Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon
PSALM 57 (Auslegung & Kommentar)
Überschrift
Ein gülden Kleinod Davids, vorzusingen; dass er nicht umkäme, Grundtext: Verderbe nicht. Diese Bitte ist so kräftig wie kurz und wohl geeignet, als Motto eines heiligen Gesanges zu dienen. David hatte in Bezug auf Saul gesagt: Verderbe ihn nicht (1. Samuel 26,9), als er ihn in seiner Gewalt hatte, und nun wendet er gern die gleichen Worte im Gebet vor Gott an. Wir dürfen aus der fünften Bitte des Vater Unsers gewiss schließen, dass der HERR unser schonen werde, wie wir unserer Feinde schonen. Wir begegnen dieser Überschrift "Verderbe nicht" in vier Psalmen, nämlich im Ps. 57; 58; 59; 75. In ihnen allen findet sich deutlich bezeugt die Verstörung der Gottlosen und die Erhaltung der Gerechten, des heiligen Samens, über welchen der göttliche Ratschluss lautet: Verderbe sie nicht (Jes. 65,8). Da er vor Saul floh in die Höhle. Dies Lied kommt aus dem Innern der Erde, und man merkt ihm, gleich dem Gebet, das Jona aus der Tiefe des Meeres zu Gott emporsandte, seinen Ursprung an. Der Dichter befindet sich zuerst in der Düsternis der Höhle; aber hernach tritt er ans Tageslicht und singt fröhlich in der frischen, freien Gottesluft, das Auge zum Himmel gerichtet und heitern Sinnes die Wolken betrachtend, die an der Feste dahinziehen.
Einteilung. Der verfolgte Knecht des HERRN stärkt sich im Gebet, V. 2-7; dann äußert sich die im Gebet gewonnene Glaubenszuversicht in der Selbstaufforderung, den HERRN zu preisen, V. 8-12.
Auslegung
2. | Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig! denn auf dich trauet meine Seele, und unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis dass das Unglück vorübergehe. |
3. | Ich rufe zu Gott, dem Allerhöchsten, zu Gott, der meines Jammers ein Ende macht. |
4. | Er sendet vom Himmel und hilft mir von der Schmähung des, der wider mich schnaubet. Sela. Gott sendet seine Güte und Treue. |
5. | Ich liege mit meiner Seele unter den Löwen; die Menschenkinder sind Flammen, ihre Zähne sind Spieße und Pfeile und ihre Zungen scharfe Schwerter. |
6. | Erhebe dich, Gott, über den Himmel und deine Ehre über alle Welt. |
7. | Sie stellen meinem Gange Netze und drücken meine Seele nieder; sie graben vor mir eine Grube und fallen selbst drein. Sela. |
2. Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig. Dringende Not fordert Wiederholung des flehenden Rufes, denn eben darin drückt sich die Dringlichkeit des Begehrens aus. Wenn nach dem alten Sprichwort zwiefach gibt, wer schnell gibt, so muss auch der, welcher schnell empfangen will, zwiefach bitten. Das erste, was der Dichter sich erfleht, ist, dass Gott ihm Gnade erweise, und er fühlt, dass er eine bessere Bitte nicht vorbringen könnte, darum wiederholt er sie. Gott ist der Gott aller Gnade und der Vater der Barmherzigkeit; so schickt es sich denn wohl, dass wir in der Drangsal bei dem Gnade suchen, der aller Gnade Urquell ist. Denn auf dich trauet meine Seele, wörtl.: bei dir hat meine Seele sich geborgen. Der Glaube macht seine ihm von Gott verliehenen Rechte mit Nachdruck geltend. Wie könnte der HERR seine Freundlichkeit einer Seele weigern, die vertrauensvoll bei ihm Zuflucht sucht? Unser Glaube ist kein Verdienst, mit dem wir uns Gottes Gunst erwürben; aber diese wird ihm aus freiem Liebestriebe stets zuteil, wenn er aufrichtig ist, wie es bei David der Fall war, der mit ganzer Seele auf Gott traute. So man von Herzen glaubt, so wird man gerecht (Röm. 10,10). Und unter dem Schatten deiner Flügel habe ich (und suche ich fort und fort, und so auch jetzt,) Zuflucht. Nicht in der Höhle nur (V. 1) wollte er sich bergen sondern in der Kluft des ewigen Felsen. Wie die Vöglein unter den Flügeln der Mutter ein geräumiges und sicheres Obdach finden, so wollte der arme Flüchtling sich unter den sicheren Schutz der göttlichen Macht begeben. Das Bild ist köstlich, so traulich und so sinnreich. Gebe Gott, dass wir alle seine Bedeutung aus Erfahrung verstehen! Wenn wir den Sonnenschein des Angesichts unsers Gottes nicht sehen können, ist es gar selig, unter dem Schatten seiner Flügel. niederzukauern. Bis dass das Unglück vorübergehe. David weiß sich in großer Gefahr, denn wie ein verheerender Sturmwind braust das Verderben daher und sucht ihn zu vernichten; aber ein Sturmwind geht vorüber, und bis dahin werden die Flügel des Allmächtigen das Gotteskind schirmen. Gottlob! Gefahr und Unglück sind Dinge der Zeit, unsere Sicherheit aber ist ewig. Wenn wir unter Gottes Schirm und Schatten sind, kann uns das vorüberziehende Wetter der Trübsal nicht schaden; der Habicht kreist in der Luft, aber das hat für die Küchlein nichts zu sagen, die wohlgeborgen unter der Henne nisteln.
