Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 103 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

(Ein Psalm) Davids. Es ist uns nicht zweifelhaft, dass dieser Psalm wirklich von David herrührt, stimmt er doch ganz zu Davids Sinn und Art, so dass wir sagen können, er sei in Davids bestem Stil geschrieben.1 Wir möchten ihn den späteren Jahren dieses gottbegnadeten Dichters zuschreiben, da derselbe eine höhere Erkenntnis von der Köstlichkeit der Vergebung, weil auch eine durchdringendere Erkenntnis der Sünde hatte als in seinen jüngeren Tagen. Die starke Empfindung der Hinfälligkeit des Lebens weist auf das beginnende Alter, wie die überströmende Fülle lobpreisender Dankbarkeit auf die Zeit der inneren Reife. Wie in den hehren Alpen etliche Gipfel hoch über die andern ragen, so gibt es sogar unter den geistdurchwehten Psalmen Sangeshöhen, die die übrigen an Erhabenheit noch weit übertreffen. Dieser 103. Psalm war uns stets in der Kette der Lobeberge gleichsam der Monte Rosa, der in glühenderem Licht erstrahlt denn irgendeiner der andern. Der Psalm ist der Apfelbaum unter den Bäumen des Feldes, und seine goldne Frucht hat einen Duft und Wohlgeschmack, den keine Frucht besitzt, sie sei denn im vollen Sonnenschein der Gnade gereift. Dieser Lobgesang ist das Echo des Menschen auf die Wohltaten seines Gottes, der Sang auf dem Berge, mit dem er der Bergpredigt seines Erlösers antwortet. Nebukadnezar betete seinen Götzen mit Schall der Posaunen, Trompeten, Harfen, Geigen, Psalter, Lauten und allerlei Saitenspiel an (Dan. 3,5); David weiß eine bessere Weise: er weckt all die Melodien des Himmels und der Erde, dem allein wahren und lebendigen Gott zu Ehren. Wir gehen an den Versuch, den Psalm auszulegen, mit dem lebhaften Gefühl, dass wir schlechterdings nicht imstande sind, einer so erhabenen Dichtung ganz gerecht zu werden. Wir rufen unsere Seele und alles, was in uns ist, auf, uns bei der vergnüglichen Aufgabe zu helfen; aber ach, unser Gemüt hat seine Grenzen, und wenn wir auch alles, was wir an geistigen Fähigkeiten besitzen, zusammennehmen, so ist’s doch viel zu wenig für das Unternehmen. Es ist in dem Psalm zu viel selbst für tausend Federn, es auszuschreiben; er ist eine jener allumfassenden Schriftstellen, eine Bibel im Kleinen, und könnte allein fast genügen als Gesangbuch der Gemeinde des HERRN.

Einteilung. Erst singt der Dichter von Gnadenerweisungen, die er persönlich erlebt hat, V. 1-5. Dann preist er die herrlichen Eigenschaften Jehovahs, wie sie sich in seinem Walten über dem auserwählten Volke erzeigt haben, V. 6-19. Zum Schluss ruft er alle Geschöpfe im ganzen Weltall auf, den HERRN anzubeten und sich mit ihm in dem Preise Jehovahs, des ewig Gnädigen, zu vereinen, V. 20-22.


Auslegung

1. Lobe den HERRN, meine Seele,
und was in mir ist, seinen heiligen Namen!
2. Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!
3. Der dir alle deine Sünde vergibt,
und heilt alle deine Gebrechen;
4. der dein Leben vom Verderben erlöst,
der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit;
5. der deinen Mund fröhlich macht,
und du wieder jung wirst wie ein Adler.


1. Lobe den HERRN, meine Seele. Musik der Seele ist die Seele der Musik; wo das Herz nicht singt, ist auch der künstliche Gesang (kunstvoll können wir in diesem Falle ja nicht sagen) nur seelenloser Schall. Der Psalmist setzt den rechten Schlüssel vor sein Lied, indem er damit beginnt, sein innerstes Ich zum Preise Gottes aufzurufen. Er hält ein Zwiegespräch mit seinem Selbst, und zwar mahnt und ermuntert er sich, als fühle er, wie leicht Mattigkeit und Trägheit seine Kräfte beschleiche, was ja bei uns allen stets geschehen wird, wenn wir nicht mit allem Eifer darüber wachen. Jehovah ist würdig, von uns mit jener inbrünstigen Anbetung gepriesen zu werden, die das Wort des Grundtextes, segnen,2 anzeigt. Auch Lerche und Sturmwind loben den HERRN, aber nur seine Heiligen können ihn lobpreisend segnen. (Vergl. Ps. 145,10 Grundtext) Unser innerstes Leben, unser wahres Sein sollte ganz von diesem herrlichen Dienst in Anspruch genommen sein, und unser jeglicher sollte sein eigenes Herz zu solcher Tätigkeit anspornen. Mögen andre es fertig bringen, dies zu unterlassen - lobe du, meine Seele, den HERRN. Mögen andere murren, du aber lobe. Mögen andre sich selber oder ihre Götzen rühmen, du aber lobe den HERRN. Mögen andre Gott nur mit den Lippen ehren, ich aber will meine Seele zum Preise Gottes aufrufen. Und (alles) was in mir ist, seinen heiligen Namen. Mannigfaltig sind unsere Fähigkeiten, Gemütsbewegungen, Anlagen und Kräfte, aber sie alle hat Gott uns gegeben, darum sollten sie auch alle im Chor ihn preisen. Halbherzige, schlecht erwogene, vernunftlose Lobpreisungen sind nicht solche, wie wir sie unserem liebevollen Herrn darbringen sollten. Fordert schon das Gesetz des einfachen Rechtes unser Herz, Seele und Gemüt ganz für den Schöpfer, der uns gebildet hat, wie viel mehr darf das Gesetz der Dankbarkeit darauf umfassenden Anspruch erheben, dass unser ganzes Wesen dem gnadenreichen Gott huldige. Es ist lehrreich, zu beachten, wie der Psalmist die Heiligkeit des Namens Gottes hervorhebt, als sei diese ihm das Köstlichste an der Offenbarung Gottes; oder vielleicht geschieht es, weil die Heiligkeit Gottes, d. i. die innere Einheit seines Seins, seines Denkens, Wollens und Wirkens, dem Gemüt des Psalmisten der stärkste Antrieb und erhabenste Beweggrund war, ihn auch mit innerer Einigung seines ganzen Wesens anzubeten. Kindlein im Glauben mögen Gottes Güte vornehmlich preisen, Väter aber in der Gnade erheben seine Heiligkeit. Unter dem Namen Gottes verstehen wir sein geoffenbartes Wesen; und wahrlich, solche Lobgesänge, die nicht durch fehlbares Denken und unvollkommenes Beobachten der menschlichen Vernunft, sondern durch die unfehlbare göttliche Offenbarung und Eingebung hervorgerufen sind, sollen mehr als alle andern alle unsere gottgeweihten Kräfte wecken.

2. Lobe den HERRN, meine Seele. Es ist ihm voller Ernst mit seinem Vorsatz, Gott zu preisen; darum ruft er sich abermals dazu auf. War er vorher schläfrig gewesen? Oder war ihm jetzt die Wichtigkeit, die gebieterische Notwendigkeit der Anbetung Gottes mit zwiefacher Kraft zum Bewusstsein gekommen? Sicherlich gebraucht er keine müßigen Wiederholungen, führt doch der Heilige Geist ihm die Feder. Somit zeigt uns die Wiederholung, dass wir es nötig haben, uns immer und immer wieder anzueifern, wenn wir damit umgehen, Gott zu loben, weil es schmählich wäre, ihm weniger darzubringen, als das Höchste, Beste, das unsere Seele geben kann. In diesen Eingangsversen stimmt der Sänger seine Harfe; er spannt die locker gewordenen Saiten, damit auch nicht ein Ton versage in den heiligen Akkorden. Und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Auch nicht eine der uns vom HERRN erwiesenen Taten darf der Vergessenheit anheimfallen, denn sie alle sind für uns wirkliche Wohltaten, alle seiner würdig und alle darum auch des Preises wert. Unser Gedächtnis ist gar treulos gerade in Beziehung auf die besten Dinge; einer seltsamen Verkehrtheit zufolge, die ihm durch den Sündenfall eingeimpft worden ist, häuft es den Auskehricht der Vergangenheit bei sich auf und lässt unschätzbare Schätze achtlos liegen; Kümmernisse, Leiden aller Art hält es krampfhaft fest, für Wohltaten dagegen ist es schlaff, wie eines gelähmten Mannes Hand. Es bedarf, mit scharfem Sporn zu seiner Pflicht angetrieben zu werden, wiewohl diese Pflicht seine Wonne sein sollte. Achten wir ernstlich darauf, dass der Psalmist alles, was in ihm ist, dazu auffordert, aller Wohltaten des HERRN zu gedenken. Es gilt, unsere sämtlichen Kräfte für diese hehre Aufgabe herauszurufen: Gottes allumfassende Güte kann nicht mit weniger als allem, was wir sind und haben, gepriesen werden.
  Lieber Leser, haben wir nicht Ursache genug, jetzt ihn lobpreisend zu segnen, der uns also segnet? Komm, lass uns unsere Tagebücher durchgehen und zusehen, ob sich da nicht auserlesene Gnadenerweisungen aufgezeichnet finden, für die wir ihm bisher noch nicht den gebührenden Dank erstattet haben. Erinnern wir uns, wie der persische König in jener Nacht, da er nicht schlafen konnte, in der Chronik des Reiches las und entdeckte, dass einer, der ihm das Leben gerettet hatte, niemals dafür Vergeltung empfangen hatte. Wie schnell erwies er ihm da die Ehre, die ihm gebührte! Uns hat der HERR durch eine wunderbare Erlösung errettet; sollen wir ihm dafür keinen Preis darbringen? Der Name, ein undankbarer Mensch zu sein, ist einer der schmählichsten, den jemand tragen kann; wir können uns wahrlich nicht ruhig der Gefahr aussetzen, mit solchem Brandmal gezeichnet zu werden. Drum Psalter und Harfe, wach’ auf, und lasse den Lobgesang hören!

