Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon
PSALM 92 (Auslegung & Kommentar)
Überschrift
Ein Psalmlied (wörtl.: ein Psalm, ein Lied) auf den Sabbattag. Diese vorzügliche Dichtung ist sowohl ein Psalm als auch ein Lied; sie hat in gleichem Maße feierliches und fröhliches Gepräge. Der Inhalt des Psalms - das Lob Gottes - passt trefflich zu seiner in der Überschrift ausgesprochenen Bestimmung, an dem heiligen Ruhetage gesungen zu werden; denn Gott preisen ist wahrlich ein schönes Sabbatwerk, mit dem sich in Gott ruhende Herzen gerne beschäftigen. Da die wahre Sabbatruhe nur in Gott zu finden ist, ist es weislich getan, wenn man sich am Sabbattage sinnend in Gott versenkt. Die Schreibart des Psalms ist des Gegenstandes und des Tages würdig; wie könnte es auch anders sein, da der Dichter die Sprache redete, welche der Geist ihm eingab! Es gibt keinen Psalm, der am Tage des HERRN, so weit die englische Zunge klingt, so häufig gesungen wird wie dieser. Und in welchem sangesfreudigen christlichen Hause oder Vereine in deutschen Landen kennte man nicht Palmers herrliche Motette: Das ist ein köstliches Ding, danken dem Herrn usw.? Auch Jorissens Übertragung:
Schön ist’s, Jehovah loben.
Dein Nam’, o Höchster, werd
Mit Hochgesang erhoben,
Am Sabbat tief verehrt!
Schön ist’s, des Morgens singen
Von deiner Gnade frei,
Des Abends Preis dir bringen
Für deine große Treu
verdiente es, allgemeiner gebraucht zu werden.
Der Sabbat ist ja eben dazu ausgesondert worden, dass wir da den HERRN ob seines vollendeten Schöpfungswerkes anbeten, und dazu eignet sich dieser Psalm so schön. Wir Christen können freilich noch einen höheren Flug nehmen, denn wir begehen am Sonntag die Feier der vollendeten Erlösung.
Auslegung
2. | Das ist ein köstlich Ding, dem HERRN danken und lobsingen deinem Namen, du Höchster, |
3. | des Morgens deine Gnade und des Nachts deine Wahrheit verkündigen |
4. | auf den zehn Saiten und Psalter, mit Spielen auf der Harfe. |
5. | Denn, HERR, du lässest mich fröhlich singen von deinen Werken, und ich rühme die Geschäfte deiner Hände. |
2. Das ist ein köstlich (wörtl.: gut) Ding, dem HERRN danken. Gut ist’s in den Augen Gottes, denn es ist ein Recht, das Jehovah zukommt; gut ist’s für den, der es tut, denn es ist lieblich und selig; gut ist’s in seiner Wirkung auf andere, denn es lockt sie dazu, dem HERRN dieselbe Huldigung darzubringen. Wenn sich so Pflicht mit Vergnügen paart, wer wollte da zurückbleiben? Damit, dass wir dem HERRN danken, zahlen wir ihm nur kleine Zinsen für die großen Wohltaten, mit welchen er uns täglich überhäuft; da er selbst es aber durch seinen Geist ein gut oder köstlich Ding nennt, dürfen wir es nicht geringachten oder vernachlässigen. Wir danken ja den Menschen, die uns zu Dank verpflichten; wie viel mehr sollten wir den HERRN preisen, wenn er uns wohl tut! Andächtiges Lobpreisen ist immer köstlich, nie unpassend und nie überflüssig; aber besonders schickt es sich doch am heiligen Ruhetag. Ein Sonntag ohne Danken wäre kein geweihter Tag. Und lobsingen deinem Namen, du Höchster. Es ist gut und lieblich, den Dank nicht nur zu sagen, sondern auch zu singen. Die Natur selbst lehrt uns, der Dankbarkeit auf solche Weise Ausdruck geben. Singen nicht die Vöglein und plätschern nicht sogar die Bächlein liebliche Weisen? Stille Andacht ist gut, aber köstlicher noch ist es, wenn wir der Gesinnung unseres Herzens in lebenswarmen Worten und frohen, frischen Tönen Ausdruck geben. Der Zunge das Vorrecht rauben wollen, den Lobpreis Gott in edlem Gesange darzubringen, heißt einen der edelsten Triebe unseres erneuerten Wesens in widernatürlicher Weise dämpfen, und darum ist es uns ein Rätsel, wie die Glieder der Gesellschaft der Freunde (die Quäker) sich einer so lieblichen, so naturgemäßen und aufmunternden Weise der Anbetung Gottes begeben können. So treffliche Leute sie sind, so fehlt ihnen doch ein köstliches Ding, wenn sie dem Namen des HERRN keine Loblieder singen wollen. Unsre persönliche Erfahrung hat uns in der Überzeugung bestärkt, dass es gut ist, dem HERRN zu lobsingen; wir haben oft ein Gefühl gehabt wie Luther, wenn er sagte: "Kommt, lasst uns einen Psalm singen und den Teufel vertreiben!"
3. Des Morgens deine Gnade verkündigen. Der Tag sollte mit Lobpreis beginnen; denn für ein heiliges Lied ist keine Stunde zu früh. Über die Gnade des HERRN zu sinnen und zu singen, dazu eignen sich trefflich jene taufrischen Stunden, in denen der Morgen die ganze Erde mit köstlichen Perlen aus dem Orient besät. Mit frischem, frohem Eifer sollten wir den HERRN erheben. Unangenehme Aufgaben sind wir ja wohl versucht so lang als möglich hinauszuschieben; durch die Anbetung Gottes aber werden unsre Herzen so belebt, dass wir uns dazu gerne schon in früher Morgenstunde anschicken. Auf solch frühen Lobgesängen ruht eine besondere Frische und Lieblichkeit. Der Tag ist am lieblichsten, wenn er zuerst seine Augenlider öffnet. Es ist, als teilte Gott selbst dann noch heute das Manna aus, welches am süßesten schmeckte, wenn es, noch ehe die Sonne heiß brannte, gesammelt ward. Ist es nicht passend, dass wir, nachdem Herz und Harfe während der stillen Nachtstunden geruht haben, wiederum mit Lust unseren Platz unter dem auserwählten Chor einnehmen, der den Ewigen ohne Unterlass besingt? Und des Nachts deine Wahrheit verkündigen. Keine Stunde ist zu spät zum Lobpreisen, und das Ende des Tages soll nicht das Ende unserer Dankbarkeit sein. Wenn die Natur in stiller Andacht ihren Schöpfer anbetet, dann steht es den Kindern Gottes schlecht an, mit ihrem Danken zurückzuhalten. Der Abend ladet zu einem Rückblick auf den verflossenen Tag ein, die Erinnerung beschäftigt sich dann mit den Erfahrungen der hingeschwundenen Stunden; darum ist der passendste Gegenstand unseres Liedes dann die göttliche Treue, von welcher ein neuer Tag wieder neue Proben geliefert hat. Wenn sich der mächtige Schatten der Nacht über alles gebreitet hat, dann kommt über verständige Menschen eine ihrem innersten Wesen verwandte nachdenkliche Stimmung, der entsprechend sie dann gerne einen recht weiten Blick auf die Güte und Treue des großen Gottes werfen, dessen Nähe ihnen in der feierlichen Stille und dunkeln Einsamkeit der Nacht besonders fühlbar wird.
In den Nächten, lautet der Grundtext eigentlich. Mag die Nacht nun sternklar oder wolkig, mondhell oder finster, ruhig oder stürmisch sein, stets sind ihre Stunden wohl geeignet zum Besingen der Treue Gottes, da diese zu allen Zeiten und unter allen Umständen gleich bleibt und aus ihr der Gläubige stets den besten Trost schöpft. Ist es nicht eine Schande für uns, dass wir so träge sind, den HERRN zu verherrlichen, der am Tage das Füllhorn seiner Liebe über uns ausschüttet und allnächtlich als treuer Wächter ohne Ermüden seine Runde macht?
4. Auf den zehn Saiten und Psalter, mit Spielen auf der Harfe - mit der größten Mannigfaltigkeit der Musik, um mit vollen Harmonien die tiefen Bewegungen der Seele zum Ausdruck zu bringen. Es ist dem Psalmisten darum zu tun, dass jedes lieblich klingende Musikinstrument in harmonischem Rauschen der Töne des Lobes Gott geweiht werde. So haben George Herbert 1 und Martin Luther die Instrumentalmusik zur Erhöhung ihrer persönlichen und häuslichen Erbauung gebraucht; und gegen solche Verwendung hat wohl noch niemand Einspruch erhoben, so sehr auch die Meinung in vielen christlichen Kreisen darüber geteilt ist, ob die Instrumentalmusik für die Anbetung Gottes in der Gemeinde angemessen sei. 2 - Was Luther (mit sehr vielen) "mit Spielen auf der Harfe" übersetzt, fassen einige: "mit Sinnen auf der Harfe (oder besser Zither)." Es ist dann, als hätte der Dichter sagen wollen: Wenn sich meine Seele still in Gott versenkt, so ist sie doch schließlich das allerbeste Instrument, und die lieblichen Klänge der Harfe dienen nur dazu, mein Nachsinnen zu fördern. Das ist köstliche Beschäftigung, wenn Hand und Mund zusammen das Himmelswerk des Lobes treiben. Jedoch ist die Befürchtung nicht ohne Grund, dass sich viele Menschen durch die Aufmerksamkeit, welche sie den Äußerlichkeiten der Musik, wie Schlüssel und Saiten, Takt und Zeichen zuwenden, von der geistlichen Harmonie abbringen lassen, die doch die Hauptsache, die Seele des Lobpreises ist. Schöne Musik ohne Andacht ist wie ein Prachtgewand über einen Leichnam.