3. Ich rufe zu Gott. Er fühlt sich ganz sicher; dennoch betet er, denn der Glaube ist nie stumm. Wir beten, weil wir glauben. Wir betätigen kraft des Glaubens den Geist der Kindschaft, durch welchen wir zu Gott als dem Vater rufen. Statt "Ich rufe" können wir auch, entsprechend dem "Ich will Zuflucht suchen" in V. 2b, übersetzen: Ich will zu Gott rufen. Diesen Entschluss, zu Gott zu rufen, mögen wir alle festhalten, bis wir durch die Perlentore eingehen; denn solange wir hienieden sind, werden wir stets Veranlassung haben, uns himmlischen Beistand zu erflehen. Zu Gott, dem Allerhöchsten. Vor Gott allein beugen wir unsere Knie. Die Größe und Erhabenheit seines Wesens und seiner Gesinnung ermutigen uns zum Gebet. Mögen unsere Feinde in noch so hoher Stellung sein, unser himmlischer Freund ist doch noch höher, denn er ist der Allerhöchste, und von seinem erhabenen Throne der Macht vermag er uns leicht die Hilfe zu senden, deren wir bedürfen. Zu Gott, der es für mich hinausführt. (Grundtext, vergl. Ps. 138,8) Der Psalmist hat triftigen Anlass zu beten, denn er sieht, dass Gott für ihn am Werk ist. Der Gläubige harrt, und Gott handelt. Der HERR hat unsre Sache in seine Hand genommen, und er wird seine Hand nicht zurückziehen, sondern seine Bundesverpflichtungen erfüllen. Was führt er denn zum Besten des auf ihn Trauenden hinaus? Die englische Bibel ergänzt: "alle Dinge" und trifft damit gewiss den Sinn des Grundtextes, der uns hinter dem Zeitwort gleichsam einen leeren Raum lässt, in den wir alles und jedes hineinschreiben können, das der HERR für uns zu tun angefangen hat. Was er unternimmt, das wird er auch hinausführen; darum ist jede Gnadentat der Vergangenheit eine Bürgschaft für die Zukunft und ebendaher auch ein trefflicher Grund am Gebet anzuhalten.
4. Er sendet vom Himmel und hilft mir. Wenn sich auf Erden keine geeigneten Werkzeuge finden, so muss der Himmel seine Engellegionen hergeben zum Entsatz der Heiligen. In Zeiten besonderer Not dürfen wir Gnadentaten sonderlicher Art erwarten, ähnlich wie die Israeliten in der Wüste ihr Brot jeden Morgen frisch aus dem Himmel bekamen. Gott wird zur Vernichtung unserer Feinde die himmlischen Batterien ihr Feuer eröffnen lassen und jene damit völlig in Verwirrung bringen. Wo immer der Kampf heißer als gewöhnlich entbrennt, da werden Hilfstruppen vom Hauptquartier kommen; denn der oberste Feldherr überblickt das ganze Schlachtfeld. Von der Schmähung des, der wider mich schnaubet, oder: nach mir schnappt, mir nach dem Leben trachtet.1 Zur rechten Stunde wird der HERR der Heerscharen eingreifen, um seine Knechte nicht nur vor dem Verschlungenwerden, sondern auch von den Schmähungen ihrer Feinde zu erretten. Sela. Solche Freundlichkeit mag uns wohl zu stillem Sinnen und fröhlichem Danken veranlassen. Gott sendet seine Güte und Treue. Um Gnade hatte er gebeten, und Gottes Treue gesellte sich zu seiner Gnade. So gibt Gott uns stets mehr, als wir bitten und erwarten. Seine glorreichen Vollkommenheiten sind gleich schnellbeschwingten Engeln, allezeit bereit, seinen Auserwählten zu Hilfe zu eilen.
5. Meine Seele ist mitten unter Löwen. (Grundtext) Er war ein rechter Daniel. Angebrüllt, gehetzt, verwundet war er und doch nicht ertötet. Der Ort, da er weilte, bot die größten Gefahren; dennoch gab ihm der Glaube ein solches Gefühl der Sicherheit, dass er sich dort zum Schlafe zu lagern entschlossen war, wie er gleich sagt. Die Höhle mag ihn an eine Löwengrube erinnert haben, und Saul und seine Häscher mit ihrem Lärm und ihrem Wutgeheul der Enttäuschung, dass sie David nicht erhascht hatten, waren dann die Löwen; doch fühlte er sich unter Gottes Schutz wohlgeborgen. Ich will mich lagern2 unter Flammen sprühenden. (Grundtext) Vielleicht hatten Saul und seine Leute bei ihrem Aufenthalt in der Höhle ein Feuer angezündet und wurde David dadurch an das noch heißer lodernde Feuer des Hasses erinnert, das in ihrem Busen brannte. Die Gläubigen sind oft gleich dem Dornbusch am Horeb mitten in Flammen und werden doch nie verzehret. Das ist ein herrlicher Triumph des Glaubens, wenn wir uns selbst unter Feuerbränden zum Schlafe niederlegen und Ruhe finden können, weil Gott unser Schutz ist. Unter Menschen, deren Zähne Spieße und Pfeile sind, deren Zunge ein scharfes Schwert ist. (Grundtext) Boshafte Menschen tragen eine ganze Waffenrüstung in ihrem Munde. Sie brauchen diesen nicht als harmlose Mühle zum Zerkleinern der ihrem Leibe nötigen Nahrung, sondern ihre Kiefer scheinen nur dazu da zu sein um Unheil anzurichten, als ob jeder ihrer Zähne ein Spieß oder Pfeil wäre. Sie scheinen gar keine Mahlzähne, sondern nur Spitzzähne zu haben - ihrer Raubtiernatur entsprechend. Was aber das unruhige Übel, die Zunge, betrifft, so ist sie bei den boshaften Menschen ein scharfes, zweischneidiges, Tod und Verderben bringendes Schwert. Der Ausdruck steigert sich, indem die Zunge nicht nur ein Schwert, sondern ein scharfes Schwert genannt wird, als sollte angedeutet werden, dass die Menschen, wenn sie uns auch gleich Raubtieren mit ihren Zähnen zerrissen, uns damit doch noch nicht so verwunden könnten, wie sie es mit ihrer Zunge tun. Keine Waffe ist so schrecklich wie die Zunge des Menschen, wenn sie auf des Teufels Wetzstein geschärft worden ist. Dennoch brauchen wir auch dies Schwert nicht zu fürchten, denn "eine jegliche Waffe, die wider dich zubereitet wird, der soll es nicht gelingen, und alle Zunge, so sich wider dich setzt, sollst du im Gericht verdammen." (Jes. 54,17.)
