregierung Gottes alles, was böse ist, zum Verderben; es kann nicht geduldet werden in der Gegenwart des vollkommen Heiligen. Was für Ruinen werden gottlose Menschen häufig schon in diesem Leben! Was für Denkmäler des Zornes werden sie in der zukünftigen Welt sein! Gleich Ninive und Babylon und andern zerstörten Orten werden sie nur noch existieren als Beweise, wie furchtbar Gott seine Drohungen erfüllt.

21. Mein Mund soll des HERRN Lob sagen. Was immer andere tun mögen, ich will nicht schweigen von dem Ruhme des HERRN; und wovon immer andere reden mögen, mein Thema steht ein für allemal fest: ich will das Lob Jehovahs reden. Ich tue das jetzt, und ich werde es tun, solange mein Mund noch sprechen kann. Und alles Fleisch lobe seinen heiligen Namen immer und ewiglich. Gott zu loben ist kein Alleinrecht eines Einzelnen, und wenn dieser ein David ist; auch andere sind Schuldner, so seien sie auch Sänger. Alle Menschen, zu welcher Nation oder Rasse sie auch gehören mögen, welchen Standes sie auch sein mögen, in welchem Zeitalter sie auch leben mögen, sollten miteinander zusammenstimmen im Lob des Höchsten. Niemand braucht zu denken, er werde zurückgewiesen werden, wenn er mit seiner vielleicht nicht glockenreinen Stimme in dies Lob des HERRN einstimmt; allen ist es gestattet, alle sind eingeladen, alle werden ermahnt, den großen König zu rühmen. Besonders sollte seine Heiligkeit Gegenstand der Anbetung sein, denn diese ist die Krone und in gewissem Sinne die Summe, der Inbegriff aller seiner Vollkommenheiten. Nur heilige Herzen werden seinen heiligen Namen loben; o dass alles Fleisch, d. i. alle Menschen, die Fleisch und Blut sind, sich heiligen ließen, dann würde die Heiligkeit des HERRN die Wonne aller sein. Dies Lied, einmal begonnen, wird kein Ende haben. Es wird seinen Fortgang nehmen "für immer und einen Tag drüber", wie unsere Alten etwa zu sagen pflegten. Wenn es zwei Ewigkeiten gäbe, oder zwanzig, sie sollten alle angewendet werden zum Loben des ewig lebenden, ewig segnenden, ewig ruhmreichen Jehovah. Gelobet sei der HERR dafür, dass er uns je seinen Namen geoffenbart hat, und gelobt sei dieser Name, so wie er ihn uns geoffenbart hat; ja, gelobet, gesegnet, gepriesen sei er über alles, das wir verstehen oder denken oder sagen können. Unsere Herzen schwelgen in der Wonne, die sein Lob uns gewährt. Unser Mund und Herz und Leben soll unseres Gottes sein, solange dies unser irdisches Dasein währt, und immer und ewiglich, wenn es keine Zeit mehr gibt.


Erläuterungen und Kernworte

Überschrift und Inhalt. Ein Loblied. Eine Reihe von Sprüchen in alphabetischer Anordnung. Jeder einzelne Spruch enthält ein Lob Gottes, einige in der Form einer Selbstermunterung, die Mehrzahl in der Form einer Aussage. (Weniger gut fassen Hupf., Kautzsch die Imperfekte V. 4 ff. 10 f. optativisch.) Im ersten Vers wird Jahve als König angeredet; und seine königliche Herrlichkeit, die sich ebenso in der Größe seiner Werke und in der ewigen Dauer seines Reichs wie in seiner Huld gegen seine Getreuen und seiner Herablassung zu allen Geringen und Gebeugten äußert, ist durchweg der Gegenstand, um den es sich handelt. Lic. H. Keßler 1899.
  Kein anderer Psalm außer diesem trägt die Überschrift "Ein Lobgesang ". Doch ist diese Bezeichnung dem Inhalt sehr angemessen, indem dieser Psalm aus lauter Lobpreis besteht. Der Dichter wurde, als er diese Hymne verfasste, in eine Gemütsstimmung erhoben, die ganz in Gottes Preis aufging ohne Beimischung irgendeines andern Tones oder irgendwelcher persönlichen Anliegen. Der Psalm enthält keine Bitten, auch keine Danksagungen für empfangene Wohltaten, sondern rein nur anbetendes Lob. Thomas Goodwin † 1679.
  Die letzten sechs oder sieben Psalmen sind das Wonneland des Psalters, wo die Sonne Tag und Nacht scheint und die Turteltaube ihre Stimme hören lässt. Indem diese Psalmen den Schluss bilden nach all den Tönen der Trauer, der Klage, der Buße und des Flehens, die in den vorhergehenden erklingen, bilden sie unbewusst die Freude und Ruhe der Herrlichkeit vor. George Gilfillan † 1878.
  Es ist bemerkenswert, dass dieser Titel "Ein Lobgesang", hebr. tehilla, wiewohl er im Hebräischen der ganzen Psalmensammlung den Namen gegeben hat (vergl. dazu den nächsten Absatz), doch einzig diesem 145. Psalm im Einzelnen beigelegt wird. Das Wort kommt von derselben Wurzel wie Hallelujah. Es scheint, als ob dieser Name tehilla, Lob, mit Fleiß für den letzten der dem David zugeschriebenen Psalmen ausgespart worden sei, um darauf hinzuweisen, dass alles, was David gebetet, gesungen, geklagt, gefleht habe, im Lobe Gottes ende und darin seine Vollendung finde. Und beachtenswert dünkt uns, dass dies Wort tehilla, nach dem der ganze Psalm benannt, in dem letzten Vers des Psalmes vorkommt ("Mein Mund soll des HERRN Lob sagen") und so gleichsam eine Vorbereitung ist auf die nun in den letzten Psalmen erklingenden Hallelujahs. Als sollte uns gesagt werden: Davids Stimme erlischt nun hienieden, doch um nimmer zu schweigen in der jenseitigen Welt, sondern den Namen des HERRN zu loben immer und ewiglich (V. 1); und seine letzte Mahnung an die Menschen hienieden ist: Alles Fleisch lobe seinen heiligen Namen immer und ewiglich (V. 21). Christ. Wordsworth † 1885.
  Die Sammlung der Psalmen heißt im Hebräischen tehillim (oder abgekürzt tillim), was man zunächst geneigt ist, Buch der Lobgesänge zu übersetzen. Sprachgelehrte (Lagarde usw., siehe Bäthgens Kommentar S. II) behaupten jedoch, dies müsste sepher tehillot heißen; die maskulinische Pluralform deute an, dass das Wort im übertragenen, nicht den Inhalt (Lob), sondern die äußere Form (Gesang) bezeichnenden Sinne gebraucht sei, der Titel der Psalmensammlung bedeute also einfach Gesangbuch. (Eine ältere Sammlung scheint nach Ps. 72,20 den Namen "Gebete Davids" getragen zu haben.) Der uns geläufige Name Psalter oder Buch der Psalmen hingegen stammt aus der griechischen Bibel. Psalter bedeutet ein Saiteninstrument und ist dann auf die Liedersammlung übertragen, ähnlich unserem "Psalter und Harfe", "Zionsharfe" usw. Psalm ist die Übersetzung des hebr. mizmor, das ja in der Überschrift so vieler Lieder der Sammlung vorkommt und ein mit Begleitung von Saiteninstrumenten gesungenes Lied bedeutet. Psalmen, sagt Delitzsch, sind Lyralieder oder lyrische Gedichte im eigentlichen Sinne. - James Millard


V. 1. Ich will dich erheben usw. Jemand erheben oder erhöhen heißt, ihn auf einen hohen Platz stellen, wo er die andern überragt, oder, wenn es in Bezug auf jemand gesagt ist, der schon in hoher, alles überragender Stellung ist, diese seine Hoheit anerkennen und bekennen, ihn aufs höchste bewundern und andern unsere hohe Meinung von der betreffenden Person kundtun, um auch sie zur Anerkennung und Bewunderung dieser Hoheit zu führen. Philip Bennett Power 1862.
  Mein Gott, du König, wörtlich: der König, nämlich im höchsten Sinne, der König schlechthin, der König aller Könige, der Gott, durch den die Könige regieren und dem ich und alle anderen Könige Unterwürfigkeit und Gehorsam schuldig sind. Mt. Poole † 1679.