5. Denn, HERR, du hast mich fröhlich gemacht durch dein Tun. (Wörtl.) Es war für den Psalmisten ganz natürlich, dass er sang, denn er war fröhlich, und dass er dem HERRN sang, denn seine Fröhlichkeit war durch die Betrachtung des Waltens Gottes hervorgerufen worden. Ob wir das göttliche Werk der Schöpfung oder das der Erhaltung und Vorsehung erwägen, stets werden wir überreichen Grund zur Freude finden; wenn wir aber gar daran gehen, das göttliche Erlösungswerk zu überdenken, so findet unsere Freude keine Schranken und fühlt sich übermächtig dazu getrieben, den HERRN aus allem Vermögen zu preisen. Es gibt Zeiten, wo uns beim Betrachten der erlösenden Liebe das Herz so voll wird, dass uns ist, als müsste es springen, wenn wir ihm nicht im Gesange Luft machen könnten. Schweigen würde uns dann eine Qual sein, als ob uns von einem Inquisitor der Mund geknebelt oder die Kehle von einem Mörder zugeschnürt würde. Und ich juble über die Werke deiner Hände. (Wörtl.) Ich kann nicht anders, ich muss und ich will im HERRN frohlocken wie einer, der einen Sieg errungen und große Beute gemacht hat. In dem ersten Teil unseres Verses spricht der Psalmdichter (nach dem Grundtext) von dem Werk Gottes als einer Einheit, von dem einheitlichen Wirken und Walten Gottes, in dem zweiten redet er von den Werken Gottes in ihrer Mannigfaltigkeit - beides Gegenstände der Betrachtung, die uns zu Freude und jubelndem Lobpreis stimmen. Wenn Gott einem Menschenkinde sein Walten enthüllt und in seiner Seele ein Werk beginnt, so erfüllt er sein Herz mit kräftiger Freude, deren natürliche Folge beständiger Lobpreis ist.
6. | HERR, wie sind deine Werke so groß! Deine Gedanken sind so sehr tief. |
7. | Ein Törichter glaubt das nicht, und ein Narr achtet solches nicht. |
6. HERR, wie sind deine Werke so groß! Der heilige Sänger ist ganz in Bewunderung versunken. Er muss seinem Herzen mit einem Ausruf des Erstaunens Luft machen. Wie unermesslich, wie überwältigend groß sind die Werke und Taten Jehovahs! Groß an Zahl, an Ausdehnung, an Weisheit, an Herrlichkeit sind alle Schöpfungen des Unendlichen. Deine Gedanken sind so sehr tief. Die Ratschlüsse des HERRN sind so wunderbar wie seine Werke, seine Anschläge so tief wie seine Taten allumfassend. Die Schöpfung ist unermesslich, und unerforschlich die Weisheit, die sich in ihr offenbart. Wie beschränkt sind die Menschen - manche haben wohl Gedanken, können sie aber nicht ausführen, während andre gedankenlose Maschinen sind; beim Ewigen aber gehen Entwurf und Ausführung Hand in Hand. Das Walten der Vorsehung ist unerschöpflich, und unergründlich sind die Ratschlüsse, welche jenem Walten zu Grunde liegen. Die Erlösung ist über alle unsere Fassungskraft erhaben in ihrer Großartigkeit, und unendlich sind die Gedanken der Liebe, welche diese Erlösung geplant haben. Der Mensch ist oberflächlich, Gott aber unergründlich; der Mensch seicht, Gott tief. Mögen wir loten, so tief wir können, wir werden doch niemals die geheimnisvollen Tiefen des göttlichen Planes ermessen, und ebenso wenig werden wir je die grenzenlose Weisheit des allumfassenden Gottesgeistes umspannen. Wir stehen an dem unergründlichen Meer der göttlichen Gedanken und rufen, von heiligem Schauer ergriffen: O welch eine Tiefe! (Röm. 11,33)
7. Ein tierischer Mensch erkennt das nicht, und ein Tor begreift solches nicht. (Wörtl.) In diesem und den nächsten Versen wird die Wirkung des Psalms durch das Vorführen von Gegensätzen gesteigert. Die dunkeln Schatten lassen das Licht auf dem Bilde desto heller strahlen. Aber welch ein Sturz vom vorhergehenden Vers! Vom Heiligen Gottes zum tierischen Menschen, vom Anbeter zum Schafskopf, vom Psalmisten zum Narren! Und doch gibt es deren viele, auf welche die Beschreibung passt, der viehisch dummen Menschen, die in der Natur keine göttlichen Gedanken und Werke sehen, und selbst wenn man sie ihnen unter die Augen hält, doch in ihrer Torheit nichts davon begreifen. Es kann jemand ein Philosoph sein und dabei doch ein solch dummer Tropf, dass er für die Zehntausende unnachahmlicher Geschöpfe um ihn her, die schon für den oberflächlichen Blick die Zeichen tiefer Planmäßigkeit an sich tragen, keinen Schöpfer anerkennen will. Mag der Unglaube sich noch so stolz gebärden, er ist doch im Grunde unwissend und hat trotz allem puffenden Feuerwerk des Verstandes kein Verständnis. Der Mensch muss entweder ein Gotteskind oder eine Bestie werden, er hat keine andre Wahl; das Ziel, dem seine Entwicklung zustrebt, ist entweder der anbetende Seraph oder das grunzende Schwein. Gelehrte, die den Ruhm oder das Dasein Gottes nicht anerkennen wollen, sollten wir, statt ihnen Ehrerbietung entgegenzubringen, vielmehr als den Tieren vergleichbar ansehen, die zu Grunde gehen (vergl. Ps. 49,13), nur dass solche Menschen noch viel tiefer stehen als das Vieh, weil ihr entwürdigender Zustand Sache ihrer eigenen Wahl ist. Ach Gott, wie betrübend ist es doch, dass Menschen, die du so reich begabt, sogar in deinem Bilde geschaffen hast, sich zu einem so viehischen Zustand herabwürdigen, dass sie selbst Tatsachen, die du sonnenklar gemacht hast, nicht sehen noch verstehen. Ein Schriftsteller, der gerne außergewöhnliche Ausdrücke wählt, hat Recht, wenn er sagt: Gott hat den Menschen am Anfang ein wenig niedriger als die Engel gemacht, und seither hat der Mensch getrachtet, immer tiefer herunter zu kommen.
8. | Die Gottlosen grünen wie das Gras, und die Übeltäter blühen alle, bis sie vertilgt werden immer und ewiglich. |
9. | Aber du, HERR, bist der Höchste und bleibest ewiglich. |
10. | Denn siehe, deine Feinde, HERR, siehe, deine Feinde werden umkommen; und alle Übeltäter müssen zerstreut werden. |
8. Wenn die Gottlosen sprossen wie das Gras (wörtl.), so zahlreich und üppig, so rasch im Wachstum fortschreitend wie die krautartigen Pflanzen, die bei fruchtbarem Wetter förmlich aus der Erde schießen und in kürzester Frist ihre Vollendung erreichen - und die Übeltäter alle blühen in ihrer ganzen Frische und Schönheit, in stolzer Pracht und Übermut - (so geschieht das nur,) damit sie vertilgt werden immer und ewiglich. (Grundtext) Sie wachsen so prächtig, nur um zu sterben; sie blühen nur, um zu welken. Sie grünen eine kurze Zeit, um zu vergehen ohne Ende. Größe und Herrlichkeit sind für sie nur das Vorspiel ihres Verderbens. Darum hat auch ihre Feindseligkeit wenig zu bedeuten; der HERR regiert ruhig weiter, als ob sie ihn nie gelästert hätten. Wie ein Alpengipfel sich stets gleich bleibt, ob die Wiesen an seinem Fuße blühen oder welken, so wird der Höchste auch nicht berührt von den so schnell vergehenden Sterblichen, die sich wider ihn aufzulehnen wagen: sie werden bald genug für immer aus der Zahl der Lebenden verschwinden. Sie aber, die Gottlosen - o wie kann unser Gemüt es ertragen, das schreckliche Los zu überdenken, dem sie für immer und ewig verfallen. Vertilgt werden für immer ist ein Schicksal, viel zu schrecklich, als dass wir es in seiner ganzen Furchtbarkeit ermessen könnten. Den vollen Schrecken des zukünftigen Zornes hat noch kein Auge gesehen, kein Ohr gehört!