6. Erhebe dich, Gott, über den Himmel. Das ist der Kehrvers des Psalms. Manche übersetzen: Werde erhoben, Gott, über den Himmel.3 Ehe der Psalmdichter den bittenden Teil seines Psalms ganz schließt, schiebt er einen Vers des Preises ein. Herrlich ist dieser Lobpreis, kommt er doch aus der Höhle der Löwen und mitten aus den Flammen. Höher als die Himmel ist der Allerhöchste, und so hoch sollte auch sein Preis aufsteigen. Die Herrlichkeit Gottes hat sich in seinen Liebesgedanken über seine Auserwählten höher geoffenbart, als dass selbst die Cherubim und Seraphim ihr Lob gebührend ausdrücken könnten. Über die ganze Erde (breite sich) deine Ehre oder Herrlichkeit. (Grundtext) Wie droben in der Höhe, so werde auch hienieden deine Ehre allerwärts verkündigt. Wie die Luft alles umgibt, so umgürte der Lobpreis deines Namens die ganze Erde mit einer Zone des Gesangs.
7. Sie stellen meinem Gange Netze. Die Feinde der Frommen lassen sich keine Mühe verdrießen, sondern betreiben ihre ruchlosen Anschläge mit der kühlsten Berechnung. Wie man für jede Art Fische, Vögel oder Wildbret das geeignete Netz in besonderer Weise stellen muss, je nach der Natur und Lebensart der Beute, welche man fangen will, so passten diese gottlosen Widersacher Davids ihre Anschläge auch mit wohlüberlegter boshafter List den besonderen Lebensumständen und dem Charakter dessen an, den sie sich als Beute ersehen hatten. Was immer David tun und wohin immer er seine Schritte richten mochte, seine Feinde waren stets in Bereitschaft, ihn auf die eine oder andere Weise in einer Schlinge zu fangen. Und drücken4 meine Seele nieder. Er wurde niedergehalten wie ein Vogel im Netz; seine Feinde gaben sorgsam Acht, ihm keinerlei Trost, keinerlei Hoffnung zu lassen. Sie graben vor mir eine Grube und fallen selbst drein. Er vergleicht die Anschläge seiner Verfolger mit den Gruben, welche die Jäger zu graben pflegen um ihre Beute zu fangen. Man legte diese Fallgruben in den Gängen des Wildes an; so sagt David hier: sie graben sie vor mir, d. h. auf den Wegen, die ich gewöhnlich gehe oder nach ihrer Erwartung gehen werde. Nun aber freut er sich, dass sich ihre verderblichen Pläne durch Gottes Fügung wider sie selber gewendet haben. (Grundtext Perf.) Saul hetzte den David, aber statt dass Saul den David erhascht hätte, fing dieser vielmehr den Saul mehr denn einmal, so auch eben in der Höhle (V. 1), so dass er ihn auf der Stelle hätte töten können. Diese Erfahrung erfüllte David mit der frohen Gewissheit, dass Gott auch ferner alle Anschläge der Feinde unschädlich machen und ihnen selber zum Verderben gereichen lassen werde. Das Böse ist ein Strom, der eines Tages zu seiner Quelle zurückfließt. Sela. Wir setzen uns an den Rand der Grube und schauen mit Verwunderung die gerechte Vergeltung der Vorsehung.
8. | Mein Herz ist bereit, Gott, mein Herz ist bereit, dass ich singe und lobe. |
9. | Wache auf, meine Ehre, wache auf, Psalter und Harfe;mit der Frühe will ich aufwachen. |
10. | Herr, ich will dir danken unter den Völkern; ich will dir lobsingen unter den Leuten. |
11. | Denn deine Güte ist, soweit der Himmel ist, und deine Wahrheit, soweit die Wolken gehen. |
12. | Erhebe dich, Gott, über den Himmel und deine Ehre über alle Welt. |
8. Mein Herz ist fest (wörtl.), Gott. Man würde eher erwarten, dass er sagen werde, sein Herz sei beunruhigt, er flattere ängstlich hin und her; aber nein, sein Herz ist fest, er ist getrost und heiter, gesetzt und von festen Entschlüssen. Wenn die Achse fest ist, arbeitet das ganze Rad gut. Wenn der große Buganker hält, kann das Schiff nicht treiben. Mein Herz ist fest. Ich bin entschlossen, auf dich zu trauen, dir zu dienen, dich zu preisen. Zweimal versichert er dies, zur Ehre Gottes, der die Seele seiner Knechte tröstet. Lieber Leser, dann steht es gewisslich gut um dich, wenn dein einst unbeständiges Herz nun fest auf Gott und die Verkündigung seines Ruhmes gerichtet ist. Singen will ich und spielen. (Wörtl.) Mit meiner Stimme und mit Saitenspiel will ich dich verherrlichen, so gut ich’s vermag. Mit Herz und Mund will ich dir die Ehre geben, die dir gebührt. Der Satan soll mich nicht daran hindern, noch Saul noch die Philister. Ich will die Felsenhöhle von Musik erklingen lassen, und alle ihre Gänge sollen von fröhlichen Lobgesängen widerhallen. Gläubige Seele, fasse auch du den festen Entschluss, zu allen Zeiten den HERRN zu preisen!
9. Wache auf, meine Ehre. Mögen die edelsten Kräfte meiner Natur sich regen: der Verstand, der die Gedanken erzeugt, die gottbegeisterte Dichtkunst, die sie schmückt, die Zunge, die sie ausspricht - mögen sie miteinander ihr Bestes tun, jetzt, da des HERRN Lob erschallen soll. Wache auf, Psalter und Harfe. Mögen alle die Musikinstrumente, mit denen ich vertraut bin, harmonisch erklingen zu heiligem Preise. Mit der Frühe will ich aufwachen, Grundtext: Ich will das Morgenrot aufwecken. Wenn die Sonne noch in ihrer Kammer schläft, will ich schon mein frisches Lied ertönen lassen und mit ihm die Kreatur zum Preis des Schöpfers und Erhalters aufrufen. Nicht schläfrige Weisen und zum Gähnen langweilige Vers soll man von mir zu hören bekommen; ich will zu diesem heiligen Werk selber vollauf wach sein und mein bestes Können einsetzen, um mich und andere zum Preise des HERRN zu reizen. Wenn wir es noch so gut machen, bleiben wir doch weit hinter dem zurück, was der HERR verdient; darum lasst uns wenigstens des gewiss sein, dass das, was wir bringen, unser Bestes ist und, wenn es nun einmal mit Schwachheit behaftet sein muss, doch wenigstens nicht von Lässigkeit verunstaltet ist.