V. 1.2. Immer und ewig will der Dichter Gott so erhöhen und seinen Namen benedeien. Er vergisst, weil Lobpreis Gottes sein innerstes Bedürfnis ist, über dieser Hingabe an den ewig-lebendigen König die eigne Sterblichkeit. Dieser von Gott selbst gewirkte Drang der Seele nach dem ihr den edelsten Genuss gewährenden Lobpreis des Gottes ihres Ursprungs ist ja ein tatsächlicher Beweis für ein Leben nach dem Tode. Die Vorstellung von dem stummen Hades, welche anderwärts, wie Ps. 6,6, sich aufdrängt, wo das Bewusstsein des Dichters durch die Sünde getrübt ist, ist hier ganz und gar verdrängt, indem V. 2 auch nicht die Möglichkeit einer Unterbrechung des Lobpreises zulässt: der Dichter will täglich Gott benedeien, mögen es Tage des Glücks oder der Trübsal sein, will ununterbrochen in alle Ewigkeit seinen Namen verherrlichen. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Das Lob Gottes ist das einzige Stück der religiösen Pflichten, die wir in dem jetzigen Leben ausüben, das von ewiger Dauer ist. Wir bringen jetzt Bitten und Flehen dar, aber es wird eine Zeit kommen, wo das letzte Bittgebet zu Gottes Thron emporgestiegen sein wird. Wir üben uns im Glauben, aber es wird eine Zeit sein, wo der Glaube sich in Schauen auflöst. Wir hoffen, und Hoffnung lässt nicht zu Schanden werden, aber es wird eine Zeit geben, wo das Hoffen erstirbt in dem seligen Genuss der Herrlichkeit, die Gott enthüllen wird. Der Lobpreis jedoch zieht singend in den Himmel ein und schickt sich an, ohne noch einen Lehrer dazu nötig zu haben, in die Harfe zu greifen, die droben auf ihn wartet, um das Lied des Lammes im vieltausendfältigen Echo der Ewigkeiten erklingen zu lassen. - In der wechselreichen Welt, in der wir jetzt leben, gibt es Tage von allerlei Art und mit mannigfaltigen Erfahrungen, die miteinander das buntscheckige Gemengsel bilden, als welches sich das irdische Leben auch des Christen darstellt. Es gibt für uns hienieden Tage des Wartens und Harrens, in denen es scheint, als kämen wir keinen Schritt vorwärts, weil wir auf allen Seiten von Nöten und Schwierigkeiten eingeschlossen sind, aus denen wir keinen Ausweg finden und wo uns nichts übrig bleibt, als zu harren, was der HERR wohl in uns und für uns tun werde. Es gibt Wachttage, wo wir uns keinen Augenblick dem Schlummer überlassen dürfen, sondern allezeit auf die Angriffe unserer geistlichen Feinde gerüstet sein müssen. Es gibt Tage der Schlacht, wo wir mit entfaltetem Banner und in voller Rüstung für die Wahrheit in den Kampf gehen müssen. Und es gibt Tage des Weinens, wo es uns ist, als wären die Brunnen der großen Tiefe in unserem Innern aufgebrochen und als müssten wir weinend zum Himmel einziehen. Doch diese Tage gehen einer nach dem anderen vorüber, und es kommt der Augenblick, wo sie alle für immer vorbei sein werden - die Tage des Harrens alle vergangen, die Tage des Kampfes für immer dahin, die Tage des Wachens alle zu Ende - aber der Tag des Lobpreisens wird nie ein Ende nehmen in die Ewigkeit der Ewigkeiten. Wir werden so lange lieben und loben wie wir leben werden, und unser Danken wird so ewig frisch sein wie unser Denken. Dann werden keine inneren Störungen und keine äußeren Hindernisse mehr unser Loben unterbrechen. W. M. Punshon † 1881.
  Die vierfache Wiederholung bekundet, wie lieb dem Dichter dies Werk, den HERRN zu loben, war, wie fest er entschlossen war, vom Preise Gottes überzusprudeln, und wie häufig er damit beschäftigt war. Matthew Henry † 1714.


V. 3. Groß ist der HERR. Da es sich in dem ganzen Psalm um das Lob Gottes als des Königs handelt, werden wir auch diese Aussage in erster Linie auf Jehovah als König zu beziehen haben. Vergl. V. 11 usw. W. Nicholson † 1671.
  Und seine Größe ist unausforschlich. Gott ist so groß, dass, bis Christus kam und uns den Vater offenbarte (Joh. 1,18), die Gottheit sich für das Erkennen der Menschen in ihrer Unendlichkeit verlor. Wer den Versuch macht, einen uferlos in die Unendlichkeit sich ausdehnenden Ozean zu befahren, der muss ja zum Ausgangspunkt seiner Fahrt zurückkehren, da er niemals imstande sein wird, ihn zu durchkreuzen. So wurden die alten Philosophen bei ihren Versuchen, das Wesen der Gottheit zu erforschen und darüber zu disputieren, in ihrem eigenen Scharfsinn wie in einem Labyrinth gefangen und verwirrt; sie mussten bekennen, dass sie von Gott nichts begriffen, als dass er unbegreiflich sei. Ohne Gottes Selbstoffenbarung, ohne Christum vermögen die Menschen über Gott nur herauszufinden, dass sie ihn niemals finden, niemals sein Wesen erforschen können. Thomas Le Blanc † 1669.


V. 3.4. Während menschliche Tugend und menschliche Größe überall Grenzen hat, wo die Flecken beginnen und wo die Armut anfängt, hat Gottes Größe keine Erforschung und kann nicht ausgesprochen werden. Während menschlicher Ruhm auch der Zeit nach seine Grenzen hat und oft nicht über ein Menschenalter dauert, währt Gottes Ruhm von Geschlecht zu Geschlecht. Prof. August Tholuck 1843.


V. 4-7. Göttliche Werke und Gewalt sind, die er durch sein Wort übet, die Schöpfung, die Erhaltung, die Erlösung. Alle diese Dinge sind wunderbar herrlich, ob sie wohl dem Fleische nicht als solche vorkommen. Fleisch und Blut, in Sünden geboren, lässt uns nicht sehen in diesem Leben, was Gott für schöne Werke und Wunder an uns tut. Darum muss man davon predigen, reden, hören, damit wir durchs Wort gläubig werden und anfagen zu erkennen, bis wir dorthin kommen, da wir mit den lieben Engeln sehen, was wir jetzt predigen und hören. Martin Luther † 1546.


V. 5. Ich will reden. (Luther.) Die erste und häufigste Bedeutung des hebräischen Wortes ist: sinnen, überdenken, andächtig betrachten. So verstehen es auch manche an unserer Stelle; andere übersetzen es hier (wie Ps. 105,2) besingen, weil im ganzen Zusammenhang vom Preisen und Verkündigen der Größe des HERRN die Rede ist. Doch bleibt zu beachten, dass dies erst eine abgeleitete Bedeutung ist und das Wort jedenfalls andeutet, dass über die herrlichen Eigenschaften von Gottes Wesen und Taten nicht nur geredet oder geplaudert und geplappert werden, das Lob des HERRN auch nicht nur in Liedern gedankenlos heruntergeplärrt werden soll, sondern dass wir Gottes Wesen und Taten tief überdenken und tief zu Herzen fassen sollen, so dass die Eindrücke mit ganzer Macht und unser ganzes Wesen umgestaltend auf uns einwirken. So werden wir auch befähigt, recht davon zu singen und zu reden. Henry Cowles 1872.


V. 5.6. Der fünfte Vers spricht von Gottes opera mirabilia, der sechste von seinen opera terrabilia. Jene sind die Wonne der Heiligen, diese letzteren schrecken die Gottlosen. Joh. Lorinus † 1634.