3. Der dir alle deine Sünde vergibt. Damit beginnt David seine Liste von empfangenen Segnungen, die er als Gegenstände und Gründe des Lobpreises anführt. Er wählt etliche der köstlichsten Perlen aus dem Schatzkästlein der göttlichen Liebe, reiht sie auf an der Schnur des Gedächtnisses und hängt sie um den Nacken der Dankbarkeit. Die Vergebung der Sünden ist in unserem menschlichen Erfahrungsgebiet eines der auserlesensten Geschenke der Gnade und zugleich eines der ersten, die unerlässliche Vorbedingung und Grundlage für den Genuss all der andern Gaben, die da folgen. Ehe uns die Missetat vergeben ist, sind Heilung, Befreiung und Befriedigung der Seele uns unbekannte Segnungen. Die Vergebung ist aber nicht nur der Reihe nach das Erste in unserer geistlichen Erfahrung, sondern in gewissen Beziehungen auch das Erste dem Werte nach. Die Erlassung der Schuld ist ein Gut, dessen wir uns in der Gegenwart erfreuen dürfen, denn Gott vergibt; sie ist ein dauerndes Gut, denn er vergibt noch immer, ist, wie es buchstäblich heißt, der Vergebende; sie misst sich nicht nach Menschenmaß und -art, denn sie ist göttlich; sie reicht gar weit, denn sie räumt alle unsre Sünden weg; sie umfasst unsere Unterlassungen sowohl wie unsre Begehungen, denn beides sind Verkehrtheiten (was das Wort des Grundtextes seinem Ursprunge nach bedeutet); und sie ist höchst wirksam, denn sie ist etwas so wirkliches wie die Heilung und die übrigen Gnadengaben, mit denen sie hier zusammengestellt ist. Und heilt alle deine Gebrechen. Wenn die Ursache verschwunden ist, nämlich die Sünde, hört auch die Folge auf. Die Gebrechen Leibes und der Seele sind durch die Sünde in die Welt gekommen, und da die Sünde ausgerottet wird, werden auch die körperlichen, die seelischen und die geistlichen Krankheiten verschwinden, dass endlich kein Einwohner mehr sagen wird: Ich bin schwach.3 (Jes. 33,24) Wie vielseitig ist doch das Wesen unseres himmlischen Vaters! Erst begnadigt er uns als souveräner König, dann heilt er uns als Arzt. Er ist uns in der Tat alles, und stets gerade das, was unser Bedürfnis erheischt, und unsere Mängel und Gebrechen enthüllen uns ihn nur von neuen Seiten. Gott ist es, der der Arznei für unseren siechen Leib heilsame Wirkung gibt, und seine Gnade heilt und heiligt unsere Seele. Im Geistlichen sind wir täglich in seiner Pflege, und er besucht uns, wie der Arzt seine Kranken, und heilt fort und fort (beachte wieder die Form des Grundtextes: "der da heilend ist") jede Krankheit, die aufkommt. Auch nicht eine unserer vielen inneren Krankheiten spottet seiner Kunst, er heilt sie alle und wird sich an uns als Arzt bewähren, bis auch die letzte Spur von Siechtum aus unserem Wesen geschwunden ist. Die beiden alle dieses Verses sind weitere Gründe, warum alles, was in uns ist, den HERRN loben sollte.
  Der Psalmdichter stand im persönlichen Genuss der beiden Segnungen, welche er in diesem Vers an die Spitze stellt; er sang nicht von andern, sondern von sich selbst, oder vielmehr von seinem Herrn, der ihm täglich vergab und täglich sein Arzt war. Er muss darüber Gewissheit gehabt haben, dass dem so sei, sonst hätte er nicht davon singen können. Kein Zweifel trübte ihm diese selige Erfahrung, sein Herz zeugte davon, und deshalb rief er seine der Schuld entlastete und von Heiligungskräften belebte Seele auf, mit aller Macht den HERRN zu preisen.

4. Der dein Leben vom Verderben4 erlöst. Durch Loskauf und durch Machttat erlöst der HERR uns von dem geistlichen Tode, dem wir verfallen waren, und von dem ewigen Tode, der unausbleiblichen Folge jenes. Würde die durch die Sünde verwirkte Todesstrafe nicht von uns genommen, so wären die Vergebung und Heilung nur eine unvollkommene Rettung, Bruchstücke, die ohne die notwendige Ergänzung nur wenig Wert hätten; aber die Befreiung von der Schuld und Macht der Sünde ist, ganz unserem Bedürfnis entsprechend, begleitet von der Aufhebung des Todesurteils, das über uns verhängt war. Preis unserem großen Stellvertreter, der uns vom Hinabfahren in die Grube errettete, indem er sich selbst für uns zum Lösegeld gab. Diese Erlösung wird stets einen der jubelndsten Akkorde in dem Dankliede des Gläubigen bilden. Der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit. Unser Gott tut nichts halb; er hält nicht ein, bis er an den Seinen das Höchste getan hat. Sie reinigen, heilen, erlösen, ist ihm nicht genug; er muss sie auch zu Königen machen, sie krönen, und die Krone, die er für schön genug achtet, dass er sie ihnen aufs Haupt setze, muss weit köstlicher sein als eine aus vergänglichen Dingen, wie Silber und Gold, gemachte. Sie ist mit Edelsteinen der Liebe besetzt und mit dem Samt der Barmherzigkeit verbrämt; sie ist in reicher Fülle mit den Brillanten der begabenden Gnade geschmückt, doch auch, dass sie das Haupt nicht drücke, durch eine sanfte Auskleidung mit erbarmendem Mitleid zum Tragen angenehm gemacht. HERR, wer ist dir gleich! Gott selber krönt die Fürsten seines Hauses; denn all ihr Bestes, das sie haben, kommt unmittelbar und offenkundig von ihm: sie erwerben sich die Krone nicht, denn sie ist eine Krone der Gnaden, nicht des Verdienstes; sie fühlen es tief, wie unwürdig sie derselben sind, darum handelt er mit ihnen gar zart nach seinem Erbarmen; aber er ist entschlossen sie zu segnen, darum krönt er sie fort und fort (Partizip), bekränzt ihre Stirn allezeit mit Kleinoden der Gnade und Barmherzigkeit. Er ruht nicht, bis er allem, was er angefangen, die Krone aufsetzen kann; darum, wo er Vergebung schenkt, da gibt er auch Kindesrecht und Königsadel. "Weil du so wert bist vor meinen Augen geachtet, musst du auch herrlich sein, und ich habe dich lieb" (Jes. 43,4) Die Sünde hat uns all unserer Ehren beraubt, wir waren als Hochverräter geschändet und enterbt; aber Er, der unser Todesurteil zunichte machte, indem er uns mit seinem eigenen Blute vom Verderben erlöste, setzt uns wieder in alle Ehren, ja in größere denn die verlorenen ein, indem er uns eine neue Krone aufs Haupt setzt. Und der Gott, der uns also krönt, sollte von uns nicht wieder gekrönt, verherrlicht werden? Auf, meine Seele, wirf deine Krone ihm zu Füßen und bete ihn in tiefster Ehrfurcht an, der dich also erhöhet hat, dass er dich aus dem Staube, ja aus dem Kot aufgerichtet und unter die Fürsten gesetzt hat. (Ps. 113,7.8)