9. Aber du, HERR, bist in der Höhe (= bleibst erhaben) ewiglich. (Wörtl.) Dieser Vers ist der mittelste des Psalms und sagt die große Tatsache aus, welche das Sabbatlied verherrlichen soll. Gott ist zugleich das höchste und das unvergänglichste aller Wesen. Andre erheben sich nur, um zu stürzen, aber er ist der Höchste in alle Ewigkeit. Gepriesen sei sein Name! Wie groß ist der Gott, den wir anbeten! Wer wollte dich nicht fürchten, du ewig hoch Erhabener! Die Gottlosen werden vertilgt auf immer, und Gott bleibt erhaben auf immer. Das Böse wird niedergeworfen, und der Heilige thront in der Höhe in alle Ewigkeit.
10. Denn siehe, deine Feinde, HERR. Das Siehe! ruft zur Aufmerksamkeit und bekräftigt zugleich. Es handelt sich um eine erstaunliche und gewisse Tatsache, die voller Belehrung und Warnung ist; darum bedenkt es, ihr Menschenkinder. Siehe, deine Feinde werden umkommen. Sie werden unter den Lebenden nicht mehr erfunden werden, man wird nichts mehr von ihnen wissen. Die Wiederholung bestätigt: es wird gewisslich geschehen, und zwar schnell. Und alle Übeltäter müssen zerstreut werden. Ihre Streitkräfte werden zerstieben, ihre Hoffnungen zergehen und sie selbst wie Spreu vor dem Sturmwetter hin und her gewirbelt werden. Sie werden sich zerstreuen, wie furchtsame Schafe, wenn der Löwe sie verfolgt; sie werden nicht den Mut haben, die Waffen in der Hand zu behalten, noch die Einigkeit bewahren, ihren Verschwörungsbund festzuhalten. Wie das Gras nicht der Sense widerstehen kann, sondern reihenweise dahinfällt zum Verwelken, so werden im Verlaufe der Zeit die Gottlosen abgeschnitten und weggefegt, während der HERR, den sie verachteten, unbeweglich auf dem Thron seiner unbegrenzten Herrschaft sitzt. Gewiss ist das eine furchtbare Tatsache, und doch könnte kein redlich gesinnter Mensch es anders wünschen. Hochverrat gegen den erhabenen Monarchen des Weltalls darf nicht unbestraft bleiben; solch ruchloser Frevel verdient das härteste Urteil.
11. | Aber mein Horn wird erhöht werden wie eines Einhorns, und ich werde gesalbt mit frischem Öle. |
12. | Und mein Auge wird seine Lust sehen an meinen Feinden, und mein Ohr wird seine Lust hören an den Boshaften, die sich wider mich setzen. |
11. Aber mein Horn erhebst du (Grundtext) wie eines Einhorns. Der Gläubige frohlockt, dass der HERR ihn nicht umkommen lässt, sondern ihn im Gegenteil so mächtig macht, dass er über seine Feinde triumphieren kann. Wir vermögen nicht festzustellen, welches Tier mit dem Namen bezeichnet ist, welchen Luther nach der Septuaginta mit Einhorn übersetzt. Gehört das Einhorn ins Gebiet der Fabel, so ist zu bedenken, dass das Hebräische gar nicht auf solch ein naturgeschichtlich ungeheuerliches Tier führt. Mag die gefährliche Rindsantilope oder der wilde Büffel oder sonst ein Tier gemeint sein (vergl. zu Ps. 22,22 Band I, Seite 387, Anm. 4), jedenfalls war es bei den Alten ein Lieblingsbild unbesiegbarer Kraft (vergl. 4. Mose 23,22; 5. Mose 33,17), und der Psalmist wählt es hier zu seinem Wahrzeichen. Es ist dem Glauben eine Wonne, die Gnadenerweisungen des HERRN vorauszuschauen; er singt von dem, was Gott noch tun wird, so gut wie von dem, was er bereits getan hat. Und ich werde gesalbt 3 mit frischem Öle. Die Erfüllung mit Kraft soll mit Erquickung und Ehrung verbunden sein. Wie man bei festlichen Gelegenheiten die Gäste mit duftender Salbe benetzte, so sollen die Freunde Gottes durch immer neue Ausgießungen der göttlichen Gnade erfreut und erquickt werden; und das ist wieder ein Grund, warum sie nicht verwelken wie die Gottlosen. Man beachte den tiefen Unterschied zwischen dem Wohlgedeihen der Toren und der Freude der Gerechten: jene wachsen üppig in eigner Kraft wie das Unkraut, während die Gerechten vom HERRN selber in Pflege genommen werden und ihnen alles Gute unmittelbar aus seiner Rechten zukommt und darum ihrem Herzen zwiefach kostbar ist. Der Psalmist spricht in der ersten Person: Ich werde usw. Möge es jedem Leser ein Gebetsanliegen sein, dass auch er so sprechen könne.
12. Und mein Auge wird seine Lust sehen an meinen Feinden; und mein Ohr wird seine Lust hören an den Boshaften, die sich wider mich setzen. Die Worte "meine Lust" sind beide Male von den Übersetzern in den Text eingefügt und wären wohl besser fortgelassen. 4 Der Psalmist spricht nicht aus, was er sehen und hören werde; er überlässt seine Feinde in Gottes Hand, mit der Gewissheit, dass der HERR sein Gottvertrauen rechtfertigen, alles seinen Kindern widerfahrene Unrecht gutmachen und seine Vorsehung von der Anklage, dass sie die Gottlosen bevorzuge, zu reinigen wissen werde. Der Psalmist hat den Anfang der Übeltäter gesehen und erwartet, auch ihr Ende zu sehen; sein Blick ist aber dabei ohne Zweifel auf die Verherrlichung Gottes und nicht auf die Befriedigung niederer Rachlust gerichtet.
13. | Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum, er wird wachsen wie eine Zeder auf Libanon. |
14. | Die gepflanzt sind in dem Hause des HERRN werden in den Vorhöfen unsers Gottes grünen. |
15. | Und wenn sie gleich alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein, |
16. | dass sie verkündigen, dass der HERR so fromm ist, mein Hort, und ist kein Unrecht an ihm. |
13. Das Lied stellt nun das Ergehen der Gerechten dem der Ruchlosen gegenüber. Die Gottlosen grünen wie das Gras oder Kraut, aber der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum, dessen Wachstum freilich nicht so rasch ist, dessen jahrhundertelange Lebenskraft aber so recht den Gegensatz bildet zu dem so schnell welkenden Grün der Wiesen. Ja, der edle Palmbaum, der hoch in die Lüfte ragt, indem er seine ganze Kraft in frei und kühn empor strebendem Wuchse gen Himmel richtet, und der auch in der unfruchtbaren, dürren Wüste gedeiht, ist er nicht ein schönes Bild des gottseligen Menschen, der in seiner Aufrichtigkeit nur auf Gottes Verherrlichung zielt, und den Gottes Gnade tüchtig macht, unabhängig von den äußern Umständen, da zu leben und innerlich wohl zu gedeihen, wo alles um ihn her zu Grunde geht? Wir können die herrlichen Aussagen dieses und der folgenden Vers schon auf die Gegenwart beziehen, indem wir sie mit der gegenwärtigen Zeitform übersetzen; aber ebenso gewiss enthalten sie kostbare Verheißungen für unsre zukünftigen Tage. Ja, mag kommen, was da will, wer bei Gott in Gnaden ist, wird grünen und blühen, und zwar in der herrlichsten Weise. Er wird wachsen wie eine Zeder auf Libanon. Dies ist ein anderer herrlicher Baum von langer Lebensdauer. "Die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes", spricht der HERR Jes. 65,22. Oben auf dem Gipfel der Berge wiegt die Zeder ihre mächtigen Zweige und bleibt, obwohl sie Sturm und Wetter ausgesetzt ist, doch ewig grün; so bewahrt sich auch der wahrhaft gottselige Mensch bei allen Widerwärtigkeiten die Freude der Seele und macht trotz allem im göttlichen Leben gute Fortschritte. Das Gras, welches Heu wird zur Speise für die Ochsen, ist gut genug als Sinnbild des gefallenen Menschen; die Zeder, mit welcher man den Tempel des HERRN baut, ist nicht zu prächtig als Sinnbild der Himmelserben.