V. 5-7. Es war ausnahmsweise kein glücklicher Griff von Luther, dass er die Wortfolge des Grundtextes umänderte, indem er die Zeitwörter voransetzte, während in dem Hebräischen die Objekte des Verkündigens nachdrucksvoll vorangestellt sind. Ebenso ist auch in V. 3 die Wortfolge des Grundtextes eindrucksvoller: "Groß ist der HERR". In V. 5 haben die LXX offenbar gelesen: ... ..., wonach der Vers also lauten würde: "Von der herrlichen Pracht deiner Hoheit reden sie, und deine Wunder will ich überdenken oder (and. Übers.) besingen. " Diese Lesart ist beachtenswert, weil dann der Bau des Verses genau dem des folgenden entsprechen würde. Immerhin ist es möglich, dass die LXX diese Lesart nicht wirklich vorfanden, sondern nur vermuteten. Notwendig ist die Änderung ja nicht. - Hält man an dem masoretischen Text fest, so kann man für yrbd hier (wie 105,27) die Bedeutung "Worte" festhalten. Die "Worte seiner Wunder" sind dann die Wundertaten selbst, sofern diese den Menschen etwas zu sagen haben (wie 105,27 die Zeichen den Ägyptern). Diese Deutung zieht Keßler (1899) vor. Oder man kann yrbd so auffassen, dass es "den Tatbestand in die einzelnen Fälle und Umstände zerlegt" (Del.), was besonders für 65,4 sehr passend erscheint (Fälle von Missetaten), also an unserer Stelle: die einzelnen Tatsachen der göttlichen Wunder, "deine Wunderbegebnisse" (Del.). Andere übersetzen das Wort flach mit "Angelegenheiten", halten es also für einen fast bedeutungslosen Zusatz. - James Millard


V. 7. Gottes Güte ist intensiv und extensiv groß, groß der inneren Stärke und Vollkommenheit nach, groß auch nach der Reichlichkeit ihrer Erweisungen. In beiden Beziehungen soll unser Lobpreis dieser Größe der Güte Gottes entsprechen: er soll reichlich sein, und er soll kräftig, inbrünstig sein. Beides liegt in dem bildlichen Ausdruck "sprudeln". Henry Jeanes 1649.
  Das Zeitwort des Grundtextes enthält den Begriff des Aufsprudelns und Überströmens gleich einer Quelle. Es bedeutet einen heiligen Redestrom, dessen Inhalt die Güte Gottes ist. Nun haben wir ja nachgerade Leute genug, deren Zunge äußerst geläufig ist, von deren Lippen es nur so sprudelt; aber ihrer viele sind Müßiggänger, deren Zeit und Gaben Satan trefflich für seine Zwecke dienstbar zu machen weiß. Der HERR erlöse uns von dem Geklapper jener Weiber, deren Mundwerk nie stillsteht. Dagegen schadet es nichts, wie fließend der Redestrom auch sei, ob nun bei Männern oder bei Frauen, wenn er sich in der Weise und über den Gegenstand ergießt, wovon in unserem Vers die Rede. Da tut den Mund nur auf, so weit ihr könnt; lasst das Lob Gottes hervorquellen; lasst es doch kommen, in Strömen! Sprudelt es aus! Lasst es brausend hervorbrechen, so gut ihr’s nur könnt! Und ihr andern, wehret den fröhlichen Zungen nicht, schließt den Frohlockenden nicht den übersprudelnden Mund, lasst sie jubeln und preisen immerdar. Sie machen des Rühmens nicht zu viel, das können sie gar nicht. Ihr sagt, sie seien Schwärmer, sie verstiegen sich zu hoch; aber sie sind noch nicht halb auf der Höhe! Spornt sie an, noch begeisterter zu werden und noch inbrünstiger zu reden. Nur weiter, mein Bruder, fahr nur fort; häufe das Lob, steigere den Ruhm meines Gottes! Sage noch Größeres, noch Erhabeneres von ihm aus, und rede noch feuriger! Du kannst gar nicht über das hinauskommen, was einfach Wahrheit ist. Wir stehen hier an einem Thema, wo auch die höchste Beredsamkeit noch zu kurz kommen muss. Der Psalmvers stellt ein heiliges Übersprudeln als das Geziemende hin, und ich möchte uns alle ermuntern und mahnen, solche Beredsamkeit reichlich in Anwendung zu bringen, wenn wir von der Güte des HERRN reden. C. H. Spurgeon 1885.
  Allzu viele Zeugen der Güte Gottes sind stumme Zeugen. Die Menschen kommen viel zu wenig heraus mit den Zeugnissen, die sie in dieser Sache ablegen könnten. Der Grund, warum ich die Methodisten - solche von der echten Sorte - gern habe, ist der, dass ihre Frömmigkeit eine Zunge hat. Ach dass wir der Mahnung des Apostels mehr eingedenk wären: Seid inbrünstig im Geist! Henry Ward Beecher † 1887.


V. 8-10. Von der Majestät Gottes hat der Sänger Zeugnis ablegen wollen, und - er spricht von seiner Gnade, Langmut und Barmherzigkeit; allein, sind es diese Eigenschaften nicht, wodurch seine Majestät erst ein Gegenstand des menschlichen Lobpreisens werden kann - wodurch sie ihre Schrecken verliert und ein Gegenstand des Frohlockens unter den Menschen wird? Zwar kann das Geheimnis seiner Güte keinen andern recht aufgeschlossen werden, als die es begreifen, also den Menschen, und unter ihnen wiederum nur denen, die geöffneten Auges sind, also den Frommen (vergl. Ps. 33,1); aber dennoch ist die Güte da, und unter dem Saume des weiten Mantels seines Erbarmens birgt sich alles, was da lebet. Prof. August Tholuck 1843.


V. 9. Der HERR ist allen gütig. Gottes erbarmende Güte gegen seine Geschöpfe gleicht nicht diesem oder jenem kostbaren Stärkungsmittel der alten Heilkunst, das in wohl gezählten wenigen Tröpfchen aus goldener Phiole dargereicht ward. Sie gleicht nicht dem spärlichen Wässerlein, das liebliche Musik erzeugend aus irgendeiner Spalte an dem schwarzen Gestein des Berges Sinai herabrieselt. Nein, Gottes Güte ist so weit wie das Himmelsgewölbe, das sich über die Erde dehnt, sie ist so allumfassend wie die Luft. Wenn einer die Kunst verstände, all das goldene Sonnenlicht aufzufangen, das sich heute eine Stunde um die andere still über unser ganzes Festland ergießt, dazu all das Sonnenlicht, das sich, von Woge zu Woge schwebend, über das ganze weite Weltmeer ausbreitet, ferner all das Sonnenlicht, das über den Eisgefilden des Nordens erstrahlt und die ungeheuren Flächen Asiens und die glühend heißen Wüsten und Urwälder Afrikas mit seinem Glanz erfüllt - wenn jemand auf irgendeine Weise diesen unberechenbaren gewaltigen Ausfluss von Licht mit all seinen segensreichen Einwirkungen sammeln könnte, dies Licht, das sich durch alle Stunden des Tages ergießt, das als flüssiger Äther die Berge vergoldet und alle Ebenen füllt und unzählige Strahlen an die verborgensten Orte sendet, jede Blume küsst und mit Farben und Honig füllt, jedem Grashalm einen Strahlengruß sendet, auch die geringsten Dinge, Stock und Stein und die Kiesel im Bachbett freundlich bescheint, die Spinnweben, das ärmliche Nest des Sperlings und den Eingang des Fuchsloches, wo die jungen Füchse spielen und sich wärmen, nicht vergessend, - das an dem Fenster des Gefangenen verweilt, die Tränen des armen Sklaven wie Tautropfen erstrahlen lässt und das Trauerkleid der Witwe goldig erschimmern macht, das das ärmliche Haus dort auf der Heide wie in flüssiges, flammendes Gold taucht, das die Gassen der Städte besucht und mit einem Reichtum über die ganze Erde schreitet, immer und überall scheinend und leuchtend seit dem Tage, da es geschaffen worden, ohne Stocken und Wanken, ohne Abnahme der Kräfte und Verminderung der Wirkungen, heute so voll, so frisch, so überströmend leuchtend wie damals, als es sich zum ersten Mal in den Weltraum ergoss - wenn einer, sage ich, diesen grenzenlosen, endlosen, unermesslichen Schatz an Licht sammeln könnte, um ihn zu ermessen, dann, ja dann könnte er die Höhe und die Tiefe und die Weite und die nimmer endende Herrlichkeit der erbarmenden Güte Gottes aussagen. Könnte er’s dann wirklich? Ist all dies unermessliche Sonnenlicht nicht nur der Saum seines Gewandes? Henry Ward Beecher 1873.
  Selbst die Schlechtesten bekommen Gottes Güte zu schmecken; sogar solche, die wider Gottes Güte reiten, erfahren sie. Die Gottlosen bekommen etliche Brosamen von dem Tisch der Gnade. Der HERR ist allen gütig. Köstliche Tautropfen sind auf der Distel so gut wie auf der Rose. Der Sprengel, in dem die Güte visitiert, ist sehr ausgedehnt. Thomas Watson † 1690.
  Und sein Erbarmen (erstreckt sich) über alle seine Werke. Das hebräische Wort bezeichnet zunächst die Eingeweide, nach ihrer Weichheit, dann das weiche, zarte, mitleidige Empfinden, das Erbarmen, von der Bewegung, dem Verlangen oder Schmerz, die man bei starken Gemütserregungen in den inneren Teilen spürt. Besonders wird es auch von den Empfindungen des Vater- und Mutterherzens gebraucht. Gegensatz: ein Herz von Stein. Dies Erbarmen Gottes nun wölbt sich hoch und weit über alle, wie die Wölbung der Kirche, in der wir jetzt sitzen, sich über uns alle breitet, wie das Himmelsgewölbe alle, alle, die auf Erden wohnen, unter seinen Fittichen deckt. Bischof Lancelot Andrews † 1626.