5. Der deinen Schmuck (d. i. deine Seele) mit Gutem sättigt. (Grundtext) Keines Menschen Begehren ist je ganz bis zur Sättigung gestillt, außer dem Herzen des Gläubigen, und auch ihn kann nur Gott selbst so völlig befriedigen. Mancher Weltmensch ist übersättigt, aber wirklich befriedigt keiner. Gott sättigt die Seele des Menschen, seinen edelsten Teil, der darum hier sein Schmuck,5 seine Zier genannt wird, wie anderwärts, z. B. Ps. 16,9; 108,2, seine Ehre, oder Ps. 22,21; 35,17 seine Einzige, seine Teuerste. Damit geschieht denn auch, was Luther hier (sprachlich unhaltbar) sagt: Der deinen Mund sättiget mit Gutem (L. 1524), so hungrig und unersättlich er sonst auch gewesen sein mag, und damit fröhlich machet (L. 1534). Herzenssättigung ruft laut nach Herzenslobpreis, und wenn der Mund mit Gutem gesättigt ist, ist er verpflichtet, gut von dem zu sprechen, der ihn gefüllt hat. Unser guter Meister beschenkt uns mit wahrhaft guten Dingen, nicht mit nichtigem Tand und eitlen, hohlen Freuden. Und solch gute Gaben gibt er allezeit, so dass er wieder und wieder unsre Seele mit Gutem sättigt (Partizip); sollen wir da nicht auch fort und fort ihn preisen? Wenn wir nie aufhören, ihn zu segnen, solange er nicht aufhört, uns mit Segnungen zu überschütten, so werden wir ewig an dem seligen Werke bleiben. Und du wieder jung wirst wie ein Adler. Dem Psalmisten war Erneuerung der Kraft in solchem Maße geschenkt worden, dass gleichsam seine Jugend wieder anfing, ein neues Leben vor ihm lag. Er war so voller Kraft wie ein Adler, dessen Augen in die Sonne schauen und dessen Schwingen über die Wetterwolken auffahren können. Man denkt bei den Textesworten (wörtl.: dass deine Jugend erneuert wird [oder sich erneuert] wie ein Adler, s. Luther 1524), gerne an die jährliche Mauserung des Adlers, nach welcher er wieder jung und frisch aussieht. Auch in Jes. 40,31 wollen einige eine Hindeutung sehen auf die auffällige Erneuerung des Gefieders bei diesem Vogel. Allein an beiden Stellen ist diese Deutung keineswegs notwendig, sondern es kann ganz allgemein die bekannte unverwüstliche Lebenskraft des Adlers den Vergleich bilden. Hier mag der Sinn einfach der sein, dass der Kranke so geheilt und gestärkt worden, dass er so voller Kraft ist wie der Adler, der stärkste, furchtloseste, majestätischste und am höchsten aufsteigende unter allen Vögeln. Er, der im vorhergehenden Psalm mit der Eule um die Wette grübelnd traurig zwischen Ruinen saß, schwingt sich hier dem Adler gleich in Himmelshöhen auf. Der HERR wirkt wunderbare Veränderungen in uns, und wir lernen aus solchen Erfahrungen, seinen heiligen Namen zu preisen. Aus einem Käuzlein zum Adler wachsen und die Wüste der Rohrdommel verlassen, um zu den Sternen aufzufahren, das ist wahrlich genug, um jedem, der es an sich erlebt, den Ruf zu entlocken: Lobe den HERRN, meine Seele!
  So schließt sich die Kette der Gnade zum endlosen Ring. Die Sünde vergeben, ihre Macht gebrochen, das durch sie über uns gekommene Todesurteil aufgehoben; sodann wir geehrt, voll befriedigt und verjüngt zu neugeborenen Kindlein im Hause Gottes. Ja wahrlich, HERR, wir müssen dich preisen, und wir wollen es tun. Wie du uns nichts, gar nichts vorenthältst, so wollen auch wir nicht eine einzige unserer Kräfte zurückhalten, sondern von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und aus allem Vermögen deinen heiligen Name erheben.


6. Der HERR schafft Gerechtigkeit
und Gericht allen, die Unrecht leiden.
7. Er hat seine Wege Mose wissen lassen,
die Kinder Israel sein Tun.
8. Barmherzig und gnädig ist der HERR,
geduldig und von großer Güte.
9. Er wird nicht immer hadern
noch ewiglich Zorn halten.
10. Er handelt nicht mit uns nach unseren Sünden
und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat.
11. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist,
lässt er seine Gnade walten über die, so ihn fürchten.
12. So ferne der Morgen ist vom Abend,
lässt er unsre Übertretungen von uns sein.
13. Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt,
so erbarmt sich der HERR über die, so ihn fürchten.
14. Denn er kennt, was für ein Gemächte wir sind;
er gedenkt daran, dass wir Staub sind.
15. Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras,
er blüht wie eine Blume auf dem Felde;
16. wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da,
und ihre Stätte kennt sie nicht mehr.
17. Die Gnade aber des HERRN währet von Ewigkeit zu Ewigkeit
über die, so ihn fürchten,und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind
18. bei denen, die seinen Bund halten
und gedenken an seine Gebote, dass sie danach tun.
19. Der HERR hat seinen Stuhl im Himmel bereitet,
und sein Reich herrscht über alles.


6. Der HERR schafft Gerechtigkeit und Gericht allen, die Unrecht leiden. Was wir persönlich dem HERRN an Dank schuldig sind, darf unser Loblied nicht allein für sich in Anspruch nehmen; wir sollen den HERRN auch für seine an andern erwiesenen Wohltaten preisen. Er lässt die Armen und Wehrlosen nicht in der Gewalt ihrer Feinde zu Grunde gehen, sondern tritt für sie ins Mittel, denn er ist der Rächer der Unterdrückten und der Richter der Unterdrücker. Als sein Volk in Ägypten war, hörte er ihr Seufzen und Schreien (2. Mose 2,23; 3,7) und führte sie aus, Pharao aber stürzte er ins Schilfmeer samt Wagen und Ross. Alle Ungerechtigkeit der Menschen wird gerechte Belohnung empfangen von der Hand des HERRN. Gottes Gnade gegen seine Heiligen heischt Rache an deren Verfolgern, und er wird volle Vergeltung üben. Kein Tröpfchen Märtyrerblut wird umsonst vergossen; keiner der Seufzer, die den mutigen Bekennern in Kerkern und Banden entquollen, wird ohne gerichtliche Ahndung bleiben. Alles Unrecht wird zurecht gebracht, alle Unterdrückten in ihr Recht eingesetzt werden. Die Gerechtigkeit mag zuzeiten die menschlichen Gerichtshöfe verlassen, auf Gottes Richterstuhl bleibt sie. Dafür wird jeder gerecht Denkende Gott preisen. Wäre er gegen das Wohl seiner Geschöpfe gleichgültig, vernachlässigte er die Handhabung der Gerechtigkeit, ließe er boshafte Bedrücker schließlich entschlüpfen, so hätten wir mehr Ursache, zu zittern als uns zu freuen; aber es ist dem nicht also, denn unser Gott ist ein gerechter Gott, der die Taten wägt. (1. Samuel 2,3 nach LXX) Er wird dem Stolzen sein Teil geben und die Tyrannen Staub essen lassen; ja, oft sucht er den hochmütigen Verfolger schon in diesem Leben heim, also dass man erkennt, dass der HERR Recht schafft. (Ps. 9,17.)