10. Herr (Adonai), ich will dir danken (dich preisen) unter den Völkern. Heiden sollen mein Lobpreisen vernehmen. Wir haben hier ein Beispiel davon, wie die wahrhaft fromme, im Mittelpunkt der Heilswahrheit wurzelnde Gesinnung die Zäune überspringt, welche die Bigotterie aufrichtet. Der Israelit gewöhnlichen Schlages hätte niemals gewünscht, dass die Heiden, diese Hunde, Jehovas Namen vernähmen, es wäre denn, um vor demselben zu zittern; der Psalmdichter aber, der die Unterweisung der göttlichen Gnade genossen hat, ist von echtem Missionsgeist erfüllt und möchte den Preis und Ruhm seines Gottes überallhin verbreiten. Ich will dir lobsingen (dich mit Saitenspiel preisen) unter den Leuten. Zu allen Nationen, so fern sie auch sein mögen, möchte ich durch Lied und Saitenspiel das Lob deines Namens dringen lassen. Es war ja Israels Mission, dereinst der Vermittler der Gotteserkenntnis für die Nationen zu werden. Wenn David diesen Beruf schon lebhaft in sich fühlte, so täuschte er sich darin nicht, wenn er diesen Beruf auch vornehmlich erst erfüllen sollte, nachdem er selber der Erde entrückt war. Reicher, als er es je hat ahnen können, ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen; denn seine Psalmen und Lobgesänge preisen in der Tat unter allen Nationen den HERRN.
11. Denn groß bis zum Himmel ist deine Gnade. (Grundtext) Gerade auf aus des Menschen Niedrigkeit zu des Himmels hehren Höhen reicht die Gnade. Die menschliche Vorstellungskraft reicht nicht hin, die Höhe des Himmels zu schätzen, und ebenso übersteigt der Reichtum der Gnade unsere höchsten Gedanken. Wie der Psalmist so am Eingang seiner Höhle sitzt und zum Firmament aufblickt, freut er sich, dass Gottes Güte weiter und höher ist als selbst das unermesslich hohe und weite Himmelsgewölbe. Und deine Treue bis an die Wolken. (Grundtext) In die Wolken setzt Gott das Siegel seiner Treue, den Regenbogen, der seinen Bund bekräftigt; in den Wolken birgt er Regen und Schnee, die ebenso seine Treue erweisen, indem sie uns Saat- und Erntezeit, Kälte und Hitze bringen. Die Schöpfung ist groß, der Schöpfer aber noch weit größer. Der Himmel kann ihn nicht fassen; hoch über Wolken und Sterne ragt seine ewige Güte.
12. Erhebe dich, oder: Werde erhoben, Gott, über den Himmel. (Siehe d. Anm. zu V. 6, S. 256.) Ein herrlicher Refrain. Nehmt ihn auf, ihr Engel und ihr vollendeten Gerechten, und stimmt mit ein, ihr Menschenkinder hienieden, indem ihr hinzufügt: Über die ganze Erde (breite sich) deine Herrlichkeit. (Grundtext) Im elften Vers hatte der erleuchtete Sänger davon geredet, dass Gottes Gnade bis zum Himmel reiche; hier aber steigt sein Lied über die Himmel empor. Der Lobpreis schwingt sich immer höher hinan und kennt keine Grenzen und Schranken.
Erläuterungen und Kernworte
Zur Überschrift. Ein Lied, als David vor Saul in jene Höhle geflohen war, von der er auch Ps. 142 spricht und die, da sie schlechtweg die Höhle heißt, wohl keine andere ist als jene bekannte, worein er sich mit seinen sechshundert (1. Samuel 23,13) Leuten verborgen hatte, als Saul hineinkam und er den Zipfel von seinem Kleide schnitt (1. Samuel 24,4 ff.). Bis auf die höchsten Alpenhöhen, wo nur in den heißesten Sommermonaten das Vieh hingetrieben wurde, "bei den Schafhürden", war der König mit dreitausend Mann ihm nachgejagt, um in jedem Schlupfwinkel ihn aufzusuchen. Da war nun eine Höhle, in deren kühles Dunkel sich David mit seinen Leuten verborgen hatte. Solche Höhlen in Palästina und im Morgenlande sind zuweilen von Menschenhänden noch erweitert und so groß, dass sie Tausende fassen. In den ängstlichen Stunden, wo David hier abwarten wollte, bis das Verderben vorüber sei (V. 2), ist dies Klagelied gesungen, darin er sich erst allmählich ein festes Herz erringt (V. 8). Wie hat da sein Leben an einem Haar gehangen, wenn Saul oder einer von seinen Begleitern ihn wäre gewahr geworden! Prof. August Tholuck 1843.