V. 10. Es loben dich, HERR, alle deine Werke usw. Es ist erstaunlich, dass der Mensch nicht allezeit Gott preist, da doch alles, was ihn umgibt, ihn ständig zum Lobe Gottes auffordert. Gregor von Nazianz † 390.
  Und deine Heiligen segnen dich. (Wörtl.). Die Lilie erhebt ihr Haupt auf ihrem schlanken Stengel und entfaltet ihre schneeweißen Blüten über der Blätterkrone und preist rein durch ihr Dasein Gott. Sieh dort das tiefe Meer, wie es braust und rollt im Sturme und Wetter und wie seine Flut mit Allgewalt ins Land bricht, und jede seiner silbergekrönten Wogen preist den Schöpfer. Die Vögel, wie können sie sich schon in aller Morgenfrühe, und etliche unter ihnen selbst die Nacht hindurch, nicht genug tun im Lobe Gottes, und sie machen darin gemeinsame Sache mit den zehntausend andern Stimmen in der Natur, die ein Konzert ohne Ende vor dem Thron des Allgegenwärtigen aufführen. Doch beachte es wohl, weder Blume noch Meer noch Vöglein preist Gott mit dem Vorsatz, ihn zu preisen. Für sie ist dieser Lobpreis keine Betätigung geistbegabter Vernunft, denn sie kennen Gott nicht und vermögen nicht zu ermessen, wie preiswürdig er ist; sie wissen gar nicht, dass sie ihn loben. Sie erweisen durch ihr Dasein und ihre Tätigkeiten Gottes Meisterkunst und seine Güte usw., und dadurch tun sie viel; aber wir müssen es lernen, mehr zu tun. Wenn du und ich Gott loben, so ist darin das Element des Willens, der Vernunft, des Verlangens und des Vorsatzes, ihn zu loben; und wenn wir zu den "Heiligen" zählen, d. i. nach der Bedeutung des hier im Grundtexte gebrauchten Wortes zu denen, die in Gottes Liebe leben, so liegt in unserem Lobe noch ein anderer Grundstoff, nämlich eben der der Liebe zu ihm und der ehrfurchtsvollen Dankbarkeit gegen ihn, und das macht das Loben zum Segnen. Jemand ist ein ausgezeichneter Maler, und du rufst aus: "O welch wunderbare Kunst! Wie entsteht unter seinem Pinsel lauter Leben!" Doch der Mann ist dein Freund nicht, du segnest seinen Namen nicht. Es mag sein, dass deine Empfindungen gegen ihn die des tiefen Bedauerns sind, dass solch vortreffliche Fähigkeiten mit einem so schlechten Charakter verbunden seien. Ein gewisser Mann ist außerordentlich geschickt in seinem Beruf, aber er behandelt dich ungerecht, und darum kannst du, wiewohl du seine hervorragenden Leistungen oft rühmst, ihn doch nicht segnen, denn du hast keine Ursache dazu. Ich fürchte, es mag bei manchen auch solch ein Gefühl der Bewunderung gegenüber Gott vorhanden sein wegen seiner wunderbaren Kunst, seiner gewaltigen Macht, seiner erhabenen Gerechtigkeit usw., und doch in ihrem Herzen keine Wärme der Liebe gegen ihn; bei den "Heiligen" hingegen ist der Lobpreis mit Liebe gewürzt und voll segnender Wünsche. C. H. Spurgeon 1885.


V. 11. Die Ehre des Königreichs Gottes und seine Gewalt kann man am besten erkennen, wenn man sich den Unterschied zwischen diesem und den Reichen der irdischen Könige klar macht. Wir heben fünf Punkte heraus. Die Könige der irdischen Reiche haben erstens nur eine kleine Zahl Untertanen mit geringem Reichtum im Vergleich mit Gott, der über Engel, alle Menschen und alle Geister der Unterwelt herrscht und dem alle Schätze und Reichtümer in Land und Meer und Luft und Sternenwelten gehören. Zweitens reicht die Gewalt der Könige nicht ins Innerste, während Gott der Menschen und auch der Könige Herzen lenkt wie die Wasserbäche. Drittens werden die weltlichen Könige, während sie über ihre Untertanen herrschen, doch auch zugleich von diesen beherrscht, sie sind von ihnen abhängig und könnten ohne sie nichts machen. Und so reich ihre Einkünfte sein mögen, so sind sie doch gewöhnlich in Geldnot, ja sogar in Schulden und müssen infolgedessen immer neue Zölle und Steuern fordern, wohingegen Gott, während er über alles herrscht, niemand unterworfen ist, weil er niemandes Hilfe oder Unterstützung bedarf. Statt dass er in Mangel von etwas wäre, hat er an allem Überfluss, weil er in einem Augenblick aus nichts viel mehr schaffen könnte als alles, was er jetzt sieht oder besitzt. Der vierte Unterschied ist eine natürliche Folge des zweiten. Während die Könige dieser Welt ihre Ehren und Würden anscheinend in vollen Zügen genießen, leiden sie zugleich schwer in ihrem Innern unter Furcht, Misstrauen und Sorgen, die schon manchem unter ihnen zu einer solchen Last geworden sind, dass er dem Throne entsagt hat. Gott kennt keinen solchen Druck, er ist keiner Furcht, keiner Enttäuschung, keiner Besorgnis unterworfen, sondern regiert in völliger Ruhe als der Selige. Der fünfte Unterschied, ein sehr wesentlicher, ist der, dass die irdischen Könige nur eine Zeit lang auf dem Throne sind, Gott aber ewig regiert. Kardinal R. Bellarmin † 1621.
  Rühmen, reden. Freude und Kummer lassen sich schwer verbergen, wie auf dem Angesicht, so auf der Zunge. Es besteht zwischen Herz und Zunge solches Einvernehmen und solch enger Verkehr, dass sie sich zugleich bewegen. Jedermann spricht daher von dem, was ihm Freude oder Sorge bereitet: der Jäger von der Jagd, der Bauer hinterm Pfluge von seinem Gespann, der Soldat von seinen Schlachten, seinem Feldherrn usw. Wenn unser Herz von Gott so voll wäre, so könnte unsere Zunge sich nicht zurückhalten, von ihm zu reden. Dass echt christliche Unterhaltungen so selten sind, lässt auf allgemeine Armut an Gnade schließen. Wenn Christus nicht in unseren Herzen ist, so leben wir ohne Gott; ist er zwar da, aber ohne dass wir uns seiner freuen, so sind wir Leute ohne Gefühl; freuen wir uns in ihm und schweigen doch von ihm, so sind wir schändlich undankbar. Jedermann sucht und findet Gelegenheit, auf das zu reden zu kommen, was er liebt. Wie ich allezeit an dich denken will, o HERR, so soll es auch meine Freude sein, oft von dir zu sprechen; und finde ich keine Gelegenheit dazu von ungefähr, so will ich mir Gelegenheit schaffen. Bischof Joseph Hall † 1656.


V. 13. Über der Tür der uralten Moschee in Damaskus, die einst eine christliche Kirche war, aber seit zwölf Jahrhunderten unter die ehrwürdigsten mohammedanischen Heiligtümer gerechnet wird, stehen die denkwürdigen Worte: Dein Reich, o Christus, ist ein ewiges Reich, und deine Herrschaft währet durch alle Geschlechter. Wiewohl in dieser Moschee der Name Christi seit zwölfhundert Jahren immer wieder gelästert und seine Anhänger verflucht worden sind, ist die Inschrift doch geblieben, weder von der Zeit noch von den Menschen ausgelöscht. Als evangelische Missionare in Damaskus Fuß fassen konnten, wurde diese Inschrift aus der Vergessenheit ans Licht gebracht, und sie hat den Boten Christi sehr zur Ermutigung gedient bei ihrem Werk des Glaubens und ihrer Arbeit der Liebe. John Bate 1865.
  Zwischen V. 13.14 fehlt die Strophe, welche mit dem Buchstaben n = n beginnen sollte. In der alten griechischen Übersetzung findet sich wirklich an dieser Stelle ein entsprechender Vers, der lautete Treu (pisto/j, Nmf)Ene) ist der HERR in allen seinen Worten und heilig (o{sioj, siehe hernach zu V. 17) in allen seinen Werken. Der schöne Vers stimmt aber bis auf das der hebräischen alphabetischen Ordnung gemäß gewählte Anfangswort mit V. 17 wörtlich überein und gibt sich dadurch als einen Versuch, die Lücke auszufüllen, zu erkennen. - James Millard


V. 14-19. Diese Vers sind eine herrliche Ausführung zu V. 11. Nachdem der Psalmist das Königtum Jehovahs gepriesen, führt er sieben königliche Ehren und Vorrechte aus und zeigt, dass an Jehovah diese in einzigartiger Weise erstrahlen. Jeder der Vers 14-19 enthält eine besondere königliche Ehre und Tugend. Joh. Lorinus † 1634.