14. Die gepflanzt sind in dem Hause des HERRN, werden in den Vorhöfen unseres Gottes grünen. In den Höfen der morgenländischen Häuser waren gewöhnlich Bäume gepflanzt, und diese brachten wohl, da sie so geschützt standen, auch in ungünstigen Zeiten reiche und gute Frucht. So werden denn auch die Menschen, welche durch die Gnade mit dem HERRN in Gemeinschaft gebracht sind, Bäumen gleichen, die im Hause des HERRN gepflanzt sind, und werden diesen ihnen gegebenen Platz heilsam für ihre Seelen finden. Niemand hat so viel Freude im Herzen, als wer in Jesu bleibt. Die Teilnahme an dem Leben des Stammes erzeugt die Fruchtbarkeit der Zweige. Wer in Christo bleibt, der bringt viel Frucht. Wer sich wohl äußerlich zu Christo bekennt, aber doch innerlich der Welt angehört, gedeiht nicht; wer seine Wurzeln in den Sumpfboden sündiger Lust senkt, kann nicht in kräftigem Wachstum stehen. Aber wer in beständiger Gemeinschaft mit Gott steht, der wird ein Mann von vollem Wuchs, reich an Gnade, glückselig in der Erfahrung des Lebens, mächtig an Einfluss, geehrt und der Ehren wert. Es hängt ja bei einem Baume viel von dem Boden ab, in welchen er gepflanzt ist; in unserem Fall hängt alles davon ab, dass wir in dem Herrn Jesu bleiben und alle die Lebenskräfte, die wir brauchen, von ihm empfangen. Um in den Vorhöfen am Hause des HERRN zu grünen, müssen wir erst dort eingepflanzt sein; denn in Gottes Garten steht kein Baum, der sich selbst dort hingesät hätte. Wer aber einmal dort vom HERRN gepflanzt ist, der wird auch niemals wieder ausgerissen werden, sondern wird in Gottes Heiligtum fürder unter sich wurzeln und über sich Frucht tragen, dem HERRN zum ewigen Preise. (2. Könige 19,30.)
15. Und wenn sie gleich alt werden, werden sie dennoch blühen (oder kräftig sprossen, Frucht tragen). Das natürliche Leben mag abnehmen, aber das Gnadenleben wird in frischem Triebe stehen. Im Naturleben gehört das Fruchttragen der Zeit der Vollkraft an; in dem Garten der Gnade werden die Pflanzen gerade dann, wenn sie in sich schwach sind, stark in dem HERRN und werden erfüllt mit Früchten, die Gott angenehm sind. Wohl denen, die diesen Sabbatpsalm singen können mit der seligen Ruhe des Gemütes, die uns in jedem Vers dieses Liedes so erquickend anweht. Solche Leute kann keine Furcht wegen der Zukunft bedrücken; denn die trüben Tage des Alters, in denen auch dem starken Manne die Kraft versagt, werden ihnen durch die freundliche Verheißung erhellt, so dass sie ihnen ruhig entgegensehen können. Betagte Gotteskinder haben eine gereifte Erfahrung und dienen vielen zur Stärkung und Erquickung durch die Milde ihres Wesens und ihre köstlichen Zeugnisse. Selbst wenn sie an ihr Lager gefesselt sind, bringen sie die Frucht der Geduld; sind sie arm und niedrig, so wird ihr demütiger und zufriedener Sinn ein Gegenstand der Bewunderung für alle diejenigen, die anspruchslose Würde zu schätzen wissen. Die Gnade lässt den Gläubigen nicht im Stich, wenn die Hüter im Hause zittern. Die Verheißung bleibt auch dann gewiss, wenn die Augen sie nicht mehr lesen können. Vom Brot des Lebens kann man sich nähren, auch wenn die Müller müßig stehen. Und die Stimme des Geistes erklingt auch dann noch melodisch in der Seele, wenn gedämpft sind alle Töchter des Gesanges. (Pred. 12,3 f.) Gepriesen sei der HERR, dass er auch für die Greise der ewig treue Jehovah ist, der sein Volk gemacht hat und darum die Seinen auch bis ins Alter hebt und trägt.
Fruchtbar (wörtl.: saftvoll) und frisch werden sie sein. Sie schleppen sich nicht mühsam und elend zu Tode, sondern sind wie Bäume, die im vollen Saft stehen und darum in üppigem Schmuck prangen. Gott zwickt und zwackt seine Knechte nicht, wenn ihre Gebrechen zunehmen, noch lässt er sie ohne Brot und ohne Trost, wenn sie alt werden, sondern er sorgt vielmehr dafür, dass ihre Kraft sich erneuert, indem er ihr Alter mit Gutem sättigt von seiner eigenen königlichen Tafel. Solch ein Greis wie der alte Paulus (Philemon V. 9) fordert wahrlich nicht unser Mitleid heraus, sondern treibt uns zu tiefem Mitgefühl des Dankes; denn wenn auch sein äußerlicher Mensch verdirbt, so wird doch sein innerlicher Mensch von Tage zu Tage so erneuert (2. Kor. 4,16), dass wir ihn um seinen immerwährenden Frieden wohl beneiden können.
16. Die den Alten erwiesene freundliche Barmherzigkeit Gottes ist ein Beweis seiner Treue und führt sie dazu, dass sie verkündigen, dass der HERR so fromm ist, indem sie von seiner unermüdlichen Güte freudig zeugen. Wir dienen nicht einem Meister, der sich feig von seinem Versprechen zurückzieht. Wer uns sonst auch enttäusche, Er wird uns nie Anlass geben, an seiner Redlichkeit irre zu werden. Jeder greise Christ ist ein Empfehlungsbrief der unwandelbaren Treue Jehovahs. Mein Hort, und ist kein Unrecht an ihm. Hier drückt der Psalmist sein eigenes Siegel dem, was er vom HERRN geschrieben hat, bei. Er baut fort und fort auf seinen Gott, und der HERR bleibt ihm ein fester Grund für sein Vertrauen. Gott ist unser Hort oder Fels als Stätte der Zuflucht, als Obdach, als sichere Feste und als fester Grund für unsere Füße. Bis zu dieser Stunde ist er für uns alle das gewesen, was er zu sein versprochen hat, und wir dürfen des unerschütterlich gewiss sein, dass er derselbe bleiben wird bis zum Ende. Er hat uns in manche Proben geführt, aber er hat uns niemals versuchen lassen über unser Vermögen; er mag die Auszahlung unseres Lohnes hinausgeschoben haben, aber er ist nicht ungerecht, dass er vergesse unseres Werks des Glaubens und unserer Arbeit der Liebe. Er ist ein Freund ohne Tadel und ein Helfer, in Nöten kräftig erfunden. Was er auch immer mit uns anfangen mag, er bleibt stets im Recht; seine Anordnungen sind samt und sonders irrtumslos. Er ist durch und durch treu und gerecht. So schlingen wir denn das Ende des Psalms mit dem Anfang zusammen und machen daraus einen Ehrenkranz für das Haupt unseres himmlischen Freundes. Das ist ein köstlich Ding, dem HERRN danken, denn er ist mein Hort, und ist kein Unrecht an ihm.
Erläuterungen und Kernworte
Ein Psalmlied auf den Sabbattag. Jeder Tag der Woche hatte nach dem Talmud (wenigstens in der Zeit des zweiten Tempels) seinen ihm zugewiesenen Psalm. Am 1. Tage der Woche sangen die Leviten den 24. Psalm, am 2. den 48., am 3. den 82., am 4. den 94., am 5. den 81., am 6. den 93. und am 7. den 92. Die Überschrift dieses Psalms: "auf den Sabbattag" weist wohl auch hinaus auf das zukünftige Zeitalter, welches ein völliger Sabbat sein wird. Martin Geier † 1681.
Es ist bemerkenswert, dass der Name Jehovah in diesem Psalm siebenmal, also in der Sabbatzahl, vorkommt (V. 2.5.6.9.10.14.16). Dr. Chr. Wordsworth 1868.
V. 2. Das ist ein köstlich Ding usw. Danken ist an sich edler und vollkommener als bitten, denn beim Bitten haben wir oft unser Wohlergehen im Auge, beim Danken aber nur Gottes Ehre. Der Herr Jesus hat gesagt, geben sei seliger als nehmen. Nun ist aber, wenigstens bei vielen Bitten, der Zweck der, irgendein Gut von Gott zu empfangen, wohingegen der ausschließliche Zweck des Dankens der ist, Gott Ehre zu geben. William Ames † 1633.
Danken, lobsingen. Wir danken Gott für seine Wohltaten und lobsingen ihm wegen seiner Vollkommenheiten. Filliucius, angeführt von Thomas von Aquino.
Lobsingen. 1) Gesang ist die Musik der Natur. Die Schrift spricht davon, dass die Berge mit Jauchzen frohlocken (Jes. 44,23), dass die Anger und Talgründe einander zujauchzen und singen (Ps. 65,14 Grundt), dass die Bäume im Walde jauchzen (1. Chr. 16,33); und die Luft ist der Vögel Liedersaal, wo sie ihre klangreichen Weisen ertönen lassen.
2) Gesang ist die Musik, die sich zu den göttlichen Gnadenmitteln schickt. Augustinus berichtet, er habe, als er nach Mailand gekommen sei und das Volk habe singen hören, vor Freuden über die lieblichen Weisen geweint, die er in der Kirche gehört. Und Beza, er habe, als er zum ersten Mal in die evangelische Predigt gekommen sei und den 91. Psalm habe singen hören, sich überaus erquickt gefühlt und die erhebenden Klänge tief in seinem Herzen bewahrt. Nach den Rabbinen haben die Juden bei den Festen stets den 113. und die fünf folgenden Psalmen gesungen, wie denn auch der Herr Jesus mit seinen Aposteln nach dem heiligen Abendmahl den Lobgesang anstimmte. (Mt. 26,30.)