7. Er hat seine Wege Mose wissen lassen. Mose durfte reichlich die Art und Weise kennen lernen, wie Gott an den Menschenkindern handelt; in jedem der drei Abschnitte seines Lebens bekam er darein tiefe Blicke: als er noch am ägyptischen Hofe war, sodann bei seinem Leben der Zurückgezogenheit in den Einöden Midians, und als er das Haupt der Stämme Israels war. Ihm enthüllte der HERR besonders klar sein Walten und seine Regierungsweise; er durfte mehr von Gott schauen, als je zuvor einem Sterblichen gestattet worden war, da er mit Gott auf dem Berge so nahen Verkehr genoss. Die Kinder Israel sein Tun, wörtlich: seine Taten. Sie sahen weniger als Mose, denn sie schauten Gottes Taten, ohne die Beweggründe, die ihn bei denselben leiteten, zu verstehen; dennoch war auch das schon viel, und es hätte mehr sein können, wenn sie nicht so verkehrt gewesen wären: die Beschränkung lag nicht in der göttlichen Offenbarung, sondern in der Härte ihrer Herzen. Es ist eine erhabene Tat freier Gnade und herablassender Liebe, wenn Gott sich irgendjemand oder gar einem ganzen Volke offenbart, und die Menschen sollten billig die ihnen damit erzeigte vorzügliche Huld gebührend schätzen. Wir, die wir an Jesum glauben, kennen die wunderbaren Wege Gottes, seine anbetungswürdige Handlungsweise in der Gnade, und wir haben aus Erfahrung die Taten seiner Gnade gegen uns kennen gelernt. Wie inbrünstig sollten wir unseren göttlichen Lehrer, den Heiligen Geist, preisen, der uns mit diesen Dingen bekannt gemacht hat; denn ohne ihn säßen wir noch heute in Finsternis. "Herr, was ist’s, dass du uns dich willst offenbaren und nicht der Welt?" (Joh. 14,22.) Warum hast du uns den "Auserwählten, die es erlangten" (Röm. 11,7) zugezählt, während die andern verstockt werden?
  Lasst uns beachten, wie die Persönlichkeit Gottes bei all diesem gnädigen Unterweisen hervortritt: Er hat usw. Er überließ es nicht dem Mose, die Wahrheit zu finden, sondern ward selbst sein Unterweiser. Was würden wir wohl jemals wissen, wenn er es uns nicht kundtäte? Gott allein kann sich selbst offenbaren. Wenn Mose Gott nötig hatte, um die göttlichen Dinge zu erkennen, wie viel mehr wir, die wir gegen ihn, den großen Gesetzgeber, so unbedeutende Menschen sind!

8. Barmherzig und gnädig ist der HERR. Diejenigen, mit welchen er es zu tun hat, sind Sünder. So groß sein Wohlwollen gegen sie sein mag, so sind sie doch schuldbeladen und können nur von seiner Barmherzigkeit leben; aber sein Mitleid mit ihrem gefallenen Zustand ist auch tief, und es fehlt ihm nicht an Willigkeit, sie durch seine Gnade aus demselben zu erheben. Die Barmherzigkeit vergibt die Sünde, die Gnade gibt Segnungen, und an beidem, an Barmherzigkeit und Gnade, ist der HERR überreich. Das eben ist jener sein Weg (seine Weise zu handeln), den er Mose wissen ließ (2. Mose 34,6), und bei diesem Wege wird er verharren, solange die Zeit der Gnade währt und die Menschen noch in diesem Leibesleben sind. Er, der Gerechtigkeit und Gericht schafft oder ausübt, hat doch Lust zur Gnade. Geduldig, eigentlich: langsam zum Zorn. Er kann zürnen, kann seine gerechte Entrüstung über den Schuldigen entladen, aber es ist eine ihm ungewohnte Arbeit, er zögert lange damit, hält von Liebe bewogen inne, säumt auf dem Wege, um dem Schuldigen Raum zur Buße zu geben und Gelegenheit, noch die Gnade zu ergreifen. Also handelt er an den größten Sündern, wie viel mehr an seinen geliebten Kindern; gegen sie ist sein Zorn von gar kurzer Dauer und reicht nie in die Ewigkeit, und wenn er sie seinen Hass gegen die Sünde in väterlichen Züchtigungen fühlen lassen muss, so betrübt er doch nicht von Herzen und hat bald Mitleid mit ihren Ängsten. Daran sollten wir lernen, selber auch langsam zu sein zum Zorn; wenn der HERR bei den starken Reizungen, deren wir uns schuldig machen, langmütig ist, wie viel mehr sollten wir dann die Fehle unserer Brüder tragen! Und von großer Güte: reich an Gnade, schnell bereit, Gnade walten zu lassen, und das im reichsten Maße. Es ist auch nötig, dass er ein solcher Gott sei, sonst würden wir bald von seinem Zornesfeuer verzehrt werden. Er ist Gott und kein Mensch, sonst würden unsre Sünden seine Liebe bald auslöschen; doch höher als die Berge unserer Missetaten steigen die Fluten seiner Gnade. Die ganze Welt besteht durch seine verschonende Gnade; diejenigen Menschen, welche das Evangelium hören, nehmen an seiner einladenden Gnade teil, und die, die gläubig geworden sind, verdanken ihr Leben seiner rettenden Gnade, werden erhalten durch seine bewahrende Gnade, werden erquickt durch seine tröstende Gnade und werden einst in den Himmel eingehen kraft seiner nimmer endenden Gnade. Diese überströmende Huld sei zu allen Stunden unser Lied im Hause unserer Wallfahrt. Mögen alle, die da wissen, dass sie von ihr leben, die mächtige Quelle preisen, die sie so willig uns zuströmen lässt.

9. Er hadert6 nicht immer. Oft muss er mit uns rechten, denn er kann es nicht dulden, dass seine Kinder in ihren Herzen Sünde hegen; aber nicht immerdar straft er sie: sobald sie sich zu ihm kehren und ihre bösen Wege verlassen, endet er den Streit. Er könnte ja beständig Ursache finden, mit uns zu hadern, denn wir haben stets etwas in uns, das seinem heiligen Sinn zuwider ist; aber er hält sich zurück: ihr Geist müsste sonst vor ihm dahinschmachten und die Seelen, die er selbst geschaffen. (Jes. 57,16 Grundtext) Es wird für jeden unter uns, der zu dieser Zeit der bewussten Gemeinschaft mit dem HERRN ermangelt, nützlich sein, bei ihm selbst die Ursache seines Zürnens zu erfragen, mit Hiob zu Gott zu sagen: Lass mich wissen, warum du mit mir haderst. (Hiob 10,2) Denn er lässt sich leicht erbitten und kehrt sich bald von seinem Zorn. Wenn seine Kinder sich von ihren Sünden wenden, so wendet er sich bald vom Schelten. Noch hält er ewig Zorn. Er hegt keinen Groll. Er mag es an seinen Kindern nicht leiden, wenn sie sich untereinander etwas nachtragen, und er gibt ihnen dazu in seinem eigenen Verhalten ein erhabenes Vorbild. Wenn der HERR sein Kind gezüchtigt hat, so ist sein Zorn vorbei; er straft nicht als Richter, dann könnte sein Zorn fortbrennen, sondern er handelt als Vater, und darum macht er nach wenigen Schlägen der Sache ein Ende und drückt sein geliebtes Kind an die Brust, als wäre nichts geschehen; oder aber, wenn das Ärgernis zu tief in die Natur des Übertreters eingewurzelt ist, als dass es auf diese Weise überwunden werden könnte, so fährt er fort mit strenger Erziehung, aber er hört nie auf zu lieben und lässt seinen Zorn nicht mit den Seinigen in die andere Welt hinübergehen, sondern nimmt sein irrendes Kind in die Herrlichkeit auf.

10. Er hat nicht mit uns gehandelt nach unseren Sünden und vergalt uns nicht nach unseren Missetaten. (Wörtl.) Sonst wäre Israel völlig vom Erdboden verschwunden, und auch wir wären längst der untersten Hölle übergeben. Wir sollten den HERRN preisen für das, was er nicht getan hat, so gut wie für das, was er uns zugute vollbracht hat; selbst diese Kehrseite des göttlichen Handelns gibt uns Anlass zu anbetendem Dank. Bis zu dem gegenwärtigen Augenblick haben wir nie, auch wenn es uns am schlimmsten erging, gelitten, wie wir zu leiden verdienten (vergl. Esra 9,13); unser täglich Los ist uns nicht mit der Messschnur dessen, was wir verdienten, zugeteilt worden, sondern nach dem gar andern Maße unverdienter Freundlichkeit. Sollten wir da nicht den HERRN lobpreisen? Jeder Nerv unseres Wesens könnte von Qual durchzuckt sein; stattdessen stehen wir alle im Genuss eines gewissen Maßes von Glückseligkeit, und unser vielen ist sogar ein reiches Maß innerer Freude beschert: so lobe denn jede Kraft unserer Seele, ja alles was in uns ist, seinen heiligen Namen.