Zum ganzen Psalm. So eng David in der Höhle eingeschränkt war, so erweitert war sein Herz. Er bat um Schutz und Gnade und war derselben auch gewiss, V. 2.3.4. Er bezeugt, wie sein Herz zum Singen und Loben jetzt geschickt sei, V. 8. Er redet seine Ehre, d. i. seine Zunge, und seine Psalter und Harfe auf eine poetische Weise selbst an, dass sie zum Lob Gottes aufwachen sollen. Früh, sagt er, will ich aufwachen, Gott zu loben, ehe ich noch etwas anderes zu besorgen bekomme. Er breitet sich mit seinem erfreuten Gemüt über Völker und Leute, Himmel, Wolken und die ganze Welt aus und bekam eine sehr große Aussicht in das Reich Gottes. Unter den Völkern verspricht er Gott noch zu danken und unter den Leuten ihm Lob zu singen, V. 10. Vom Himmel, sagt er, sende der HERR seine Güte und Treue, ihm und allen Auserwählten zu helfen, V. 4. Von der Güte des HERRN spricht er, dass sie so weit und breit wie der Himmel sei, und von der Wahrheit Gottes, dass sie sich offenbare, soweit die Wolken gehen, V. 11. Zweimal ruft er aus, V. 6. 12: Erhebe dich, Gott, über den Himmel, d. i. offenbare dich als den Allerhöchsten in dem ganzen Himmel, und deine Herrlichkeit (lass kund und hoch gerühmt werden) auf der ganzen Erde! David erkannte also die Verbindung, die zwischen dem Himmel und der Erde, zwischen dem Höchsten und Niedrigsten im Reich Gottes sei. Er war ein armes Würmlein auf der Erde, die Gottes Fußschemel ist; aber im Himmel, wo Gottes Thron ist, wurde seiner gedacht und ihm von da aus Güte und Treue zu Hilfe gesandt. Er war ein einzelner Mann und mit seinen Leuten eng eingeschlossen; er hoffte aber noch unter Völkern und Leuten zum Bekenntnis des Namens Gottes Raum zu gewinnen. Er musste bald da, bald dort hin fliehen; wo er aber den Himmel über sich ausgebreitet sah, da glaubte er im Genuss der Güte Gottes zu stehen, und wo er die Wolken über sich schweben sah, da hoffte er die Wahrheit der Verheißungen Gottes zu erfahren. Er wusste, dass der Himmel seine Bewohner wie die Erde ihre Bewohner habe; darum bat er um eine neue Erweisung der Hoheit und Herrlichkeit Gottes, sowohl bei jenen wie bei diesen, und weil der Geist Gottes diese Bitte in dem Herzen Davids gebildet hat, so ist sie ohne Zweifel geschehen. Vergleicht man nun den Saul, der draußen auf dem freien Feld mit einem trotzigen Grimm umherschweifte, mit dem in der Höhle betenden David: wie ungleich sind sie einander! Sauls Herz war finster, das Herz Davids heiter; Saul lief aufs Ungewisse, wohin ihn seine Begierden trieben, Davids Herz war auf einen Felsen gegründet und seiner Sache gewiss. Saul verfehlte zu seinem großen Verdruss allenthalben seinen Zweck, David harrte des HERRN und erreichte seinen Zweck überall mit Freuden. Saul fluchte vielleicht, David betete. Saul durchstrich die Wüste Engedi mit einem wilden Geschrei, David sang indessen liebliche Lieder. Wer sollte nicht mit David und allen Kindern und Knechten Gottes lieber Gemeinschaft haben als seinen Teil mit der argen Welt dahinnehmen? Prälat M. Fr. Roos 1773.
Der unleugbare (mehr rhetorische) Schwung des Psalms wird erreicht durch die häufige und wirkungsvolle Anwendung der Figur der Repetitio (der nachdrucksvollen Wiederholung einzelner Worte), welche in V. 2.4.8.9 als Anaphora (Wiederholung am Satzanfang), in V. 2b u. c und V. 9 außerdem als Polyptoton (dasselbe Wort in verschiedenen Flexionsformen) auftritt. Beachtenswert ist auch die Alliteration in V. 5c. d und V. 10, sowie das viermalige $ in V. 4a und die viermalige Verbindung einer Gutturalis mit folgendem l in V. 3. Lic. Hans Keßler 1899.
V. 2. Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig. Das ist mir die eine Quelle aller meiner Erwartungen, der eine Born, in dem mir alle Verheißungen zufließen: Miserere mei, Deus, miserere mei. Bernhard von Clairvaux † 1153.
Seine Seele traute auf den HERRN: die Kraft dieser Ausdrucksweise wolle man nicht übersehen; denn es liegt darin, dass das Gottvertrauen, welches er an den Tag legte, ihm aus der Tiefe des Gemütes kam, dass es also nicht oberflächlicher Art war, sondern tief und stark gewurzelt. Er bezeugt dasselbe in bildlichem Ausdruck, wenn er im Folgenden die Überzeugung ausspricht, dass Gott ihn mit dem Schatten seiner Flügel decken werde. Jean Calvin † 1564.
Bis dass das Unglück vorübergehe. Er vergleicht seine Trübsal und das Unheil, welches seine Feinde anrichten, mit einem Unwetter, das kommt und geht. Wie wir in diesem Leben nicht immer Sonnenschein haben, so auch nicht immer Sturm und Regen. Athanasius sagte von Julian dem Abtrünnigen: Nubecula est, transibit, es ist nur eine kleine Wolke, die geht vorüber! Der Mensch ist zu Leiden und Mühsal geboren, und namentlich der Gerechte muss viel leiden, aber der HERR hilft ihm aus dem allen (Ps. 34,20). Wenn wir auf ihn unser Vertrauen setzen und alle unsere Sorge auf ihn werfen, so wird er es zur rechten Stunde geschehen lassen, da alle unsere Anfechtungen vorübergehen. Entweder wird er sie von uns nehmen oder uns aus ihnen herausnehmen, und dann werden wir klar erkennen, dass alle Leiden dieser Zeit der Herrlichkeit nicht wert sind, welche in dem zukünftigen Leben an uns geoffenbart werden soll. John Boys † 1643.
V. 3. Der (es) für mich hinausführt oder vollendet. (Grundtext) Das Targum übersetzt etwa: der ganz um mich ist, und deutet es: "Der der Spinne gebot, dass sie ihr Gewebe um mich mache und das Loch der Höhle verschließe," nach der jüdischen Sage, dass ein Spinnengewebe den Saul habe glauben lassen, dass niemand in der Höhle sei. Andrew A. Bonar 1859.