3) Gesang ist die Musik der Heiligen. Diesen Gottesdienst haben sie geübt in der großen Gemeinde (Ps. 149,1; 22,26) und alleine (Ps. 119,54), in den größten Nöten (Ps. 89,2) wie nach den herrlichsten Errettungen (Ps. 18). Der Psalter ist voller Beispiele davon, dass die Gottesmänner unter all den wechselnden Verhältnissen das Lobsingen als ihre Pflicht und ihre Freude geachtet und geübt haben. Und ist nicht in der Tat jede der göttlichen Eigenschaften dazu geeignet, Lied und Lob zu wecken?
4) Gesang ist die Musik der Engel. Im Buche Hiob (38,7) sagt der HERR, es hätten bei der Schöpfung die Gottessöhne alle im Chor mit den Morgensternen gejauchzt. Und als der himmlische Bote hernieder gesandt wurde, die Geburt unseres teuren Heilandes zu verkündigen, da begleitete die ganze Menge der himmlischen Heerscharen die Freudenkunde mit einem herrlichen Lobgesang (Lk. 2,13.) Ja, auch im Himmel klingt der Engel frohe Musica; dort singen sie das Hallelujah dem Allerhöchsten und dem Lamme. (Off. 5,11-13.)
5) Gesang ist die Musik des Himmels. Die verklärten Heiligen und die herrlichen Engel stimmen dort in ihrer Glückseligkeit miteinander den harmonischen Lobgesang an. John Wells † 1676.
V. 3. Des Morgens. Nach der Ruhe der Nacht ist unser Geist lebhafter, gesammelter und empfänglicher als sonst. Zu andern Tageszeiten stört uns der Lärm des geschäftigen Treibens, an uns selber kommen so vielerlei Anforderungen, und wir werden von Mattigkeit niedergedrückt. Man vergleiche Ps. 5,4; 59,17; 63,2; 88,14; 119,147 f., wo dieselbe Tageszeit als die für heilige Betrachtungen geeignetste gerühmt wird. Freilich soll das Lob Gottes nicht ausschließlich in der Frühe erklingen. Martin Geier † 1681.
Die Brahmanen erheben sich drei Stunden vor Sonnenaufgang zum Gebet von ihrem Lager. Die Hindus würden es für eine große Sünde achten, morgens etwas zu genießen, ehe sie zu ihren Göttern gebetet haben. Die alten Römer hielten es für gottlos, im Hause keinen besondern Ort fürs Gebet zu haben. Wir könnten wohl etwas von Türken und Heiden lernen. Sollten wir, die wir das wahre Licht haben, uns von ihnen an Eifer übertreffen lassen? Fr. Arndt 1861.
Die Gnade wird hier absichtlich mit dem Morgen-Anbruch verbunden, denn sie ist selber Morgenlicht, welches allmorgendlich (Klgl. 3,23) die Nacht durchbricht (Psalm 30,6; 59,17), und die Treue mit den Nächten, denn in den Gefährden der Nachteinsamkeit ist sie die beste Gefährtin, und Leidensnächte sind die beste Folie ihrer Bewährung. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
Gott ist das A und das O. Es geziemt uns, dass wir den Tag mit dem Lobe dessen anfangen und schließen, der für uns den Tag mit Gnade beginnen und enden lässt. Du siehst deine Pflicht dir also klar vorgeschrieben. Willst du, dass Gott dein Tagewerk fördere und dir die Nachtruhe versüße, so umschließe beide mit deiner Morgen- und Abendandacht. Wer nicht darauf achtet, Gott seinen Anteil am Tage des Morgens abzusondern, raubt nicht nur Gott, was ihm gebührt, sondern beraubt sich selbst für den ganzen Tag des Segens, welchen treues Gebet seinen Unternehmungen hätte vom Himmel herabbringen können. Und wer des Abends seine Augen schließt, ohne zu beten, legt sich zur Ruhe, ehe sein Bett gemacht ist. William Gurnall † 1679.
V. 4. In einem Briefe des Augustinus an seinen geistlichen Vater Ambrosius kommt folgende Stelle vor: "Zuzeiten möchte ich in einem Übermaß von Eifersucht, aus Furcht, dass das Ohr uns verführe, die lieblichen Weisen, die wir zu den Psalmen brauchen, ganz für mich wie für die Gemeinde beseitigen. Und das Vorgehen des Athanasius (des Bischofs von Alexandrien), der den Vorleser mit so geringem Wechsel des Tonfalls singen ließ, dass es mehr ein Sprechen als ein Singen war, mag wohl das sicherste sein. Und doch, wenn ich mich der Tränen erinnere, die ich vergoss, als ich in der Kindheit meines wieder erwachten Glaubens deine Gemeinde ihre Lieder singen hörte, und bedenke, wie tief ich damals innerlich bewegt wurde, nicht durch die Musik allein, sondern durch den Inhalt der Gesänge, der einem durch die klaren Stimmen und die angemessenen Singweisen so trefflich zu Gemüt gebracht wurde, dann muss ich wiederum eingestehen, dass die Sitte überaus nützlich ist." Augustinus † 430.
Wir haben nicht zu denken, dass Gott sich an Harfe und Zither ergötze, als ob er wie wir eine Freude an dem bloßen Klang der Töne hätte; aber die Juden waren, weil sie sich noch im Stande der Unmündigkeit befanden, auf den Gebrauch solcher kindischen Dinge gewiesen. Der Zweck der gottesdienstlichen Musik war der, die am Gottesdienst Teilnehmenden anzuregen, dass sie mit ihrem Herzen Gott eifriger priesen. Wir sollen des eingedenk ein, dass bei den echten Israeliten nie die Meinung herrschte, als bestehe die Anbetung Gottes ans solchen äußerlichen Dingen, die vielmehr nur ein Notbehelf waren, um einem noch schwachen und unwissenden Volke in der geistlichen Anbetung Gottes zu helfen. Es ist in dieser Beziehung der Unterschied zu beachten zwischen dem Volke Gottes im Alten und im Neuen Bunde. Jetzt, nachdem Christus erschienen und die Gemeinde zum mündigen Alter fortgeschritten ist, hieße es das Licht des Evangeliums verdunkeln, wenn wir die schattenhaften Dinge der früheren Haushaltung wieder einführen wollten. Es dünkt uns darum, dass die Papisten, indem sie die Instrumentalmusik im Gottesdienst verwenden, die Sitte des alten Gottesvolkes nicht sowohl nachahmen als vielmehr in sinnloser und verwerflicher Weise nachäffen, da sie eine kindische Freude an jenem alttestamentlichen Gottesdienst zeigen, der doch sinnbildlich war und mit dem Evangelium sein Ende fand. Jean Calvin † 1564.
Chrysostomus († 407) sagt: Die Instrumentalmusik wurde, gerade wie das Opfer, den Juden gestattet wegen der Schwerfälligkeit und Roheit ihres Herzens. Gott lässt sich zu ihrer Schwachheit herab, weil sie erst kürzlich waren vom Götzendienst losgelöst worden. Jetzt aber sollen wir statt der toten Werkzeuge unsre eigenen Leiber zum Lobe Gottes verwenden. Theodoret († um 457) macht in seiner Erklärung der Psalmen und anderwärts viele ähnliche Bemerkungen. Noch bestimmter spricht sich Justin der Märtyrer († 165) aus, indem er geradezu erklärt, dass das Singen mit Instrumentalbegleitung in den christlichen Gemeinden nicht üblich sei, wie einst bei den Juden in ihrem Kindheitsstand, sondern nur der einfache Gesang. Joseph Bingham † 1723.
V. 5. Dein Werk. (Grundtext) Dasjenige Werk Gottes, welches der Dichter hier im Sinn hat, nämlich die völlige, endgültige Erlösung des Volkes Gottes, ist um nichts weniger wunderbar als das Werk der Schöpfung, welches der ursprüngliche Grund für die Heiligung des Sabbattages (V. 1) war. A. R. Fausset 1866.
Über die Schöpfungsoffenbarung und überhaupt die Offenbarung Gottes sich freuen zu können ist eine Gabe von oben, welche empfangen zu haben der Dichter dankbar bekennt. Prof. Franz Delitsch † 1890.
Wie herrlich singt Milton von dem Morgengebet unserer ersten Eltern im Paradies, mit welchem sie Gott und sein Werk priesen:
Sobald sie aber
Zum offnen Tagesanblick aus dem Schatten
Der Bäume traten und den Sonnenball,
Den kaum erstandnen, an dem Rande schwebend
Des Ozeans erblickten, wie im Lauf
Er tauige Strahlen sandte, rings den Osten
Des Paradieses und die sel’gen Fluren
Von Eden hold verklärend, beugten sie
Demütig sich und sprachen ihr Gebet,
Das morgens in verschiedner Form sie hielten;
Denn nie entbehrten sie der Form des Ausdrucks
Noch der Begeist’rung zu des Schöpfers Lob,
Das sie gebührend sprachen oder sangen
Und ohne lang zu sinnen; denn es floss
Beredsamkeit von ihrem Lippenpaar,
Frei oder rhythmisch, so voll Melodie,
Dass sie nicht Harf’ und Flöten erst bedurften,
Um Süßigkeit dem Sange zu verleihn.
Und so begannen sie: "Allmächtiger!