11. Denn (oder sondern) so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten (wörtl.: ist seine Gnade mächtig) über die, so ihn fürchten. Unbegrenzt ist die Gnade des HERRN gegen seine Erkorenen; sie kann so wenig gemessen werden wie die Höhe des Himmels oder der Himmel Himmel. Nicht allein die unendliche Ausdehnung, sondern auch die Erhabenheit, Pracht und Herrlichkeit liegt in dem Vergleich. Wie das erhabene Himmelszelt die Erde überwölbt, sie mit Tau und Regen tränkt, mit dem Licht von Sonne, Mond und Sternen erhellt und beglückt, und gleichsam mit nimmer ermüdender Wachsamkeit auf sie niederblickt, geradeso bedeckt die Gnade des HERRN von oben her alle seine Erwählten, umgibt sie von allen Seiten, macht sie reich und fruchtbar, und ist das Saphirgewölbe, unter dem sie ewig wohnen. Wer mag auch nur den nächsten der Fixsterne erreichen, wer gar die äußersten Grenzen des sternbesäten Universums messen? Doch. ist so groß seine Gnade! O welch großes Wörtlein - Gnade! Alle diese Gnade aber ist für die, so ihn fürchten: bei uns muss demütige, herzliche Anerkennung der Macht und Gewalt des Höchsten sein, sonst können wir seine Gnade nicht genießen. Gottesfurcht ist etwas vom Ersten, das das göttliche Leben in uns erzeugt, sie ist der Anfang der Weisheit; dennoch gewährleistet sie dem, der sie besitzt und übt, alle die Segnungen der göttlichen Gnade, und das Wort Furcht des HERRN wird daher auch, hier und anderwärts, gebraucht, um das Ganze der wahren Frömmigkeit zu bezeichnen. Manches wahre Gotteskind ist voll kindlicher Ehrfurcht und steht doch zugleich der Frage, ob es bei Gott als Kind angenommen sei, mit Zittern gegenüber; dies Zittern ist grundlos, aber es ist unendlich besser als jene gemeine Frechheit, welche Menschen den Mut gibt, sich mit der Gotteskindschaft und darum auch der Heilsgewissheit zu brüsten, während sie, wie Simon der Zauberer, bittere Galle sind und verknüpft mit Ungerechtigkeit. (Apg. 8,23) Wer auf die unendliche Weite der Gnade hin vermessen wird, der mag an unserem Text zu erwägen lernen, dass Gottes Gnade, ob sie wohl weit ist wie der Horizont und hoch wie die Sterne, doch nur denjenigen zugesichert ist, welche den HERRN fürchten, dass die hartnäckigen Aufrührer aber Gericht ohne Gnade werden zugemessen bekommen.

12. So ferne der Morgen ist vom Abend, lässt er unsre Übertretungen von uns sein. O welch köstlicher, herrlicher Vers! Selbst auf den Blättern der von Gott eingegebenen Schrift ist keine Stelle zu finden, die ihn übertreffen könnte! Die Sünde von uns weggeschafft durch ein Wunder der Liebe! Welch eine Last ist da fortzurücken, und doch ist sie so weit weggeschafft, dass die Entfernung nicht mehr zu berechnen ist. Fliege so fern wie die Flügel der Einbildung dich tragen mögen; geht dein Flug ostwärts durch den Raum, so bist du mit jedem Flügelschlage weiter vom Westen weg. Ist die Sünde so weit von uns entfernt worden, dann dürfen wir sicher sein, dass selbst ihre Witterung, ihre Spur, die Erinnerung an sie völlig verschwunden ist; dann braucht uns auch kein Schatten von Furcht anzukommen, als könnte sie je zurückgebracht werden - selbst der Satan vermöchte solch ein Werk nicht zu vollbringen. Unsre Sünden sind fort, Jesus hat sie hinweggetragen. Weit wie der Ort des Sonnenaufgangs vom Westen entfernt ist, so fern weg hat unser Sündenbock schon vor neunzehn Jahrhunderten unsre Verschuldungen getragen, und wenn man sie nun sucht, wird man sie nicht finden, spricht der HERR. (Jer. 50,20) Auf denn, meine Seele, werde munter und preise den HERRN für diese kostbarste aller Segnungen! Hallelujah! Nur Er vermochte Sünde hinwegzutun, und er hat es in göttlich großer Weise getan, indem er alle unsre Verschuldungen ein für alle Mal getilgt hat.

13. Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über die, so ihn fürchten. Denen, die seinen heiligen Namen aufrichtig ehren, ist der HERR ein Vater und handelt an ihnen als ein solcher. Erbarmen ist’s, was er ihnen bezeigt, denn auch an den Besten der Menschen sieht der HERR viel, das sein Mitleid herausfordert, und wenn es mit ihnen am besten steht, so können sie doch nur von seinem Erbarmen leben. Das sollte wahrlich allen Hang zum Stolz in uns ersticken, sosehr es uns zu gleicher Zeit reichsten Trost gewährt. Väter haben ein zartes Mitgefühl für ihre Kinder, sonderlich wenn diese in Schmerzen sind. Wie gerne würden sie an ihrer Statt leiden! Ihr Stöhnen und Jammern schneidet ihnen ins Herz. So mitempfindend ist unser himmlischer Vater gegen uns. Wir beten nicht einen steinernen Götzen an, sondern den lebendigen Gott, der die Zärtlichkeit selbst ist. Auch in diesem Augenblicke regt sich sein Herz in erbarmender Liebe gegen uns, denn die Übersetzung des Zeitworts in der Gegenwart ist richtig; sein Mitleid hört nie auf zu wallen, wie auch wir ja nie aufhören, es zu bedürfen.

14. Denn Er kennt, was für ein Gemächte wir sind. Er weiß genau, aus welchem Stoffe wir gemacht sind, hat er uns doch selber gebildet. (1. Mose 2,7) Unsre ganze Natur und Bildungsart, unsre Leibes- und Gemütsbeschaffenheit, unsre besonderen Schwächen und die uns vornehmlich aufsässigen Versuchungen, er weiß sie wohl, denn er durchforscht unser innerstes Wesen. Er gedenkt daran, dass wir Staub sind: gebildet aus Staub, Staub auch jetzt noch, und im Begriff, wieder zu Staub zu werden. (1. Mose 3,19; Hiob 34,15; Ps. 104, 29) Wir haben wohl von dem "Eisernen Herzog" (Wellington) gehört sowie von Leuten, denen man eine eiserne Konstitution zuschrieb; aber diese Ausdrücke lassen sich leicht als Lügen erweisen, denn der eiserne Herzog ist zergangen, und die andern Leute von Eisen sinken einer nach dem andern in das Grab, über dem das Requiem ertönt: Der Staub dem Staube. Wir selber vergessen gar leicht, dass auch wir Staub sind, und setzen unsere geistigen und leiblichen Kräfte durch übermäßiges Arbeiten ungebührlichen Proben aus, und geradeso nehmen wir oft zu wenig Rücksicht auf die Schwachheit anderer und laden ihnen Lasten auf, die sie nicht ohne Schaden tragen können; unser himmlischer Vater aber überbürdet uns nie, er verfehlt nicht, uns das Maß von Kraft zu geben, das der Last des Tages entspricht, weil er stets unsere Gebrechlichkeit in Rechnung zieht, wenn er uns unser Los zuteilt. Er schont unser, wie ein Vater seines Sohnes schont, der ihm dient. (Mal. 3,17.) Gepriesen sei sein heiliger Name, dass er gegen seine hinfälligen Geschöpfe so rücksichtsvoll und gütig ist.

15. Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras. Er lebt vom Grase und lebt wie das Gras. Das Brotkorn ist nur veredeltes Gras, und der Mensch, der sich davon nährt, nimmt an dessen Natur teil. Das Gras keimt, wächst, blüht. fällt unter der Sichel, verdorrt und wird vom Felde weggenommen: lies diesen Satz noch einmal, du wirst in ihm die Geschichte des Menschen wiederfinden. Durchlebt er die volle dem Menschenleben gesetzte kleine Zeit, so wird er am Ende niedergemäht; viel wahrscheinlicher aber ist, dass er hinwelkt, noch ehe er zur Reife kommt, oder, lange bevor er seine Zeit erfüllt hat, plötzlich weggerissen wird von seiner Stätte. Er blüht wie eine Blume auf dem Felde. Er hat seine Schönheit und Anmut gerade wie die Wiesen, wenn sie mit Butterblumen übersät sind; aber ach wie kurz ist diese Herrlichkeit! Kaum ist sie aufgeblüht, so ist’s um sie geschehen, es ist nur ein Aufleuchten von Lieblichkeit, so schnell vergehend, wie es gekommen. Der Mensch ist nicht einmal den Pflanzen im Gewächshaus oder auch nur im geschützten Gartenbeete zu vergleichen; er wächst wie die Feldblume am besten in der Freiheit auf, aber gleich den unbeschützten Kindern Floras, die unsere Matten schmücken, bedrohen auch ihn tausend Gefahren mit einem schnellen Ende. Das bunte Bild, welches eine große Versammlung bietet, erinnert uns stets an eine in vielen Farben prangende Wiese; und der Vergleich wird erschreckend wahr, wenn wir daran denken, dass genauso wie das Gras verwelkt und seine schöne Gestalt verdirbt auch die Menschenkinder, auf die wir niederschauen, und alle ihre sichtbare Schönheit und Herrlichkeit vergehen. Also geht’s auch mit allem, das vom Fleische kommt, auch mit seinen größten Vorzügen und natürlichen Tugenden, denn "was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch" (Joh. 3,6) und darum auch nur wie Gras, das verwelkt, wenn nur ein Windhauch aus der Wüste es trifft. Wohl denen, die als von oben her Geborene einen unvergänglichen Samen in sich haben, der da lebt und bleibt ewiglich.