V. 14. Der HERR erhält alle, die da fallen. Es ist bemerkenswert, dass der Psalmist die königliche Macht Gottes nicht an seiner Gewalt, alles zu zerbrechen und zu zermalmen, gleich dem vierten Reich des Bildes Nebukadnezars (Dan. 2,40), sondern an seiner Geneigtheit, den Schwachen beizustehen, näher darlegt. Gerade die Verbindung von unbegrenzter Macht mit unendlicher Güte ist es, was wir an diesen Versen am meisten bewundern. Sie ist vielen unbegreiflich. Aber schon ein Heide, Ovid, sagt: "Regia (crede mihi) res est succurrere lapsis, Glaube mir, es ist ein königlich Ding, den Gefallenen zu helfen." James Millard Neale † 1866.
  Der HERR stützt die Schwachen, die sich nicht auf den Füßen halten können, er ist der Halt der Fallenden. Niemand, auch der Schwächste nicht, fällt also rein nur wegen seiner Schwäche; vertraute er auf Gott, so könnte der stärkste Feind ihn nicht zu Fall bringen. Adam Clarke † 1832.


V. 15. Aller Augen usw. Gott kann nicht übermeistert werden von irgendetwas Großem, und wenn es das Größte wäre; so kann er aber auch das Kleinste und Unbedeutendste nicht übersehen. Für Gott gibt es nur ein Großes, und das ist er selber; darum kann, wenn "aller Augen auf ihn warten ", der Seraph nicht seine Aufmerksamkeit sich erzwingen durch seinen Feuerblick und das Insekt seines Aufmerkens nicht verlustig gehen, weil die Kraft seines Blickes nur gering ist. Hohe und niedere Enge und Menschen und Tiere aller Stufen, sie ziehen alle gleichermaßen die Beachtung dessen auf sich, der, nichts anderes als sich selber für groß rechnend, als Schöpfer über keinen auch noch so kleinen Teil seiner Schöpfung achtlos hinwegsieht. Henry Melvill † 1871.
  Die Natur ist in ihrem Seufzen nicht atheistisch; die Kreatur, die nicht weiß wohin fliehen, flieht zu Gott. Hannah More † 1833.
  Ihre Augen warten auf dich. Viele stumme Bettler haben an Christi Tür schon Hilfe gefunden durch die Sprache ihrer Blicke. William Secker 1660.
  Alles, was Gott geschaffen hat, ist sein; darum sollen wir die Speise, die wir genießen, mit Danksagung genießen. Das tat unser Heiland mit ganzer Kraft der Empfindung und mit Eifer. Indem er vor der Speisung der Fünftausend "gen Himmel aufsah" und dankte (Mt. 14,19 usw.), lehrte er uns, dass aller Augen auch im buchstäblichen Sinn des Wortes warten, d. i. gläubig harrend aufblicken sollen auf den HERRN, der ihnen ihre Speise gibt zu seiner Zeit. Das Empfinden der Güte Gottes in der Verborgenheit des Herzens ist zwar erstes Erfordernis, denn ohne das wären Gebärden und Worte des Gebets nur tote Form; aber der Mensch soll jenem Empfinden auch feierlichen sichtbaren Ausdruck geben, wenn er das von Gott zur Erhaltung und Erneuerung seiner Lebenskraft Geschaffene empfängt. Solche Huldigung gebührt Gott und ist auch dem Menschen selber förderlich. George Stanhope † 1728.
  Zur Versorgung der Geschöpfe, so dass jedes immer wieder passende Speise zu seiner Zeit findet, dienen auch in einer Weise, die uns zur Bewunderung der weisen und liebreichen Fürsorge Gottes führen sollte, die verschiedenen Jahreszeiten mit der Mannigfaltigkeit von Nahrungsmitteln, die sie darreichen. Jean Calvin † 1564.
  Herr Robertson erzählte neulich von einem Kinde, das es gewohnt war, je und je auf allerlei unerwartete Weise Vorräte für den ärmlichen Haushalt der Mutter ankommen zu sehen. Das Hafermehlfass ist ja bekanntlich für einen hungrigen Knaben in Schottland das Wichtigste. So sagte er: "Mutter, ich glaube, der liebe Gott hört’s, wenn wir das Unterste im Fass ausschrabben." The Christian 1876.


V. 15.16. Zwar sind wir es gewohnt, es einen natürlichen Trieb zu nennen, durch den jedes Geschöpf Speise zu suchen angeleitet wird, und rühmen es der "Natur" nach, dass sie für ein jegliches unter denselben, was zu einer Notdurst dient, bereithält; vor dem Auge des Sängers aber steht der lebendige Gott, der alle Tage allem, was lebet, den Tisch deckt. Ja wie die Kinder auf die Hände ihrer Eltern blicken, so richtet das Auge aller Kreatur sich nach der ausgestreckten Hand Gottes hin, die nun so viel tausend Jahre lang tagtäglich so unermessliche Gaben ausgeteilt hat, jedem seine Speise und zu seiner Zeit gegeben und nimmer leer geworden ist. Wir zwar pflegen von dem allen als von dem Werk einer natürlichen Notwendigkeit zu sprechen, und bleiben darum unsere Herzen so kalt dabei; der Sänger aber sieht Gnade in dem allen, und darum ist seine Seele der Anbetung voll. Prof. August Tholuck 1843.
  Während die förmliche Gottesleugnung, d. h. die völlige Leugnung des Daseins Gottes, etwas Seltenes ist auf Erden - und wohl nur auf Erden kommt sie vor -, ist die Leugnung der Vorsehung Gottes das Glaubensbekenntnis von Hunderten um uns her. Oder wenn man das Walten Gottes in den großen Dingen nicht leugnet, so doch in den kleinen, und wenn nichts in den Geschicken der Völker, so doch in dem täglichen Leben des Einzelnen. Wir erheben gegen dieses Beschneiden der Vorsehung Gottes die bestimmte Anklage gottesleugnerischer Gesinnung. Bekennen wir das Dasein Gottes überhaupt, dann erkennen wir seine Schöpferspuren ebenso in dem zartesten Moosgebilde wie in den gewaltigsten Alpengebirgen; glauben wir an seine Vorsehung, so müssen wir anerkennen, dass er ebenso die Haare auf unserm Haupte zählt, wie er die Sterne nach ihrer Zahl herausführt, und dass vor ihm kein Sperling, so wenig wie ein Seraph, unbeachtet wegfliegen kann. Jenem allgemein verbreiteten Atheismus stellen sich die Worte unseres Psalms aufs entschiedenste entgegen. Henry Melvill † 1871.