All dies sind Deine Wunderwerke, Vater
Des Guten Du! Der ganze Weltendom
Ist Dein in seiner wunderbaren Schönheit!
Wie wunderbar musst Du erst selber sein!
Du Unaussprechlicher, der in den Himmeln
Für uns unsichtbar thront und dunkel nur
In seinen kleinsten Werken angeschaut,
Die all die Güt’ und Göttermacht verkünden."
John Milton † 1674, Verl. Paradies, 5. Gesang, nach Ad. Böttger.
V. 6. Deine Gedanken sind so sehr tief. Die Tiefe der Gedanken Gottes, im Parallelismus mit der Größe seiner Werke, bezeichnet nicht etwa die Schwerverständlichkeit derselben - diese ist nur eine auf den Grund hinweisende Folge derselben, die als solche in V. 7. erwähnt wird - sondern die Herrlichkeit und den unerschöpflichen Reichtum derselben. Vergl. Hiob 11,8; Jes. 55,9; Röm. 11,33. Diese Tiefe zeigt sich besonders darin, dass das scheinbare Ende der Gedanken Gottes so oft sich als der wahre Anfang ihrer Realisierung kundgibt. Wenn alles vorbei zu sein, die Bosheit völlig zu triumphieren scheint, so bricht plötzlich das Heil der Gerechten und das Verderben der Bösen hervor. Prof. E. W. Hengstenberg 1845
Wahrlich, meine Brüder, es gibt kein Meer, so tief wie diese Gedanken Gottes, der die Gottlosen grünen und blühen und die Frommen leiden lässt; nichts ist so tief, nichts so unergründlich - in diesen Untiefen, in diesen Abgründen muss jede ungläubige Seele Schiffbruch leiden. Willst du über diese Tiefe fahren? Halte dich am Kreuzholz fest, dann wirst du nicht versinken. Augustinus † 430.
V. 7. Vergl. Ps. 73,22. Wären Gottes Gedanken weniger tief und herrlich, zählte er dem Bösen bei jedem einzelnen Vergehen sogleich seine Strafe zu und ließe dem Gerechten stets sofort Heil widerfahren, nach dem Kanon, den Hiobs Freunde in ihrer Beschränktheit aufstellen, so würde seine Weltregierung auch dem verfinsterten Auge der Gottlosigkeit erkennbar sein. Ihre Tiefe aber macht sie zu einem Geheimnis, dessen Verständnis sich gar oft, in den Zeiten der Anfechtung, auch der Frömmigkeit entzieht, wie das Beispiel Hiobs und des Verfassers von Psalm 73 zeigt, und an dem sie stets zu lernen hat. Wer zu einem tieferen Einblicke in dies Geheimnis gelangt ist, erkannt hat, wie Gottes Verhalten gegen die Seinen immer nur Gnade ist, wenn auch oft in der allertiefsten Verhüllung, sein Verhalten gegen die Bösen immer nur Zorn, wenn sie auch noch so sehr grünen und blühen, der kann nur ausrufen: O welch eine Tiefe des Reichtums usw. (Röm. 11,33), dem erscheinen diese Werke Gottes noch größer und herrlicher als die der Schöpfung. Prof. E. W. Hengstenberg 1845.
Der Tiermensch, das wäre etwa die genaue Übersetzung des Hebräischen; einer, den Gott mit der Menschenwürde begabt, der sich selbst aber zum Tierwesen erniedrigt hat, ein Mensch, insofern er in Gottes Bild erschaffen worden, aber ein Tier, weil er sich selbst zum Bilde der niederen Tiere verunstaltet oder umgeformt hat. Henry Cowles 1872.
Wie allgemein sind die Menschen bestrebt, durch die Genüsse der Sinnlichkeit und der Leidenschaften die Feinfühligkeit, welche Gott ihnen gegeben hat, zu vernichten! Das menschliche Gemüt, welches eine Welt voller Herrlichkeit in den erschaffenen Dingen erblicken und durch sie, als durch einen dünnen Schleier, in unendlich herrlichere Dinge, die in der Hülle angedeutet oder enthalten sind, hineinschauen könnte, ist stumpf und schwerfällig wie ein Stück Steinkohle. Wie ist das gekommen? Ach, das haben Sinnlichkeit und Sündendienst angerichtet. Wäre die Seele von Jugend auf für Gott erzogen worden, in Sitten, die der geistlichen Natur entsprechen, so wäre sie voll Leben, Liebe und Gefühl, im Einklang mit allem, was in der natürlichen Welt lieblich ist; sie würde durch die sichtbare Welt hindurch die geistige erblicken, sie wäre allen Anregungen natürlicher und geistiger Schönheit zugänglich und zum Erfüllen der Pflichten so bereit, wie das Kind zum Spiel. Welch entsetzliche Zerstörung richtet doch ein sinnliches Leben in den feineren Gefühlen und in der Empfänglichkeit für höhere Dinge an! Was für ein innerer Verfall, was für eine Verwüstung, was für eine Erlahmung der geistigen Kräfte tritt uns bei Hohen und Niederen entgegen, so dass auch selbst das Vorhandensein des Vermögens, die geistige Welt unmittelbar anzuschauen, in Zweifel gezogen, wo nicht geradezu abgeleugnet werden kann. George B. Cheever 1852.
V. 8. Die Gottlosen grünen wie das Gras. Ihr Glück ist das höchste Unglück. Adam Clarke † 1832.
Alles, was nicht aus Gott ist, das kann nicht bestehen, es sei Kunst oder Reichtum oder Ehre oder Gewalt. Es gehet zwar auf und grünet lustig anzusehen, am Ende aber wird ein Distelstrauch daraus und ist Unkraut, das nirgend zu dienet, denn ins Feuer. Johann Arnd † 1621.
V. 9. Und Du bist Höhe in Ewigkeit, HERR. (Wörtl.) Dieser Vers bildet den Höhepunkt des Psalms. Gott ist die konkrete und persönliche Höhe, d. i. er ist heilig, Ps. 22,4, nie, wie die Gottlosigkeit stets wähnt und auch der Fromme in den Zeiten der Anfechtung, Tiefe; vielmehr ist der Schein der Tiefe gerade die höchste Höhe, er ist am stärksten, wo er sich dem kurzsichtigen Auge als schwach darstellt. Wer diesen einen Gedanken, dass Gott ewig Höhe, nur festhalten könnte, würde nimmer verzagen im Kreuz und des Triumphes der Bösen lachen. Diesen Gedanken nicht mehr fassen zu können ist das Wesen der Verzweiflung. Ist Gott uns noch Höhe, so sind wir freudig und getrost, so tief wir auch liegen. - In V. 10-16 folgen die Tatsachen, in denen sich Gott als die ewige Höhe erweist. Prof. E. W. Hengstenberg 1845.
V.10. Alle Übeltäter müssen zerstreut werden oder werden sich zerstreuen. Die Gottlosen mögen sich zusammentun und Bündnisse schließen - die Bande, die sie verknüpfen, sind doch nur schwach. Es ist selten, dass die Bösen lange miteinander übereinstimmen, wenigstens über einen besonderen Gegenstand, den sie verfolgen. In der Hauptsache harmonieren sie freilich, nämlich darin, dass sie Übels tun wollen. Gott aber wird sie bald durch seine Macht und in seinem Zorn verwirren und zerstreuen, dass sie völlig untergehen. Samuel Burder 1839.
V. 11. Frisches, wörtl.: grünes Öl. Meiner Ansicht nach ist damit auf kaltem Wege gewonnenes Öl gemeint, d. h. solches, das aus der Frucht ausgepresst wird, ohne dass man diese vorher kocht. Die Morgenländer ziehen zum Salben dieses Öl jedem andern vor; sie halten es für das kostbarste, reinste und kräftigste. Fast alle medizinischen Öle bereiten sie so, und weil man auf diese Weise nicht so viel Öl gewinnt wie durchs Kochen, so sind die so gewonnenen Öle sehr teuer. Dieselbe Bezeichnung "grün" wird im Orient auch auf andere Sachen angewandt, die ungekocht sind; man spricht von grünem Wasser, grüner Milch, grünem Fleisch usw. Joseph Roberts 1844.
Das beste (grüne, frische) Öl wird gewonnen von den nicht völlig reifen (grünen) Beeren, die behutsam mit einem Rohrstab abgeschlagen werden. (Vergl. Jes. 17,6 Grundtext) Das feinste, weiße Öl, das nicht nur weniger Rauch und helleres Licht gibt, sondern sich auch durch seinen Wohlgeschmack auszeichnet, wird bereitet durch Stoßen solcher nicht völlig reifen Früchte im Mörser (2. Mose 27,20 usw.). Zum goldenen Leuchter, zum Opfer (2. Mose 29,40) und ohne Zweifel auch zum heiligen Salböl (2. Mose 30,24) wurde solches Öl genommen. Bibl. Wörterbuch, H. Zeller 1857.