16. Wenn der Wind darüber geht, so ist sie7 nimmer da. Nur ein wenig Wind ist nötig, es bedarf nicht einmal der Sense, ein Hauch vollbringt das Werk, so hinfällig ist die Blume. Und welch einer kleinen Menge giftiger Gase bedarf es, ein tödliches Fieber zu erzeugen, dem keine Menschenkunst Einhalt tun kann! Es bedarf nicht des Schwerts noch einer Kugel, ein Hauch verpesteter Luft ist viel tödlicher und verfehlt nicht, den gesundesten, eisenfesten Menschen niederzustrecken. Und ihre Stätte kennt sie nicht mehr. Dieselbe Blume blüht nicht wieder. Sie mag eine Nachfolgerin haben, sie selbst aber ist nicht mehr; ihr Kelch und ihre Blätter sind zerstreut in alle Winde, und ihr Wohlgeruch wird niemals wieder die Abendluft durchduften. Und der Mensch - auch er stirbt, und weg ist er, weg aus dem trauten Heim, weg von den Stätten, wo er lebte, wirkte, sich vergnügte, und hinweg, um niemals wiederzukehren. Soweit diese Welt in Betracht kommt, ist’s, als wäre er nie gewesen; die Sonne steigt empor und nieder, der Mond nimmt zu und ab, Sommer und Winter machen ihre Runde, die Ströme fließen und alles läuft in seinen alten Bahnen, als misste niemand ihn: solch eine unbedeutende Rolle spielt er im Kreislauf der Natur. Vielleicht sucht ihn ein Freund mit schmerzlichem Vermissen. Doch wenn das Grabgeläut verklungen, die Trauermonde hingeschwunden sind, wie wenig wird dann, außer einem Hügel Erde und vielleicht einem bröckelnden Stein darauf, von unserem ganzen Dasein auf diesem geschäftigen Schauplatz übrig sein! Gewiss, es gibt dauerhaftere Erinnerungen, ja es gibt ein Dasein andrer Art, das mit der Ewigkeit vermählt ist; aber diese gehören nicht unserem Fleische an, das nur Gras ist, sondern einem höheren Leben, in welchem wir zu inniger Wesensgemeinschaft mit dem Ewigen gelangen.

17. Die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so ihn fürchten. Seliges Aber! Wie gewaltig ist der Gegensatz zwischen der welkenden Blume und dem ewigen Gott! Und wie wunderbar, dass seine Gnade unsere Hinfälligkeit mit seiner Ewigkeit verkettet, so dass auch wir unsterblich werden! Von Ewigkeit an hat Gott die Seinen als Gegenstände seiner Huld betrachtet und sie als solche dazu erwählt, an seiner heiligenden Gnade Anteil zu haben; die Lehre von der ewigen Erwählung ist denen köstlich, welche Licht haben von Gott, sie zu erkennen, und Liebe zu Gott, sie sich anzueignen. Sie bietet Stoff zu tiefem Sinnen und hoher Wonne. Die Worte "zu Ewigkeit" sind ebenso kostbar. Jehovah wandelt sich nicht, seine Gnade ist ebenso ohne Ende, wie sie ohne Anfang ist. Die ihn fürchten, werden nie die Entdeckung machen, dass ihre Sünden oder ihre Bedürfnisse die mächtigen Tiefen seiner Gnade erschöpft haben. Die große Frage ist, ob wir ihn fürchten. Geht unser Blick in kindlicher Ehrfurcht himmelwärts, so wendet sich auch der Blick der väterlichen Liebe niemals von uns und wird es nie tun, in Zeit und Ewigkeit. Und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind. Die Huld gegen die, mit welchen der HERR einen Bund macht, wird durch seine Gerechtigkeit verbürgt; eben weil er gerecht ist, nimmt er nie eine Verheißung zurück oder lässt es an ihrer Erfüllung gebrechen. Unsre gläubigen Söhne werden samt ihren Nachkommen das Wort des HERRN allezeit gleich zuverlässig finden; ihnen wird er seine Gnade erweisen und sie segnen wie er uns gesegnet hat. So wollen wir denn auch im Blick auf unsre Nachkommen dem HERRN singen. Die Vergangenheit heischt unseren Lobpreis, und die Zukunft ladet dazu ein. Lasst uns für unsre Kinder und Kindeskinder beten und flehen, aber auch für das ihnen verheißene Heil danken. Wenn Abraham sich im Blick auf seinen Samen freute, so dürfen das alle gottseligen Eltern tun, denn "an der Väter Statt sollen die Söhne sein" (Ps. 45,17), und der letzte Psalm hat uns in seinem Schlussverse gesagt: Die Kinder deiner Knechte werden bleiben, und ihr Same wird vor dir gedeihen. (Ps. 102,29.)

18. Den Kindern der Gerechten wird jedoch die Gnade des HERRN nicht bedingungslos zugesagt. Dieser Vers vollendet die Aussage des vorhergehenden, indem er hinzufügt Bei denen, die seinen Bund halten und gedenken an seine Gebote, dass sie danach tun. Die Eltern müssen gehorsam sein und desgleichen die Kinder. Es wird uns hier geboten, dem Bunde treu zu bleiben, und wer davon abweicht, indem er irgendetwas anderes zu seiner Zuflucht nimmt als das vollbrachte Werk des Herrn Jesu, der ist nicht unter denen, die dieser Vorschrift gehorchen; diejenigen, mit welchen der Bund wirklich geschlossen ist, stehen fest zu ihm und wollen nicht, nachdem sie im Geist angefangen haben, im Fleisch vollenden. Die wahrhaft Frommen halten die Gebote des HERRN wohl in Acht - sie gedenken an sie; ihr Umgehen mit Gottes Wort ist durchaus praktischer Art: dass sie danach tun; und endlich wählen und reißen sie nicht Einzelnes heraus, sondern sind der Ordnungen des HERRN als solcher eingedenk, ohne nach Belieben oder Bequemlichkeit ein Stück über das andere zu stellen. Gebe Gott, dass unsre Nachkommen ein nachdenkendes, achtsames und gehorsames Geschlecht seien, eifrig bestrebt, den Willen des HERRN zu erkennen, und allezeit bereit, ihn völlig zu erfüllen; dann wird seine Gnade sie mit edlem Reichtum und wahrer Ehre krönen von Kind zu Kindeskind.
  Auch dieser achtzehnte Vers ruft zum Lobe Gottes; denn wer könnte wünschen, dass der HERR solchen freundlich sei, die auf seine Gebote nicht achten wollen? Das hieße ja das Laster ermutigen. Aus der unvorsichtigen Weise, wie etliche Prediger die Bundesgnade und -treue verkündigen, könnte man entnehmen, dass Gott ein gewisses Teil Menschen zu segnen gesonnen sei, wie immer sie leben, wie immer sie seine Gebote vernachlässigen mögen. Aber das Wort lehrt uns nicht so. Der Gnadenbund ruht nicht auf dem Tun des Menschen, aber er ist heilig. Wohl ist er eitel Gnade vom Ersten bis zum Letzten, aber es liegt ihm sehr ferne, Gelegenheit machen zu wollen zur Sünde; im Gegenteil, eine seiner größten Verheißungen ist: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben. (Jer. 31,33.) Sein großes Ziel ist, Gott ein Volk zu heiligen, das da fleißig wäre zu guten Werken (Tit. 2,14), und alle seine Gaben und Wirkungen zielen darauf hin. Der Glaube hält den Bund, indem er allein auf Jesum aufschaut, während er zugleich mit eifrigem Gehorsam der Befehle des HERRN eingedenk bleibt, um sie auszuführen.