V. 4. Der wider mich schnaubet, eigentlich: nach mir schnappt, mich zu verschlingen begierig ist. Wenn ich euch in mein Haus führen wollte und sagte, ich hätte da einen ausgezeichnet fetten Menschen, den ihr mir solltet essen helfen, so könnte eure Entrüstung durch nichts besänftigt werden. Ihr würdet mich für verrückt erklären. Es gibt in ganz Neuyork keinen Menschen, der so gemein wäre, dass er dem nicht sagen würde, wieviel es geschlagen habe, der ihm im Ernst den Vorschlag machte, von einem Mitmenschen eine Mahlzeit zu halten, von ihm Koteletts zu schneiden und sie zu verspeisen. Aber was ist das anders als aus einem Mitmenschen ein Festmahl bereiten, wenn alle zusammensitzen, dem Nächsten das Beste, was er hat, seine Ehre, herausschneiden, sich seine zartesten Stellen aussuchen und die Nachbarn einladen, sich die Leckerbissen wohlschmecken zu lassen? Man nimmt einem Manne Ehre und guten Namen, brät die saftigen Bissen auf den Kohlen des Hasses, erfüllt das ganze Zimmer mit dem verlockenden Dufte, gibt dem Nachbarn ein Stück, beobachtet, wie es ihm schmeckt, und wünscht ihm gesegnete Mahlzeit. Ja, ihr seid Kannibalen - ihr verzehrt die Seelen, die feinsten Stücke eurer Mitmenschen. Es ist euch ein Hochgenuss, wenn ihr jemand ein Wort zuflüstern könnt, das eurem Nächsten oder seiner Frau oder Tochter an ihrem guten Rufe Abbruch tut. Es ist ein zu leckerer Bissen, als dass man ihn ungegessen lassen dürfte. So bringt ihr auf einer Schüssel, fein zugerichtet, das Zarteste und Beste, was an einem Menschen ist, seine Hoffnung für diese Welt und die zukünftige, ihr spießt es auf eure Gabel und könnt nicht umhin, davon zu kosten, und gebt auch euern Freunden davon. Ihr seid nicht besser als die Wilden, ihr verschlingt eines Menschen guten Namen und Ehre, und zwar mit Lust - und das sogar, wenn ihr nicht einmal wisst, ob die Beschuldigungen, die man gegen ihn vorbringt, wahr oder erlogen sind, ja wiewohl es in neunundneunzig aus hundert Fällen wahrscheinlich ist, dass sie nicht wahr sind. Henry Ward Beecher 1870.
Gott sendet seine Güte und Treue, nämlich zu meiner Rettung. Das heißt: Gott wird mich retten, um an mir seine Gnade zu offenbaren und die Zuverlässigkeit seiner Verheißungen zu erweisen. Der Leser wird erkennen, dass Gnade und Treue hier (vergl. Ps. 23,6; 43,3) dichterisch als Diener Gottes dargestellt werden, die vor ihm stehen, seiner Winke gewärtig, um sein Wohlgefallen zu erfüllen, und die von ihm als Werkzeuge zur Rettung der Seinen gebraucht werden. Samuel Chandler † 1766.
V. 5. Ihre Zähne, d. i. ihre Reden, so durch die Zähne gehen, sind Spieße und Pfeile, gleich den allerschärfesten Mordgewehren, die in der Nähe und Ferne verwunden und Schaden zufügen. Johann David Frisch 1719.
V. 7. Netze, Grube. Da die Alten keine Feuerwaffen hatten, waren sie viel geübter als wir in der Anwendung von Schlingen, Netzen und Fallgruben zum Fangen wilder Tiere. Nicht wenige biblische Bilder und Anspielungen setzen diesen Stand der Dinge voraus. W. M. Thomson 1859.
V. 8-12. werden in Psalm 108 mit einigen Abänderungen wiederholt. - James Millard
V. 8. Dass ich singe und lobe. Es ist wohl geeignet, die Gottlosen in Furcht und Schrecken zu setzen, dass sie es mit einem Volk zu tun haben, das singend und lobpreisend in die Schlacht zieht. Ja, die Gottesfürchtigen singen nie lauter, als wenn sie in den größten Trübsalen und Anfechtungen sind. Ob die Heiligen siegen oder unterliegen, sie singen immerzu. Gott sei dafür gepriesen. Mögen die Sünder davor erzittern, gegen Leute zu kämpfen, die solch übermenschliche Tapferkeit haben. William Swan Plumer 1867.
Sein aufrichtiges Gottvertrauen lässt den Christen singen, selbst wenn er sich hungrig auf sein Lager strecken muss. David war wahrlich nicht in der rosigsten Lage, als er sich in der Höhle befand; dennoch finden wir ihn kaum je fröhlicheren Muts. Sein Herz machte lieblichere Musik, als seine Harfe es je getan. William Gurnall † 1679.
V. 9. Wache auf, Psalter und Harfe. Eine Zither, sagt der Talmud mit Bezug auf diese Psalmstelle, hing über Davids Bett, und wenn Mitternacht kam, blies der Nordwind in die Saiten, dass sie von selber klangen; sogleich stand David auf und beschäftigte sich mit der Tora (dem Gesetz), bis die Säule des Morgenrots aufstieg. Die übrigen Könige, bemerkt Raschi, weckt die Morgenröte, ich aber, sagt David, will die Morgenröte aufwecken. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
Ich will das Morgenrot aufwecken. (Grundtext) Es ist Goldes wert früh zu arbeiten, aber im höchsten Grad Goldes wert, frühe zu beten und mit dem HERRN zu reden, Gottes Wort zu lesen und darüber nachzudenken. In den Morgenstunden, wo die halbe Welt noch schläft und das Geräusch und der Lärm des menschlichen Verkehrs noch verstummt ist, wo wir selber noch nicht zerstreut sind, da ist Herz und Seele noch am nächsten bei Gott und am empfänglichsten für seine Stimme und für alle seine Einwirkungen. Vergl. Ps. 88,14; 119,148; Jes. 26,9; Ps. 5,4. Reinhard Zeller 1887.
Meine Ehre. Das ist nach der Ansicht der meisten (älteren) Ausleger die Seele, weil der Geist des Menschen seine Ehre ist, wodurch er so hoch über die Tiere erhaben ist, dass er nur ein wenig niedriger als die Engel, ja Gott selbst, dem Vater der Geister, verwandt ist. Andere verstehen darunter die dichterische und musikalische Fähigkeit, die Ehre des Künstlers gegenüber dem in der Kunst Unbewanderten. In der Kunst hatte David in der Tat die Ehre der Meisterschaft, wie Jubal die des Erfinders. Wieder andere meinen, es sei die Zunge gemeint. Die Sprache ist allerdings die Ehre des Menschen gegenüber der stummen Kreatur und des Weisen gegenüber dem Toren. Und wie die Zunge die Ehre des Menschen ist, so ist es die Ehre der Zunge, Gott die Ehre zu geben, ihn zu verherrlichen. Die Zunge ist in dem Leibe, diesem Tempel des heiligen Geistes, das, was die silbernen Trompeten im Tempel Salomos waren: sie soll den Lobpreis Gottes ertönen lassen und der Begeisterung unserer Seele Ausdruck geben. Psalter und Harfe. Alle meine musikalische Kunst will ich anwenden und der Ehre dessen weihen, der mir ein neues Lied in meinen Mund gegeben hat. Er lehrt meine Finger erst den Bogen spannen zum Kampf und dann auf Psalter und Harfe das Triumphlied spielen. So ertönt denn laut, Psalter und Harfe, wetteifert mit dem obern Chor, der um den Thron Gottes geschart ist. Eure Weisen sind wohl geeignet, meine Sorgen zu dämpfen, meine Furcht zu beschwichtigen und die dumpfe, dunkle Höhle in ein Gotteshaus zu verwandeln. Benjamin Grosvenor † 1758.