V. 13. Wie ein Palmbaum. Schaut jene stattlichen Palmen, die hier und da auf der Ebene zerstreut stehen wie Wachtposten und sich mit den Federbüschen, die sie auf dem stolzen Haupte tragen, gar anmutig verneigen. Der Stamm, so hoch und schlank und kerzengerade, bietet den arabischen Dichtern gar manches Sinnbild für ihre Liebeslieder, und lang vor ihnen hat Salomo schon gesungen: Wie schön und wie lieblich bist du, du Liebe voller Wonne! Dein Wuchs ist hoch wie ein Palmbaum. (Hohelied 7,7 f.) Und Salomos Vater sagt: Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum. (Ps. 92,13) Der königliche Dichter hat mehr als ein Bild von den Gewohnheiten und der Behandlungsart dieses edlen Baumes entnommen, um damit sein heiliges Lied zu zieren. Der Palmbaum wächst langsam aber stetig, Jahrzehnt um Jahrzehnt, unberührt von dem Wechsel der Jahreszeiten, der auf andere Bäume solchen Einfluss übt. Er freut sich nicht übermäßig über den reichlichen Regen des Winters und lässt den Lebensmut nicht sinken unter der brennenden Sonnenglut und Dürre des Sommers. Weder schwere Lasten, die Menschen ihm aufs Haupt legen, noch das ungestüme Andrängen des Windes können ihn von seiner aufrechten Haltung abbringen. Da steht er und schaut ruhig auf die Welt unter ihm und bringt in Geduld seine kostbare Frucht in großen Trauben ein Menschenalter nach dem andern. "Noch im Alter tragen sie Frucht" (V. 15).
Die Anspielung "gepflanzt im Hause des HERRN" ist wahrscheinlich von der Sitte entlehnt, schöne langlebige Bäume in den Höfen der Tempel und Paläste wie auf allen zum Gottesdienst benutzten "Höhen" zu pflanzen. Noch jetzt hat jeder Palast, jede Moschee und jedes Kloster im Lande solche Bäume in den Höfen, die, weil sie dort wohl beschützt sind, trefflich gedeihen. - Salomo bedeckte die ganzen Wände des Allerheiligsten ringsum mit Schnitzwerk von Palmbäumen (sowie Cherubim und Blumengehängen). 1. Könige 6,29 ff. So waren also Palmbäume gleichsam gepflanzt im Hause des HERRN drinnen. Dieser Schmuck war von hoher sinnbildlicher Bedeutung. Denn der Palmbaum ist ein treffliches Bild nicht nur von der ausdauernden Geduld im Vollbringen des Guten, sondern auch von dem Lohn des Gerechten, einem kraftvollen und fruchtbaren Alter und herrlicher Unsterblichkeit. W. M. Thomson 1859.
Der bekannt Naturforscher v. Linné hat die Palmen die Fürsten des Pflanzenreiches genannt, und von Martius, ebenfalls ein berühmter Botaniker, sagt begeistert von ihnen: "Die Atmosphäre der gewöhnlichen Welt sagt diesen vegetabilischen Monarchen nicht zu; aber in jenen bevorzugten Erdstrichen, wo die Natur gleichsam ihr Hoflager aufgeschlagen hat und von Blumen, Früchten und Bäumen und belebten Wesen eine glänzende Versammlung von Schönheiten um sich schart, da ragen sie in die balsamische Luft, ihre gewaltigen Stämme höher und stolzer als alles umher erhebend. Viele von ihnen sehen in einiger Entfernung wegen ihrer langen senkrechten Schäfte aus wie Säulen, von dem göttlichen Baumeister aufgerichtet, das breite Himmelsgewölbe tragend und gekrönt mit einem Kapitäl prachtvollen grünen Laubschmuckes." Auch Alex. von Humboldt spricht von ihnen als den erhabensten und stattlichsten aller pflanzlichen Gebilde. Unter allen Bäumen ist ihnen stets der Schönheitspreis zuerkannt worden.
An der nördlichen Grenze der Wüste Sahara, am Fuße des Atlasgebirges, bilden die Haine von Dattelpalmen den Grundzug der sonst dürren Gegend. Nur wenige Bäume außer ihnen können dort ihr Dasein fristen. Die übermäßige Trockenheit dieses unfruchtbaren Landstrichs, in dem ganz selten ein Regen fällt, ist so groß, dass kein Weizen wächst und sogar Gerste, Mais und Negerkorn dem Landmann nur eine ganz spärliche und zudem unsichere Ernte bieten. Die heißen aus dem Süden kommenden Luftströmungen sind selbst für die Eingeborenen fast unerträglich, und doch gedeihen hier ganze Wälder von Dattelpalmen und bilden ein für die Sonnenstrahlen undurchdringliches Schutzdach, unter dessen Schatten Zitronen-, Orangen- und Granatapfelbäume gepflegt werden und der Weinstock sich mit Hilfe seiner Ranken hinaufschlingt. Und obgleich diese Früchte im beständigen Schatten wachsen, bekommen sie doch einen würzigeren Geschmack als in anderem scheinbar günstigerem Klima. Welche schöne Auslegung bieten diese Tatsachen zu den Worten der Heiligen Schrift: Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum. Gleich diesem wird der Christ von dem sengenden Glutwind der Versuchung und Verfolgung nicht tödlich getroffen, sondern, sich nährend von den verborgenen Quellen der göttlichen Gnade, lebt und gedeiht er, gleich seinem göttlichen Meister, wo alle andern erliegen und ihre bloß äußerliche Religiosität verwelkt. Wie treffend ist der Gegensatz in dem Psalm dargestellt! Die Gottlosen und weltlich Gesinnten werden dem Gras verglichen, das im besten Falle nur von kurzer Lebensdauer ist und so leicht dürr wird; das Sinnbild des Christen ist der Palmbaum, der Jahrhunderte überdauert. Gleich dem angenehmen Schatten der Palmenhaine übt der Christ um sich her fröhlichen, Leben weckenden, geheiligten himmlischen Einfluss. Und gerade wie der große Wert der Dattelpalme in ihrer reichlichen, gesunden und wohlschmeckenden Frucht liegt, so sind auch die wahren Jünger Christi erfüllet mit Früchten der Gerechtigkeit; denn der Heiland hat gesagt: Darin wird mein Vater geehrt, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger. (Joh. 15,8.) - Die Palme (engl.), Relig. Traktat-Ges., London.
Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum. 1) Der Palmbaum wächst in der Wüste. Die Erde ist dem Christen eine Wüste; aber wahre Gläubige werden stets im Erdenleben erquickt und neu gestärkt wie die Palme in der arabischen Wüste. So Lot inmitten der Gottlosigkeit Sodoms und Henoch, der mitten unter dem vorsintflutlichen Geschlecht mit Gott wandelte.
2) Der Palmbaum wächst im Sand, aber der Sand ist nicht seine Nahrung; Wasser aus der Tiefe nährt seine Hauptwurzel, ob auch der Himmel über ihm ehern ist. Manche Christen wachsen nicht wie die Lilien (Hos. 14,6) auf grünen Auen oder wie die Weiden an den Wasserbächen (Jes. 44,4), sondern wie der Palmbaum in der Wüste. So Joseph unter den Katzenanbetern in Ägypten, Daniel in dem wollüstigen Babylon. Die tief eindringende Wurzel des Glaubens erreicht die Quellen lebendigen Wassers.
3) Der Palmbaum ist gar schön mit seinem hohen grünen Baldachin und dem silberigen Glanz seiner Wedel; so sind auch die Tugenden des Christen nicht wie kriechendes Brombeergesträuch, ihre Palmzweige wachsen aufwärts, sie suchen, was droben ist, da Christus ist (Kol. 3,1). Manche Bäume sind krumm und knorrig, der Christ aber ist eine hochragende Palme als ein Kind des Lichtes. (Phil. 2,15) Die schönen, unverwelklichen Palmzweige sind ein Sinnbild des Sieges; sie wurden am Laubhüttenfest zu den grünen Hütten verflochten, und als die Menge Christum zu seiner Krönung nach Jerusalem geleitete, streuten sie solche Palmzweige auf den Weg (Mt. 21,8). So werden auch die Sieger im Himmel als mit Palmen in den Händen dargestellt (Off. 7,9). An die Blätter der Palme hängt sich kein Staub an, wie beim Lorbeerbaum: der Christ ist in der Welt, aber nicht von der Welt; der Staub der Erdenwüste haftet nicht an ihm. Die Palmzweige fallen im Winter nicht ab und bekommen im Sommer kein Feierkleid: sie sind immergrün. Das Rauschen der Palmbäume ist das Gebet der Wüste.
4) Der Palmbaum ist sehr nützlich. Die Hindus zählen dreihunderterlei Nutzen an ihm. Sein Schatten herbergt, seine Frucht erquickt den müden Wanderer, und von ferne schon winkt er ihm zu, dass bei ihm Wasser zu finden sei. Solcher Art waren Barnabas, der Sohn des Trostes (Apg. 4,36), ferner Lydia, Tabea und andere.
5) Der Palmbaum trägt bis ins Alter Frucht. Die besten Datteln bringt er im Alter von dreißig bis hundert Jahren. Dann kann er wohl dreihundert Pfund Datteln jährlich liefern. So wird auch der Christ mit den zunehmenden Jahren glücklicher und nützlicher. Er kennt dann seine eignen Fehler besser und wird darum milder gegen andere. Er gleicht der Sonne bei ihrem Untergang, wenn sie so groß, schön und mild am Horizonte steht. J. Long 1871.