19. Der HERR hat seinen Stuhl im Himmel bereitet. Aufs Neue bricht der Sänger in Lobpreis Gottes aus, indem er die schrankenlose Macht und glorreiche Hoheit Jehovahs bewundert. Des HERRN Thron ist aufgerichtet und steht fest, unerschütterlich und himmelhoch erhaben über alle Throne und Gewalten. Der Ewige sitzt nicht auf wackligem Erdenthron und fragt niemand um Erlaubnis, König sein zu dürfen. In seiner Herrschaft gibt es keine Aufregung, keine Unordnung, keine Verwirrung, kein hin und her Ratschlagen und Probieren, keine Überraschungen, mit denen zu rechnen, keine unerwarteten Ereignisse, die abzuwenden wären - alles ist wohl vorbereitet und bestimmt, und zwar von Ihm selbst. Er ist kein Lehenskönig, dem ein anderer den Thron aufgerichtet hat; er ist Selbstherrscher, sein Reich ist sein ureigenes Werk und wird durch seine ihm innewohnende Macht erhalten. Diese Hoheit ohnegleichen ist die Gewähr unserer Sicherheit, der Pfeiler, an welchen sich unser Vertrauen sicher lehnen kann.
  Und sein Reich herrscht über alles. Über das ganze Weltall streckt er sein Zepter aus. Er herrscht jetzt allüberall, hat es stets getan und wird es stets tun. Uns mag die Welt von Unordnung zerrissen, ja eine große Anarchie zu sein scheinen, aber er bringt aus Verwirrung Ordnung hervor. Die kämpfenden Elemente marschieren unter seiner Fahne, auch wenn sie im wildesten Sturm daherfahren. Alle und alles, ob groß oder klein, ob geistbelebt oder Materie, ob willig oder unwillig, ob wild oder mild, alles steht unter seiner Macht und muss seinem Willen dienen. Sein Reich ist das wahre Weltreich, er der einzige Machthaber, der König aller Könige und Herr aller Herren. Eine klare Anschauung von seiner allezeit tätigen und überall den Sieg davontragenden Vorsehung ist eine der köstlichsten geistlichen Gaben; wer sie hat, kann nicht anders als den HERRN von ganzem Herzen preisen.
  So hat denn der gottbegnadete Sänger die mannigfaltigen Eigenschaften des HERRN, wie sie sich in dem Gebiete der Natur, der Gnade und der Vorsehung zu schauen geben, besungen, und nun sammelt er alle seine Kräfte zu einem letzten anbetenden Lobpreis, zu welchem er alle Kreatur einladet sich zu vereinigen, weil alle des großen Königs Untertanen sind.


20. Lobet den Herrn, ihr seine Engel,
ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet,
dass man höre auf die Stimme seines Worts!
21. Lobet den HERRN, alle seine Heerscharen,
seine Diener, die ihr seinen Willen tut!
22. Lobet den HERRN, alle seine Werke,
an allen Orten seiner Herrschaft!
Lobe den HERRN, meine Seele!


20. Lobet den HERRN, ihr seine Engel, ihr starken Helden. Die Aufgabe, Gott zu loben, wächst dem Psalmisten gleichsam unter der Hand; darum ruft er die erstgeborenen Söhne des Lichtes zu Hilfe. Sie können es ja am besten; leben sie doch dem im Himmel aufgerichteten Throne (V. 19) so viel näher als wir, denen das Auffahren noch bevorsteht, und sehen daher auch so viel klarer die Herrlichkeit, die wir anbeten möchten. Ihnen ist gegeben eine über die unsre hocherhabene Kraft des Verstandes, und wie sie Helden des Geistes sind, so ist auch ihre Stimme gleich einer mächtigen Posaune und ihre Kraft gewaltig; ihre Wonne aber ist es, ihre reichen Gaben in heiligem Dienst für Ihn zu gebrauchen. So mögen sie denn nun alle ihre Kraft in den feierlichen Lobgesang legen, den wir zum dritten Himmel empor senden möchten. Ihm, von welchem alle Heldenkraft der Engel kommt, sei diese ganz geweiht. Sie sind ja seine Engel; darum sind sie nicht säumig, sein Lob zu künden. Die ihr seinen Befehl ausrichtet, indem sie hören auf die Stimme d. i. den Laut seines Worts. (Grundt). Uns ist befohlen seinen Willen zu tun; aber ach, wir kommen darin zu kurz. Mögen denn jene jungfräulich reinen Geister, deren Seligkeit es ist, nie ein Gebot übertreten zu haben, dem HERRN den Ruhm ihrer Heiligkeit darbringen. Sie horchen auf neue Befehle und beweisen ihren Gehorsam ebenso sehr durch ihr ehrfurchtsvolles Lauschen wie durch eifriges Tun, und sie geben uns damit ein Vorbild, wie der Wille des Höchsten allezeit geschehen sollte; aber mögen sie auch für diese ihre hohe Vortrefflichkeit keine Ehre nehmen, sondern alle Ihm geben, der sie zu dem gemacht und darin bewahrt hat, was sie sind. Ach, dass wir sie das Lob Gottes könnten singen hören, wie einst die Hirten auf Bethlehems Fluren in jener größten aller Geburtsnächte, da so süße Musik ihnen an Herz und Ohr drang, wie Menschen sie nie hervorgebracht! Unsre Herzen begrüßen schon sehnend die Stunde, da wir der Engel Harfen werden rauschen hören und ihr Lob das Preisen Gottes der Schöpfung verkünden wird.

21. Lobet den HERRN, alle seine Heerscharen, welcher Klasse der Geschöpfe ihr auch angehören möget, denn ihr steht alle in seinem Dienst und er ist der Feldherr über alle eure Scharen. Die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer, und was im Meer geht, sie alle mögen sich vereinigen, ihren Schöpfer nach ihren besten Kräften zu preisen. Seine Diener, die ihr seinen Willen tut. In welcher Weise ihr ihm auch dienen möget, lobsingt ihm, während ihr dient. Der Psalmsänger möchte, dass jeder Diener in dem großen Palast des Weltenherrschers sich mit ihm vereinige, so dass alle zugleich das Lob des HERRN verkündigen.8

22. Lobet den HERRN, alle seine Werke, an allen Orten seiner Herrschaft. Wir haben in den drei Versen 20-22 einen Dreiklang des Lobes für den dreimal preiswürdigen Gott, und jede der drei Lobpreisungen enthält eine Erweiterung gegenüber der vorhergehenden. Diese letzte ist die umfassendste von allen; denn könnte es eine weiter gefasste Einladung geben als an alles an allen Orten? Sieh, wie der endliche Mensch unendlichen Lobpreis zu wecken vermag! Wie gering ist der Mensch, und doch kann er, indem er mit seinen Fingern die Tasten der großen Orgel des Weltalls berührt, das Universum zu Donnerrauschen der Anbetung wecken. Der erlöste Mensch ist die Stimme der stummen Natur, der Priester in dem Tempel der Schöpfung, der Vorsänger bei dem Gottesdienst des Weltalls. O dass schon alle Geschöpfe des HERRN auf Erden von der Eitelkeit frei wären, der sie unterworfen sind, und bereits gebracht zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes! Diese Zeit eilt aber herbei und wird ganz sicherlich kommen; dann werden alle Werke des HERRN ihn wahrhaftig loben. Die unveränderliche Verheißung reift heran, die gewisse Gnade ist auf dem Wege. Eilt, ihr schnellbeschwingten Stunden!
  Lobe den HERRN, meine Seele. Der Psalmist schließt mit der Anfangsnote, dem Grundton des ganzen Psalms. Er kann sich nicht damit begnügen, andere zum Lob aufzurufen, ohne selber mitzuwirken; noch auch mag er, weil andre kräftiger und prächtiger singen können, still beiseite stehen. Nein, meine Seele, komm zu dir selbst und komm zu deinem Gott, und lass die kleine Welt in dir Takt und Ton halten mit den Schöpfungssphären, die des Ewigen Ehre rühmen. O unendlich preiswürdiger HERR, begnade uns mit dem höchsten Segen, dass wir immer und allezeit ganz davon in Anspruch genommen seien, dich zu preisen!