V. 10. Unter den Völkern. Die jüdische Kirche war weder berufen noch geeignet, eine Missionsgesellschaft zu sein; aber sie ließ nie ab von dem Verlangen und der Hoffnung, dass die Heiden bekehrt werden möchten. Das zeigt sich z. B. in den Stellen, wo die Psalmdichter die Gewissheit ausdrücken, dass sie eines Tages alle Welt zu Zuhörern haben würden. Wie kühn ruft David aus: Ich will dir danken unter den Völkern usw. In demselben Geist ruft ein späterer Psalm die Kirche auf, ihre Stimme zu erheben, damit alle Nationen sie die großen Taten Gottes mögen preisen hören (Ps. 105,1). Wie oft wird überhaupt in den Psalmen der Völker gedacht. Und nicht nur mittelbar, wie in den angeführten Stellen, sondern auch ganz ausdrücklich wird die Bekehrung der Heiden in vielen herrlichen Psalmen vorausgesagt. Diese Weissagungen finden sich so zahlreich, und zwar in den Psalmen aller Zeiten von David an bis zu der Zeit nach dem Exil, dass daraus ersichtlich ist, dass der Heilige Geist während des ganzen langen Zeitraums der Psalmdichtung den Sängern Zions immer wieder neue Lieder in den Mund gelegt hat, in welchen sie die weltumfassenden Hoffnungen des Volkes Gottes zum Ausdruck brachten. William Binnie 1870.
V. 11. Ein unkindliches und undankbares Herz sieht mitten im Glücke nur einzelne Tropfen göttlicher Gnade; ein dankbares Herz wie Davids Herz sieht - und wenn es, von Verfolgern gejagt, in einer Höhle Dunkel seine Zither anschlägt - göttliche Gnade und göttliche Treue als ein großes Meer, das wogt und wallet von der Erde bis zu den Wolken und von den Wolken wieder bis zur Erde herab. Prof. August Tholuck 1843.
V. 12. O zeig erhaben dich über die Himmel hin, Elohim, über die ganze Erde deine Herrlichkeit. Himmel und Erde haben eine ineinandergreifende Geschichte, und das selige, herrliche Ende dieser ist der hier erflehte Sonnenaufgang der göttlichen Doxa (Herrlichkeit) über beide. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
Homiletische Winke
V. 2a. | Wiederholungen im Gebet. 1) Ihre Gefahren: Sie arten leicht in müßige Wiederholungen aus, verraten, wenn übermäßig angewendet, in peinlicher Weise den Gedanken, als ob Gott nicht zu hören willig wäre. 2) Ihr rechter Gebrauch: Sie erleichtern, gleich Tränen, die Seele, sind ein passender Ausdruck lebhafter Gemütsbewegungen und helfen den Vielen, die weniger schnell denken, in das allgemeine Gebet einstimmen. Richard Andrew Griffin 1870. |
V. 2. | 1) Es gibt mancherlei Unglück. (Krieg, Seuchen, Sünde - das größte Unglück -, Tod usw.) 2) Es gibt eine Zuflucht vor dem Unglück: bei Gott, zumal bei seiner Gnade. 3) Es gilt, sich an diesen Bergungsort zu retten a) im Glauben: Bei dir birgt sich meine Seele - unter dem Schatten deiner Flügel - b) mittels Gebets: Sei mir gnädig. 4) Es gilt, an diesem Bergungsort zu verharren: bis dass das Unglück vorübergehe. George Rogers 1872. |
V. 2.5.7.8. | Man beachte die verschiedenen Seelenzustände des gleichen Menschen zur gleichen Zeit: Meine Seele trauet auf dich - ist mitten unter Löwen - ist niedergebeugt - mein Herz ist fest, d. h. getrost. |
V. 3. | Gebet zu Gott, der (es alles) für mich hinausführt (Grundtext): alle seine Verheißungen, mein ganzes Heil, alles, was ich bedarf für Zeit und Ewigkeit. Darin erweist er seine Allmacht, Gnade, Zuverlässigkeit und Unwandelbarkeit; so werden wir denn dadurch verpflichtet, Glauben, Geduld und fröhliche Dankbarkeit zu beweisen. Merkwürdige Begründungen. 1) Der Psalmist ruft aus den Tiefen des Elends zu Gott, weil Gott der Allerhöchste ist. Dieser Gedanke hätte ihn wohl durch die Furcht, Gott sei unnahbar, lähmen können; aber die Seele sieht mit dem durchs Leiden geschärften Auge durch das Bild und über dasselbe hinaus und freut sich der Wahrheit, dass der HERR, ob er wohl so hoch ist, doch auf das Niedrige siehet. 2) Er ruft zu Gott um Hilfe, weil Gott der seine Sache für ihn Hinausführende ist. (Grundtext Partiz.) Warum dann noch ihm mit Bitten anliegen? Gebet ist die Musik, welche Jehova, den "rechten Kriegsmann" (2. Mose 15,3), in die Schlacht geleitet. Richard Andrew Griffin 1870. |
V. 4. | Der Trost des Frommen in der Trübsal. 1) Es kann keine Not eintreten, für welche nicht vorgesorgt würde: Er sendet (oder wird senden). 2) Die mächtigsten Hilfsquellen stehen zu Gebot: vom Himmel. 3) Auch die ärgsten Feinde werden schließlich zuschanden gemacht werden: und hilft mir von der Schmähung des usw., und zwar 4) durch die heiligsten Mittel: Gnade und Wahrheit. Richard Andrew Griffin 1870. |
V. 5. | Meine Seele ist mitten unter Löwen. (Grundtext) Wie bin ich in diese Lage gekommen? Wenn um der Sache Gottes willen, so darf ich des gedenken: 1) dass mein Heiland in der gleichen Lage war (vergl. Mk. 1,13; Ps. 22,13.17.22); 2) dass ihr Brüllen das einzige ist, was sie tun können (sie sind gefesselt); 3) dass der Löwe aus Juda bei mir ist; 4) dass ich bald mitten unter den Engeln sein werde. Unter Löwen. Predigt von C. H. Spurgeon, Schwert und Kelle II. S. 129. Baptist. Verlag, Kassel. |