Ohnehin gewährt jetzt die freie Landschaft einen traurigen Anblick. Der Boden ist tief geborsten und löst sich bei jedem Windhauch in Staub auf; das Grün der Auen ist fast ganz verschwunden. Nur der Palmbaum behält auch in der Dürre und Hitze sein grünendes Laubdach. G. H. von Schubert † 1860.
Wie eine Zeder auf Libanon. Noch steht unter dem Schutz des Maronitenklosters Kannubin in der nördlichen Provinz des Libanon der Zedernhain Djebel el Arz, eine Gruppe von einigen hundert alten Zedern, von denen fünf Exemplare, nach den gezählten Jahresringen über dreitausend Jahre alt, in die salomonische Zeit zurückragen. Calwer Bibellexikon 1885.
Und doch werden diese Zedern von Richardson (1818) als umfangreiche, hohe, herrliche Bäume geschildert, als die malerischsten Erzeugnisse der Pflanzenwelt, die er je gesehen habe. Und nach Pococke tragen auch die alten Zedern noch Samen, wenn auch nicht so viel wie die jüngeren. R. M. MacCheyne † 1843.
Das Leben und das saftige Grün der Zweige ist eine Ehre für die Wurzel, aus der sie leben. Geistliche Frische und Fruchtbarkeit bei einem Gläubigen ist eine Ehre für Jesum Christum, der sein Leben ist. Die Fülle Christi offenbart sich in der Fruchtbarkeit des Christen. Ralph Robinson † 1655.
Selbst Palmen und Zedern neigen, wenn sie alt werden, dazu, einen Teil ihrer Saftigkeit und Fülle zu verlieren; und die Menschen sind im Alter allerlei Gebrechen, äußeren und inneren, unterworfen. Ein noch im hohen Alter in voller Kraft und Frische stehender Mann ist ein seltener Anblick, und ach, dass es nicht noch seltener wäre, jemand im gleichen Lebensalter geistlich frisch und kräftig zu sehen! Hier aber wird das den Gläubigen als besondere Gnade und besonderes Vorrecht verheißen. Gott sei Dank für dies Wort der Gnade, mit welchem er uns gegen alle die Gebrechen und Versuchungen des Alters rüstet. John Owen 1853.
V. 16. Mein Hort, und ist kein Unrecht an ihm. Gott kann ebenso wenig vom Tun dessen, was recht ist, bewegt werden wie ein Fels von seiner Stelle. Joseph Caryl † 1673.
Homiletische Winke
V. 2. | 1) Es ist ein köstlich Ding, Ursache zum Danken zu haben, und jedermann hat solche. 2) Es ist ein köstlich Ding, ein Herz zum Danken zu haben; das ist eine Gabe Gottes. 3) Es ist ein köstlich Ding, dem Dank Ausdruck zu geben. Dadurch können andere zum Danken angeregt werden. George Rogers 1874. |
V. 2-4. | 1) Wie köstlich es ist, den HERRN zu lobpreisen, V. 2. 2) Wieviel Ursache wir dazu haben, V. 3. 3) Wie erfinderisch die Liebe sich erweist, selbst die unbeseelte Kreatur zum Dienste Gottes anzuwerben. |
V. 3. | Wir sollen Gott lobpreisen: 1) einsichtsvoll, indem wir seine verschiedenen Eigenschaften verkündigen; 2) zeitgemäß, indem wir jede seiner Eigenschaften zur angemessenen Zeit verkündigen; 3) beständig, jeden Tag und jede Nacht. |
V. 4. | Wir sollen Gott preisen 1) mit allen Kräften unserer Seele: auf den zehn Saiten - des Gemütes, der Neigungen, des Willens usw.; 2) mit allen Äußerungen unseres Mundes; 3) mit allen Handlungen unseres Lebens. Wir sollen Gott preisen: 1) wohl vorbereitet - denn Instrumente müssen gestimmt werden; 2) mit Weite der Gedanken: "auf dem Psalter von zehn Saiten"; 3) mit Hingebung unseres ganzen Wesens: "zehn" Saiten; 4) mit Mannigfaltigkeit: "Psalter, Harfe usw." |
V. 5. | 1) Mein Gemütszustand: fröhlich. 2) Wie ich zu solcher Fröhlichkeit gekommen bin: Du hast mich fröhlich gemacht (wörtl.). 3) Worüber ich fröhlich bin: dein Tun, deine Werke. 4) Was soll ich denn nun tun? Gott preisen. 1) Das edelste Fröhlichsein: durch Gott gewirkt und in Gottes Tun begründet. 2) Das edelste Rühmen: verursacht durch die mannigfaltigen Werke Gottes in der Schöpfung, Vorsehung, Erlösung usw. Das Erstere ist für unser eigen Herz, das Letztere soll dazu dienen, die Seelen um uns her zu überzeugen. |
V. 6. | Die unersteigbaren Berge und das unergründliche Meer, oder: Gottes Werke und Gedanken (das Geoffenbarte und das Verborgene Gottes) gleichermaßen außerhalb des Bereichs der menschlichen Fassungskraft. Charles A. Davis 1874. |
V. 8. | Das blühende Gedeihen gottloser Menschen ist oft der Vorbote ihres Untergangs; denn es verleitet sie dazu, Gottes Zorn herauszufordern: 1) durch Verhärtung des Herzens, wie Pharao, 2) durch Hochmut, wie Nebukadnezar, 3) durch übermütigen Hass der Frommen, wie Haman, 4) durch fleischliche Sicherheit, wie der reiche Tor, 5) durch Selbstüberhebung, wie Herodes (Apg. 12). |
V. 8-11. | Gegensätze. Zwischen den Gottlosen und Gott, V. 8. 9; zwischen Gottes Feinden und seinen Freunden, V. 10. 11. Charles A. Davis 1874. |
V. 8.13-15. | Die Gottlosen und die Gerechten abgebildet. |
V. 11b. | Die Salbung des Christen: Erleuchtung, Weihung, Erquickung, Stärkung. Die zuversichtliche Erwartung frischer Gnade. C. H. Spurgeons Predigten, 5. Band, S. 206. Phil. Bickel, Hamburg 1875. Frische. Pred. von C. H. Spurgeon. Schwert und Kelle, 2. Jahrg. S. 305. Phil. Bickel, Hamburg 1882. |
V. 13. | Die Gerechten gedeihen 1) an allen Orten: Die Palme in der Ebene, die Zeder auf dem Libanon; 2) zu allen Zeiten: beide sind immergrün; 3) unter allen Verhältnissen; die Palme in der Dürre, die Zeder in Sturm und Frost. George Rogers 1874. |
V. 13-16. | Wie (V. 13, vergl. V. 8), wo (V. 14), wann (V. 15) und warum (V. 16) die Gerechten gedeihen. W. Jay † 1853. |
V. 14-16. | 1) Wiedergeburt: gepflanzt. 2) Wachstum in der Gnade: grünen usw. 3) Nützlichkeit: fruchtbar. 4) Beharren: im Alter noch. 5) Die Ursache von dem allen: zu verkündigen, dass der HERR fromm ist usw. |
Fußnoten
1. Prof. in Cambridge, † 1632 als Pfarrer in Bemerton, bekannt durch seine zahlreichen trefflichen englischen, griechischen und lateinischen Gedichte.
2. Um dies ganz zu verstehen, müssen wir in die rein reformierten Gegenden Schottlands und Hollands gehen, in denen, wie auch bei manchen Freikirchen Englands, bis zu dieser Stunde keine Orgel, kein Harmonium und dergl. als Begleitung des Gemeindegesangs geduldet wird, während bekanntlich andererseits in manchen Gemeinden, besonders auch Amerikas, Musik und Kunstgesang in den öffentlichen Gottesdiensten eine verhängnisvolle Rolle spielen.
3. Das Wort ist dunkel; doch findet Luthers Übers.: Ich werde gesalbt oder wörtlicher 1524: begossen noch heute ihre Verteidiger.
4. Fast alle Übersetzer und Ausleger stimmen mit Luther überein. Von anderen Erklärungen wäre außer dem ganz missglückten Versuch Hengstenbergs (mit welchem Spurgeon übereinkommt) noch der von H.V. Andreä (1884) zu erwähnen: Mein Auge blickt (ruhig) auf meine Neider, meine Ohren horchen (gelassen) hin auf die wider mich sich erhebenden Übeltäter. Aber die beiden hier vorliegenden hebräischen Redewendungen sind doch wohl dem so häufigen
b: h)frf nachgebildet. Dieses heißt etwas oder jemand ansehen, und zwar (fast immer) so, dass man sich betrachtend hineinversenkt und dadurch innerlich bewegt wird, sei es von Schmerz, wie 1. Mose 20,16, sei es - und dies ist gewöhnlich der Sinn - mit Freude, also: das Auge an etwas weiden. Vergl. z. B. Ps. 22,18; 37,34; 54,9; 112,8 usw. Somit trifft die Ergänzung "meine Lust" doch den Sinn. - James Millard