V. 16. Du tust deine Hand auf usw. Wie wird uns hier die väterliche Güte Gottes vor Augen geführt! Wie viele Hände und Herzen der Menschen sind dagegen sogar gegen ihre Mitmenschen, Wesen ihresgleichen, verschlossen! Und mit welcher Leichtigkeit stillt Gott all die Bedürfnisse der unzähligen Geschöpfe. Welch ungeheurer Massen von allerlei Nahrung bedarf Tag für Tag nur eine unserer großen Städte, wieviel mehr erst die ganze Menschheit - und doch bildet diese noch nicht den hundertsten Teil von "allem, was lebt". Stillt Gott wirklich all diese für uns unausdenkbare Menge von Bedürfnissen einfach durch das Auftun seiner Hand, was muss es dann um die Sünde und die Erlösung aus derselben für eine schwere Sache ein! Gott speist und versorgt alles auf Erden und in allen Welten durch ein Öffnen seiner Hand, aber seine Gemeinde musste er mit dem Blut seines Sohnes erlösen! Hier gab er aber auch etwas Besseres, Höheres als die Gaben seiner Hand, hier gab er sein Herz. Gottes Hand gibt viel, dem Nebukadnezar gab sie ein Königreich, dessen Gewalt bis an der Welt Ende langte (Dan. 4,19); aber wem er sein Herz gibt, der hat das bessere Teil. Lasst uns dankbar sein für die Gaben seiner Hand, aber auch das Höhere nehmen, das er so gerne gibt. - Gott gibt überhaupt nicht mürrisch oder kärglich, filzig. Er sättigt, was da lebt, mit Wohlgefallen. O der wunderbaren Freigebigkeit Gottes! Andrew Fuller † 1815.
  Das Mittel der Sättigung ist "Wohlgefallen", NOcrf; dabei bleibt unbestimmt, ob gemeint ist, was Gott wohlgefällt oder was den Betern wohlgefällt. Sachlich kommt NOcrf, weil es nicht die Empfindung des Wohlgefallens, sondern objektiv den Gegenstand des Wohlgefallens bezeichnet (vergl. 5. Mose 33,23), auf die Bedeutung "Segen" hinaus: Indem du deine Hand auftust und alles Lebende mit Segen sättigst. Lic. H. Keßler 1899.


V. 17. mit V. 15 f. Es scheint uns, als sei ein gar lieblicher, wenn auch stillschweigender logischer Fortschritt in den Ausführungen des Psalmisten, so da der siebenzehnte Vers mit Absicht gerade in diesen Zusammenhang als an seine richtige Stelle gesetzt ist. Allerdings bieten uns die Wege Gottes jetzt noch viele unerforschte Rätsel dar; aber wenn wir an dem, was darin dunkel ist, nicht irre werden wollen, so müssen wir auf das sehen, was hell und klar ist, und dazu gehört die allwaltende Güte Gottes, wovon V. 15 f. die Rede ist. Henry Melvill † 1871.
  Heilig. Im Hebräischen steht das Wort chasid, das wir, wenn es wie hier von Gott steht, mit gnädig übersetzen. Die Übersetzung "heilig" ist in die Lutherbibel von den LXX aus eingedrungen, die das Wort chasid fast ausnahmslos mit o{sioj wiedergeben, ob es nun von Menschen oder von Gott gebraucht ist. (Dies heilig = o{sioj ist nicht mit heilig = a{gioj usw. resp. $Odqf zu verwechseln.). o{sioj scheint (nach Cremer) ursprünglich ein auf einem Recht beruhendes Pietätsverhältnis zu bezeichnen. Von Menschen Gott gegenüber gebraucht bezeichnet es solche, die Gott im rechten Pietätsverhältnis gegenüberstehen, also wirklich die Mydysx; von Gott gebraucht, wie an unserer Stelle, bezeichnet es Gott als pietätsvoller Verehrung würdig oder als ehrwürdig. - James Millard
  Und heilig in allen seinen Werken. Gott ist gut, und vom Guten kann nichts als Gutes kommen. Scheint etwas in der Welt schlecht, so muss es entweder doch nicht schlecht sein, ob es uns auch so scheint, und Gott wird also Gutes daraus hervorgehen lassen und seine Gerechtigkeit und Heiligkeit darin offenbaren, oder, wenn etwas wirklich nicht gut ist, so hat Gott es nicht gemach oder nicht so gemacht, und der Fehler liegt auf anderer Seite. Charles Kingsley † 1875.


V. 17-20. In allen Wegen, die Jahve in seinem geschichtlichen Walten einschlägt, ist er gerecht, d. i. streng sich haltend an die Norm seiner Heiligkeit, und in allen seinen Werken, die er geschichtlich vorbringt, ist er chasîd, d. i. chesed, Huld, Gnade übend, denn während der diesseitigen Gnadenzeit ist das Grundwesen seiner Betätigung entgegenkommende Gnade, herablassende Liebe. Den Heuchlern zwar bleibt er ferne, wie ihr Herz fern von ihm bleibt (Jes. 29,13), aber übrigens ist er mit unparteiischer Gleichheit allen nahe (vergl. Ps. 34,19), die ihn anrufen in Wahrheit, d. h. so, dass das Gebet ihnen von Herzen geht und heiliger Ernst ist (vergl. Jes. 10,20; 48,1). Es ist, wie im Grunde auch Joh. 4,23 f., das wahre und wirkliche Gebet im Gegensatz zum toten Werk gemeint. Solchen rechten Betern ist Jahve gegenwärtig, nämlich in Gnaden (denn seiner Macht nach ist er allenthalben), er verwirklicht der ihn Fürchtenden Begehren, indem ihr Wille auch der seinige ist, und gewährt ihnen das erflehte Heil (swthri/a). Die, welche V. 19 ihn Fürchtende hießen, werden V. 20 nach dem Vorgange des Dekalogs (2. Mose 20,6) seine Liebenden genannt. Furcht und Liebe Gottes gehören unzertrennlich zusammen; denn Furcht ohne Liebe ist unfreier Sklavensinn, und Liebe ohne Furcht ist freche Vertraulichkeit, das eine verunehrt den Allgnädigen, das andere den Allerhabenen. Alle aber, die ihn lieben und fürchten, behütet er und rottet dagegen alle mutwilligen Sünder aus. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 18. Der HERR ist nahe allen usw. Was hilft mir der beste, treueste, aufopferndste Freund, der mich ganz versteht und alles für mich zu tun bereit ist, wenn er in Indien ist und ich hier augenblicklicher Hilfe, Trostes oder Rates bedarf? Wie gut war es für Paulus, als sonst niemand ihm beistand, dass der HERR ihm zur Seite stand in der Gerichtsverhandlung und ihn stärkte! (2. Tim. 4,17.) Th. Brooks † 1680.


V. 19. Der HERR erfüllt den Willen derer, die sich fürchten, seinem Willen ungehorsam zu sein. Simon de Muis † 1644.
  Doch lehrt die Erfahrung, dass Gott nicht alle Wünsche der Seinen erfüllt. Und das ist Gnade. Denn erstens können sich auch bei den Gottesfürchtigen noch sündliche Wünsche regen. So begehrte David an Nabal und selbst an dessen unschuldiger Familie Rache zu nehmen (1. Samuel 25,22). Jona wollte Ninives Untergang. Und andere Wünsche würden den Gottesfürchtigen, die sie begehren, oder andern nicht zum Besten dienen. David hatte den sehnlichen Wunsch, dass das Kind, welches Bathseba ihm geboren, am Leben bleibe (2. Samuel 12,15 ff.), und ebenso musste er wünschen, dass sein treuer Jonathan ihm erhalten bleibe (1. Samuel 23,17), und doch war beides nicht nach Gottes Willen und hätte nicht zum Guten gedient. Ja, der HERR erfüllt auch nicht jeden an sich sehr guten Wunsch. Es ist ein trefflicher Wunsch eines Predigers des Evangeliums, dass alle, die ihn hören, selig werden möchten. So bezeugte Paulus vor Agrippa: "Ich wünschte vor Gott, dass alle, die mich heute hören, solche würden wie ich bin" (Apg. 26,29). Und wiederum: "Ich habe gewünscht, verbannt zu sein von Christo für meine Brüder, die meine Verwandte sind nach dem Fleisch" (Röm. 9,3). David war willens, dem HERRN einen Tempel zu bauen, und der Plan war ein guter, denn der HERR förderte die Ausführung desselben zu seiner Zeit; doch gewährte er dem David den Wunsch, selber den Tempel zu bauen, nicht. Könige und Propheten begehrten den Christ des HERRN zu sehen und sahen ihn nicht (Lk. 10,24). Wie sollen wir denn dies Psalmwort verstehen? Der Kern dessen, was die Gottesfürchtigen begehren, und das, worauf ihre Wünsche eigentlich alle hinauslaufen, soll ihnen gewährt werden. Was ist das Hauptbegehren eines Seemanns? In dem Hafen anzugelangen. So sollen auch die Gottseligen in den Hafen geführt werden, nach dem ihr Verlangen steht. Was ist der alles überwiegende Wunsch eines Pilgers? Siehe Hebr. 11,16. So gipfeln alle Wünsche eines Christen in dem einen, dass er ewig bei Gott sei und ihm ähnlich sei. Ohne Zweifel gibt es in den Dingen, davon wir hier reden, viel Geheimnisvolles. Aber Strahlen des Ewigkeitslichtes fallen in das Dunkel. Und auch das ist sicher, dass, wenn Gott in einem Menschen einen geistlichen Wunsch erregt, dies oft, wenn auch nicht immer, mit der Absicht geschieht, das Begehrte zu gewähren. Andrew Fuller † 1815.
  Und hört ihr Schreien. Ein Merkmal eines großen Königs - er gibt Bittenden williges Gehör. Joh. P. Palanterius 1600.
  Und hört und hilft. Wie passt diese Schilderung auf den, in welchem Gott auf Erden erschien! Jesus erhörte Maria Magdalena und half ihr. Er hörte auf das Schreien des kanaanäischen Weibes und heilte ihre Tochter. Er hörte das Rufen des Bartimäus und half ihm von seiner Blindheit. Er hörte den Aussätzigen und errettete ihn von seiner unheilbaren Krankheit. Er erhörte die Bitte des Schächers über Bitten und Verstehen und verhieß ihm das Paradies. Noch nie hat irgendjemand den König Jesus angerufen, der nicht Erhörung und Heil gefunden. Th. Le Blanc † 1669.