V. 6. | Gottes Verherrlichung das Ziel, welches Gott bei seinem Walten sowohl im Himmel als auf Erden, in der sündigen und den sündlosen Welten, im Auge hat; ebendies soll auch unseres Lebens Ziel sein. |
V. 7a. | 1) Wer sind die, welche unserm Gange Netze stellen? a) Solche, die uns zur Sünde verlocken. b) Solche, die ihre Grundsätze aus der Weltweisheit nehmen. c) Solche, die uns vom HERRN abziehen und an sich fesseln (priesterliche Anmaßung) oder in Aberglauben (abergläubische Übertreibungen des Sakramentsbegriffs) verstricken wollen. d) Solche, die uns von der Gemeinde des HERRN wegzulocken suchen. e) Solche, die antinomistische (gesetzesstürmerische) Grundsätze lehren. 2) Wie können wir ihnen entrinnen? a) Bleib ihnen aus dem Wege, b) halte dich an die von Gott verordneten Wege und c) traue Tag für Tag auf den HERRN. |
V. 8. | 1) Was ist fest? Mein Herz: Wille, Gewissen, Neigungen. Mein Herz hat einen festen Ankergrund gefunden, ist daher nicht jedem Wind preisgegeben. 2) Worauf ist es fest gerichtet? a) Auf Gott, b) auf sein Wort, c) auf sein Heil, d) auf seinen Himmel. 3) Worin muss sich diese Festigkeit zeigen? a) Im Verfolgen eines Lebenszwecks, b) in der Übereinstimmung des Tuns, c) im Beharren bis ans Ende. |
V. 8-10. | 1) Wer dankbar sein will, muss in seinem Herzen das Gedächtnis der göttlichen Gnadenerweisungen gleichsam aufspeichern. Mein Herz. 2) Danach muss er davon innerlich bewegt werden und den Entschluss fassen zu danken: ist bereit. 3) Er muss den Dank äußern: dass ich singe und lobe. 4) Er soll sich dazu aller ihm zu Gebot stehenden Mittel bedienen: singen und spielen (Grundtext) - meine Ehre (nach den meisten: die Zunge), Psalter und Harfe. 5) Er darf es nicht in schläfriger Weise tun: Wache auf - wache auf - ich will aufwachen. 6) Er soll es nicht aufschieben, sondern die erste Gelegenheit wahrnehmen: mit der Frühe. 7) Er soll es nicht nur in der Einsamkeit vor Gott tun, sondern öffentlich, zur Ausbreitung der Ehre Gottes: unter den Völkern - unter den Leuten (Nationen). William Nicholson † 1671. |
V.10. | Wer? Ich. Was? Will danken, lobsingen. Wem? Dir, Herr. Wo? Unter den Leuten. Warum? |
V. 11. | Die Gnade Gottes reicht bis zum Himmel: 1) Als eine Leiter, auf der wir von der Erde zum Himmel aufsteigen können. 2) Wie ein Regenbogen. Die Gnadenworte und -taten Gottes verbürgen dem Gläubigen die Verschonung vor dem Zorne Gottes. 3) Wie ein Berg. Dieses Berges Fuß ist auf der Erde, seine Spitze verliert sich in den Wolken. (Golgatha der höchste Berg, denn er reicht in den höchsten Himmel.) Wer mag die Herrlichkeit des Gipfels dieses Berges ermessen, da schon sein Fuß so von Herrlichkeit erstrahlt! Richard Andrew Griffin 1870. Die wunderbare Größe der Gnade. 1) Die Gnade ist hoch wie der Himmel, sie überragt die größte Sünde und die höchsten Menschengedanken. 2) Sie ist weit wie der Himmel, umfasst alle Menschen aller Zeitalter, aller Länder, aller Klassen usw. 3) Weil alles, was Gottes ist, volles Ebenmaß hat, muss sie auch entsprechend tief sein: tief in ihrem Ewigkeitsgrund, tief an unergründlicher Weisheit. |
Fußnoten
1. Über P)# vergl. man die Anmerkung zu Ps. 56,2. Moll will die Worte als eine die Situation erläuternde Parenthese auffassen: Es schmäht, der mich anschnaubt. Sela. Die meisten erklären sie als verbalen Umstandssatz: Während mein Verfolger lästert.
2. Die in der Auslegung befolgte Verseinteilung entspricht den masoret. Akzenten. - bk# heißt zunächst: sich (zur Ruhe) lagern. Diese Bedeutung legt es nahe, den Kohortativ in seiner eigentlichen Bedeutung zu nehmen, also hier einen Entschluss des Glaubens ausgedrückt zu finden. So Del., Moll u. a., auch Spurgeon. Andere übersetzen es mit liegen und erklären dann den Kohortativ entweder (wie 55,3) als Bezeichnung eines durch die äußere Lage abgenötigten Entschlusses (ich muss liegen) oder einfach als nachdrücklichere Form des Imperf. ohne besondere Bedeutung (ich liege). - My+hl übersetzen andere (Hupf., Moll): Auffresser, als Parallele zu Löwen.
3. hmfWr kann nach dem Sprachgebrauch dreierlei Sinn haben: 1) Erhebe dich (Luther), also als Aufforderung zum Einschreiten, wie Ps. 21,14, vergl. Jes. 30,10 parallel mit Mwq. 2) Erweise dich in deiner Erhabenheit. Diesen Sinn nehmen fast alle Ausleger hier an. 3) Werde erhoben = Preis dir. So Ps. 18,47. Hengstenberg und nach der englischen Bibel Spurgeon wollen es auch an unserer Stelle so verstehen. Der zweite Sinn liegt aber hier wohl am nächsten.
4. Luther setzt den Plural nach der LXX. Der Wechsel von Plur. und Sing. ist auffällig, findet aber in Bezug auf den Feind ja häufig in den Psalmen statt.