V. 20. Bewahrung und Vertilgung, Gnade und Gericht. Philipp IV. von Frankreich mit dem Beinamen der Schöne († 1314) ließ auf sein Wappen ein Schwert und einen Ölzweig malen mit dem Wahlspruch: Utrumque d. i. Eins von beiden, entweder das eine oder das andere. Ein wahrhaft großer König ist Meister in beiden Künsten, im Krieg und im Frieden. Th. Le Blanc † 1669.
  Beachten wir, wie oft der Gedanke in der Schrift wiederkehrt, dass die Bewahrung der Guten die Vertilgung der Gottlosen in sich schließt. A. S. Aglen 1884.
  Und wird vertilgen alle Gottlosen. Gott hat so viele verschiedene geheimnisvolle Wege zur Verfügung, wie er gottlose Menschen aus der Welt nehmen und in die Hölle schicken kann, da es gar nicht nötig ist, zu meinen, er müsste ein besonderes Wunder tun, also von dem gewöhnlichen Gang der Vorsehung abweichen, um irgendeinen Gottlosen in irgendeinem Augenblick zu vertilgen. Jonathan Edwards † 1758.
  Wir wollen nicht übersehen, dass diese Erklärung in einem Liede vorkommt, das nichts denn Lob des höchsten Königs enthält. Der ganze Zusammenhang ist unvereinbar mit der Annahme, als wäre das Wort der Ausdruck von Gefühlen fleischlichen Hasses oder der Rache. The Speakers Commentary 1881.


V. 21. mit V. 10. Zum Beschluss bezeugt David nochmals seinen Sinn, in Gemeinschaft alles Fleisches am Lob Gottes zu bleiben. Wie sich jetzt im Seufzen nach der herrlichen Offenbarung der Kinder Gottes in ihrer Freiheit alle Kreatur vereinigt, so wird sich auch dereinst im Loben mit den Heiligen alles vereinigen. Ja schon jetzt kann man sagen, wie es jener ausdrückt: Die Kreatur betet mit uns die siebente Bitte: "Erlöse uns von dem Übel"; also auch alle Werke Gottes beten mit uns die drei ersten Bitten, dass Gott mit der Zukunft seines Reiches und inzwischen mit Vollbringung seines Willens seinen Namen heiligen wolle. O wie oft bleibt unser engherziger Unglaube lieber an dem nächsten Erdendreck kleben, als dass wir uns in diesem herzerquickenden Element des Lobes Gottes von allen Orten seiner Herrschaft her erholen möchten! Karl H. Rieger † 1791.


Homiletische Winke

V. 1.2. 1) Persönliches, 2) tägliches, 3) begeistertes und an Begeisterung steigendes, 4) immerwährendes Lob des HERRN.
  1) Das anziehende Thema des Gesanges. 2) Die zunehmende Fülle des Gesanges. 3) Das nimmer endende Leben des Sängers. Charles A. Davis 1885.
  Die vier "Ich will". Preis dem Könige, Preis dessen göttlichen Eigenschaften, Preis an allen Tagen, Preis in alle Ewigkeit.
V. 2. Alle Tage, immer und ewiglich. 1) Tag für Tag, immer und ewiglich wird Gott und werde ich leben. 2) Tag für Tag und immer und ewiglich werden die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Gott und mir andauern: Er Gott, ich sein Geschöpf; er der Vater, ich sein Kind; er der Segnende, ich der Gesegnete. 3) Tag für Tag, immer und ewiglich soll ihm mein Lob dargebracht werden. William Bickle Haynes 1885.
V. 3. 1) Die hohe Würde des Menschen ist in diesem Vers angedeutet, indem ihm die Aufgabe zugewiesen wird, den HERRN hoch zu rühmen, und 2) die Unsterblichkeit des Menschen durch die Aufgabe, die unausforschliche Größe des HERRN zu preisen. George Rogers 1885.
V. 3b. Die unerforschliche Größe des HERRN. Betrachten wir sie 1) als eine reichlich erwiesene Tatsache, 2) als einen Tadel für die Verzagtheit (siehe Jes. 40,28), 3) als Halt einer Seele, die sich durch die Rätsel des Lebens und die Geheimnisse der göttlichen Weltregierung in die Enge getrieben fühlt, 4) als Gegenstand unseres ewigen Sinnens, Forschens und Lobens. John Field 1885.
  V. 4. 1) Wofür wir früheren Geschlechtern zu Dank verpflichtet sind. 2) Was für Pflichten wir den künftigen Geschlechtern gegenüber haben. George Rogers 1885.
  V. 5-7. Diese Vers führen uns gleichsam einen Wechselgesang vor. 1) Gott zu preisen ist eine persönliche Pflicht des einzelnen Gläubigen: Ich will usw. 2) Die geziemende Ausübung derselben wird andere anregen, auch ihrerseits Gott zu preisen, V. 6a. 3) Die Mitwirkung anderer am Preise Gottes wird auf uns anfeuernd zurückwirken, V. 6b (Grdt.): "Ich will sie erzählen", V. 7 (Grdt.): "sprudeln sie aus ". 4) Solcher Lobpreis erweitert sich und schwillt immer höher an, während er erschallt. Mit Gottes Majestät und seinen Werken beginnend, erstreckt er sich weiter auf seine Taten, seine Größe, seine Güte und Gerechtigkeit. Charles A. Davis 1885.
  I. Was ist preiswürdig (V. 3)? 1) Gottes Majestät, V. 5a, 2) Gottes wunderbare Werke und Taten, V. 5b, 3) Gottes furchtbare Taten, V. 6, 4) Gottes Güte, V. 7a, 5) Gottes Gerechtigkeit, V. 7b. II. Wer soll dies alles preisen? 1) Ich, 2) die Menschen alle. George Rogers 1885.
  V. 6.7. Verschiedenerlei Bekenntnis der Größe Gottes. 1) Bekenntnis unter dem Drang der Furcht, V. 6 a. Ob die Menschen zu Gottes Wohltaten auch vielfach schweigen, so müssen sie reden, wenn Gottes furchtbare Taten unter ihnen geschehen. 2) Herzhaftes Bekenntnis des Glaubens, V. 6 b. Ein gläubiges Menschenkind bezeugt die Größe Gottes, wie sie sich in seiner Macht, seiner Weisheit, seiner Wahrhaftigkeit und Gnade kundtut. Das führt andere zu dem gleichen Entschluss, und daraus entsteht 3) ein allgemeiner Abbruch dankbaren Lobes, V. 7 a. Viele lobpreisen nun die große Güte des HERRN in einem neuen Liede, das frisch und frei, ununterbrochen, fröhlich, erquickend und überströmend hervorbricht gleich einer sprudelnden Quelle. 4) Das auserlesenste Lied, die Krone des Ganzen: der jubelnde Lobgesang auf die heilspendende Gerechtigkeit Gottes, V. 7b.
  V. 7. Der Nutzen und die Pflicht des reichlichen Preisens. Predigt von C. H. Spurgeon, "Schwert und Kelle" I, S. 93. Bapt. Verlag (Cassel) 1881.
  V. 8. 1) Gnade (Wohlwollen) gegen die, die sie nicht verdienen. 2) Barmherzigkeit oder Mitleid mit den Leidenden. 3) Geduld oder Langmut gegen die Schuldigen. 4) Große Güte (Gnade) gegen die Reuigen. George Rogers 1885.
  V. 9. Die allgemeine Güte Gottes nicht unvereinbar mit der besonderen Gnadenwahl.
  V. 10. Das Solo der Heiligen im Konzert der Geschöpfe.
  V. 11. Die Ehre oder Herrlichkeit des Königreiches Christi. Sie zeigt sich 1) in dem Ursprung dieses Reiches, 2) in der Art und dem Geiste, wie es verwaltet wird, 3) in Gesinnung und Handlungsweise der Untertanen dieses Reiches, 4) in den Vorrechten, die mit der Zugehörigkeit zu diesem Reich verbunden sind. Robert Hall † 1831.
  V. 11.12. Eine herrliche Umwandlung der Rede. 1) Die Fähigkeit zu reden ist stark verbreitet. 2) Sie wird gewöhnlich missbraucht. 3) Sie kann aber zu edlen Zwecken verwendet werden. 4) Dann ist sie von herrlichem Nutzen. Charles A. Davis 1885.
  V. 11-13. Um die Erhabenheit von Gottes Königreich ins Licht zu stellen, weist der Psalmist hin: 1) Auf die Pracht desselben. Würden wir im Glauben durch den Vorhang des Sichtbaren ins Unsichtbare blicken, so würden wir mehr von der Ehre seines Königreichs (V. 11) und der herrlichen Pracht desselben (V. 12) reden. 2) Auf die Gewaltigkeit desselben. Wer von der Ehre dieses Königreichs redet, der muss auch von seiner Gewalt (V. 11b), von der Ausdehnung und der Wirksamkeit seiner Macht reden. 3) Auf die Dauer desselben (V. 13). Die Throne irdischer Fürsten wackeln und die Blumen ihrer Siegeskränze welken, und auch für die gewaltigsten Herrscher kommt die Stunde, wo ihnen das Zepter entsinkt; aber dein Reich, HERR, ist ein ewiges Reich. Matthew Henry † 1714.
V. 14. Die Gnade Gottes, wie sie sich in seiner Güte gegen die Elenden, die auf seine Hilfe hoffen, erweist. I. Er erhält alle, die da fallen. 1) Seine Gute erweist sich sogar an den tiefst gefallenen Sündern, ja auch an Abtrünnigen, die in garstigen Schmutz gestürzt sind. 2) Sein Verhalten gegen sie schließt ein: a) Mitleid, das sich ihnen naht; b) kraftvolle Hilfe, die die Gefallenen wieder auf die Füße stellt; c) bewahrendes Stützen, das sie aufrecht erhält. II. Er richtet auf alle, die niedergeschlagen (gekrümmt, gebeugt) sind. Das ist ein Trostwort 1) für solche, die von Scham und Rene gebeugt sind, 2) für solche, die sich von Verlegenheiten und Sorgen niedergedrückt fühlen, 3) für solche, auf denen das Gefühl ihrer Schwachheit gegenüber schwierigen Pflichten als schwere Bürde lastet, und 4) für solche, die in ihrem Gemüte niedergeschlagen sind, weil Sünde und Irrtum überall um sie her übermächtig werden. John Field 1885.
  Hilfe für solche, die in Gefahr sind zu fallen. 1) Wie immer unser gegenwärtiger Stand sei, wir können bald am Boden liegen durch Krankheit, Verluste, Vereinsamung, Sünden usw. 2) Wie tief wir auch stürzen mögen, wir sind niemals außer dem Bereich von Gottes Hand. 3) Wollen wir uns helfen lassen, so werden wir das mächtige Eingreifen der Liebe Gottes im Aufrichten und Aufrechthalten erfahren. Charles A. Davis 1885.
V. 15.16. Die Abhängigkeit aller Geschöpfe von Gott und Gottes Fürsorge für alle. Der Psalmist führt uns vor: I. Wie abhängig alle Geschöpfe von Gott sind: "Aller Augen warten auf dich." Wir verdanken Gott jeden Augenblick "Leben und Odem und alles". (Apg. 17,25 Grdt.) Solch völlige Abhängigkeit sollte in uns tiefe Demut erzeugen. II. Die Unerschöpflichkeit der göttlichen Mittel: "Und du gibst ihnen ihre Speise ". Seine Vorräte müssen 1) unerschöpflich reich, 2) unendlich mannigfaltig sein, denn sie genügen für alle und entsprechen den unendlich verschiedenen Bedürfnissen aller. III. Die Rechtzeitigkeit der göttlichen Versorgung: "zu seiner Zeit ". Dies Wort kann uns auch in der Geduld stärken, wenn seine Gaben sich zu verzögern scheinen. IV. Die erhabene Leichtigkeit, mit der Gott seine Kreaturen versorgt: "Du tust deine Hand auf" - und alsogleich sind die unzähligen Bedürfnisse der ganzen Kreatur befriedigt. Dies ist eine Ermutigung zu gläubigem Bitten. V. Die Genügsamkeit der göttlichen Versorgung: "Und erfüllest alles, was lebt, mit Wohlgefallen ". Gott gibt mit königlicher Freigebigkeit. Diese Wahrheit sollte alle Menschen anspornen 1) zur Dankbarkeit, denn beständige Versorgung sollte auch zu beständiger Dankbarkeit und Hingebung führen, und 2) zum Vertrauen, a) in Bezug auf die irdische Versorgung, b) in Bezug auf die Versorgung im Geistlichen. Rechtzeitige gnadenreiche Hilfe wird sicher allen denen zuteil werden, die auf den HERRN hoffen. William Jones 1878.
V. 17. Betrachten wir diesen Vers 1) als Zeugnis Gottes selbst, 2) als Zeugnis der Erfahrung der Kinder Gottes, 3) als schließliches Bekenntnis aller Geschöpfe.
V. 18-20. Sammeln wir aus diesen Versen einige Kennzeichen der Gottseligen. 1) Sie rufen den HERRN an. 2) Sie fürchten Gott. 3) Sie begehren manches von Gott. 4) Sie empfangen Antworten von Gott. 5) Sie lieben Gott.
V. 18. An den Toren des Königspalastes. I. Winke für solche, die eine Gunst begehren: 1) Rufe ihn an, und rufe ihn an. 2) Rufe ihn "in Wahrheit " (wörtl.) an, also aufrichtig, mit Hingebung des Herzens, mit Ernst. II. Ermutigung für solche: Jehovah ist nahe mit seinem hörenden Ohr, seinem mitfühlenden Herzen und seiner hilfreichen Hand. William Bickle Haynes 1885.
V. 18.19. Gesegnetes Beten. 1) Was heißt beten? Nicht nur rufen, sondern den HERRN anrufen. 2) Verschiedenerlei Beten: anrufen, begehren, schreien. 3) Eine notwendige Eigenschaft erhörlichen Gebets: dass es ein Beten "in Wahrheit" (wörtl.) sei. 4) Gottes Nahesein im Gebet. 5) Zugesicherter Erfolg des Betens: Der HERR hört, gewährt, hilft. C. A. Davis 1885.
V. 20. Die Gott lieben, werden behütet vor übermächtigen Versuchungen, vor dem Fallen in die Sünde, vor Verzweiflung, Abfall, Gewissenspein und dem Umkommen; sie werden behütet in Trübsal, Verfolgung, Niedergeschlagenheit und zuletzt im Tode; sie werden behütet zu großen Zwecken: Tätigkeit, Heiligkeit, Sieg und Herrlichkeit.
  Tief ernste Gegensätze: 1) Zwischen menschlichen Charakteren: "Die ihn lieben", "die Gottlosen"; 2) zwischen dem Geschick der Menschen: Der HERR "behütet", "wird vertilgen". Charles A. Davis 1885.
  Die Liebe zu Gott das Gegenteil der Gottlosigkeit, und Gottlosigkeit unvereinbar mit der Liebe zu Gott.
V. 21. Persönlicher Lobpreis weckt das Verlangen, dass alles Fleisch, d. i. alle Menschen, solche werden mögen, die den HERRN preisen. Wir haben bei solch gutem Werk gern tüchtige, gute Gesellschaft; wir erkennen, wie unzureichend unser eigenes Lobsingen ist; wir möchten, dass andere an diesem seligen Geschäft teilnehmen und dadurch fröhlich werden; wir sehnen uns danach, dass von allen das geschehe, was recht und gut ist.

Fußnoten

1. Man kann die Zeitwörter V. 4.6a. 7 und ebenso V. 10 f. auch futurisch übersetzen: wird preisen, werden sie verkündigen usw. Spurgeon hat den Sinn auch zum Teil futurisch gefasst; wir ziehen jedoch die Übersetzung mit dem Präsens vor. Einige (Hupfeld, Kautzsch) übersehen sogar optativisch: preise, was schwerlich dem vom Psalmisten beabsichtigten Sinne entspricht. - James Millard