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Ein Lobpsalm, aus welchem dem Leser nicht weniger als aus Ps. 23 der Friede einer versöhnten Seele entgegentönt. Solche Psalmen zeigen, dass der evangelische Geist des Neuen Testamentes auch schon in den Zeiten des Alten Bundes, wenn auch nur in einzelnen Weihestunden, über die Knechte Gottes kam. Prof. A. Tholuck 1843.
  Wie oft haben die Christen in Schottland diesen Psalm bei dem Mahl des Herrn gesungen! Er ist dadurch in unserem Lande besonders wohl bekannt. - Ein Vorfall aus den Tagen des Reformators John Knox († 1572) ist der Erwähnung wert. Elisabeth Adamson, eine Frau, die dessen Predigten beiwohnte, weil "er den Born der göttlichen Gnade voller eröffnete als andere", ward beim Anhören dieses Psalms zu Christo und damit zum Frieden geführt, und zwar nach solch furchtbaren Seelenkämpfen, dass sie mit Beziehung auf peinigende körperliche Schmerzen sagte: "Tausend Jahre solcher Pein, und diese noch zehnfach verschärft, sind nicht gleich zu achten einer Viertelstunde meiner Seelenpein." Vor ihrem Heimgange begehrte sie noch einmal diesen Psalm zu hören, indem sie sagte. "Als ich ihn zum ersten Mal zu hören bekam, da schmeckte meine geängstete Seele zum ersten Mal die Gnade Gottes, die mir nun köstlicher ist, als wenn mir alle Königreiche der Welt zu besitzen gegeben wären." Andrew A. Bonar 1859.
  Es ist bemerkenswert, dass in all den zweiundzwanzig Versen keine Bitte vorkommt. In dem ganzen Psalm wird auch nicht ein einziges Wort des Flehens an den Höchsten gerichtet. Gebet, und zwar inbrünstiges, herzinniges Gebet war ohne Zweifel vorher von dem Psalmisten emporgesandt worden und hatte Erhörung gefunden; unzählbare Segnungen waren von oben her über ihn ausgeschüttet worden. Darum bricht nun eine überströmende Dankbarkeit aus dem Herzen des glückseligen Empfängers hervor. Er rührt jede Saite seiner Harfe und seines Herzens zugleich, und seinen Lippen entquillt gleichsam unwillkürlich eine Melodie von süßesten Klängen, die lauter Lob enthalten. John Stevenson 1856.
  Es ist bedenklich (d. i. des Nachdenkens wert), wie auf die im nächstvorhergehenden Psalm so beweglich ausgeschütteten Klagen des Elenden nun in diesem Psalm so ein herrliches Lobopfer des Begnadigten folgt, besonders wenn man noch etwas näher bemerkt, wie manches, das im vorigen Psalm als ein schmerzlicher Pfeil des Allmächtigen klagweise ist angezogen worden, nun als eine zum Heil angeschlagene Kur gerühmt wird. Dort heißt es zum Exempel: Meine Tage sind vergangen wie ein Rauch, meine Gebeine sind verbrannt wie ein Brand, meine Tage sind dahin wie ein Schatten, und ich verdorre wie Gras. Hingegen in diesem Psalm: Der dein Leben vom Verderben erlöset und dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit; der deinen Mund fröhlich machet und du wieder jung wirst wie ein Adler usw. So war auch der Trost aus Gott im 102. Psalm daher genommen: Du aber, HERR, bleibest wie du bist, und hier im Psalm heißt es: Die Gnade aber des HERRN währet von Ewigkeit zu Ewigkeit usw. Dass man also wohl sagen mag: Sünde und Tod fühlen und darunter um Gnade und Versöhnung ringen, und nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit trachten, ist die Sache des 102. Psalms; Sünde und Tod fühlen und darüber Versöhnung und den Geist, der da lebendig macht, empfangen haben und also seinen Gott loben und sich im Glauben und Geduld an alle Heiligen Gottes anschließen, ist die Sache des 103. Psalms. Karl H. Rieger † 1791.
  Der Psalm ist eine schöne, von gerührtem Dankgefühl getragene Ausführung des (hier dem nationalen Teil der Betrachtung V. 8 vorangestellten) Textes: "Barmherzig und gnädig ist Jehovah, langmütig und von großer Gnade" aus 2. Mose 34,6, der die andre Seite seines im Grundgesetz 2. Mose 20,5.6 angezeigten Verhaltens gegen die Sünde (die erste ist sein Zorn dagegen) ausdrückt. Prof. Herm. Hupfeld 1862.


V. 1. Lobe den HERRN, meine Seele. Wie gut reimt sich das - denn welche Beschäftigung könnte wohl meiner Seele angemessener sein, als den HERRN zu loben, und wiederum, wer wäre wohl besser geeignet für solch Werk, als meine Seele? Mein Leib, das weiß Gott, ist zu grob und schwerfällig für solch ein erhabenes Werk. Nein, meine Seele, du musst es tun, bist du doch eben dazu geschaffen! Aber ach, auch du bist irdisch geworden, hast zum mindesten einen großen Teil deiner Fähigkeiten verloren. Ja, wenn den HERRN loben nichts mehr wäre als HERR, HERR sagen, gleich jenen, die da riefen: Des HERRN Tempel, des HERRN Tempel (Jer. 7,4), dann wäre meine Zunge allein dazu imstande, und ich würde sonst niemand damit zu bemühen brauchen. Aber den HERRN benedeien, das ist ein hohes Werk; darum, wenn du, meine Seele, daran gehst, so lass alle die Kräfte meines Herzens, Willens, Verstandes, Gedächtnisses, kurz alles, was in mir ist, dir dabei helfen. Richard Baker † 1645.
  Was in mir ist. Dein Gewissen preise den HERRN durch unwandelbare Treue. Deine Urteilskraft preise ihn durch Entscheidungen, die mit seinem Worte übereinstimmen. Dein Denkvermögen preise ihn durch reines, heiliges Sinnen. Deine Neigungen mögen ihn preisen, indem du liebt, was er liebt. All dein Trachten preise ihn, indem du nur seine Ehre suchst. Dein Gedächtnis preise ihn, indem du nicht vergissest, was er dir Gutes getan. Mögen deine Gedanken ihn preisen, indem du seinen Vortrefflichkeiten nachdenkst. Deine Hoffnung preise ihn, indem du dich sehnest und ausschaust nach der Herrlichkeit, die noch soll geoffenbart werden. Jeder deiner Sinne preise ihn durch treue Untergebenheit, jedes deiner Worte durch seine Wahrhaftigkeit, jede deiner Taten durch ihre Redlichkeit und Unsträflichkeit. John Stevenson 1856.
  Es ist ein großer Unterschied zwischen dem bloßen Hersagen eines Dankgebets oder Aussprechen dankender Worte und dem wirklichen Danken. Letzteres setzt voraus, dass alle Saiten unseres inneren Menschen zum Danken gestimmt sind, so dass das Dankgebet aus mächtigem innerem Trieb hervorgeht. Es äußert sich dann auch gerne so, wie das hier gebrauchte Wort des Grundtextes (die Knie beugen, preisen, segnen) besagt, nämlich in einer Ehrerbietung, die sich in der äußern Haltung abspiegelt, jedenfalls sich mit einer nachlässigen Haltung nicht verträgt, welche die heilige Majestät Gottes verletzt. Was es heißt, den heiligen Namen Gottes zu segnen, verstehen wir am besten, wenn wir gegen einen Menschen so dankbar gestimmt sind, dass wir sagen möchten: Ich segne den Namen dieses Menschen. Das setzt voraus, dass der betreffende Mensch uns große Wohltaten erwiesen. Ebenso setzt die Dankbarkeit gegen Gott Wohltaten Gottes voraus. Der allgemeine Undank gegen Gott beruht darauf, dass wir seine vielen Wohltaten nicht beachten oder derselben rasch wieder vergessen. Gottes "Vollführungen" (wörtl.) sind lauter Wohltaten. - G. T. 1881.
  Segne den HERRN. (Wörtl.) In dem Sinne, wie wir von Gott, dem alleinigen Quell von Leben und Glückseligkeit, sagen, dass Er seine Geschöpfe segne, kann freilich kein Geschöpf ihn segnen. Denn erstens macht seine unendliche Vollkommenheit es ihm unmöglich, eine noch höhere Vortrefflichkeit oder Glückseligkeit zu empfangen, und sodann, wenn wir auch den Fall setzen wollten, dass dieser unermessliche Ozean des Guten noch vermehrt werden könnte, so ist es doch klar, dass wir, die wir unser Dasein selbst und alles, was wir sind und haben, von ihm empfangen, in keinem Fall dazu beitragen könnten. Gott segnen heißt denn: mit inbrünstiger Liebe in Demut jene göttlichen Vortrefflichkeiten anerkennen, die ihn zum besten und erhabensten Wesen, zum einzig Anbetungswürdigen machen, heißt, allen den glorreichen Eigenschaften huldigen, die sein Wesen zieren und sich so sichtbarlich in seinen Werken und Wegen offenbaren. Gott segnen heißt: jede ziemliche Gelegenheit ergreifen, um unsere Verehrung und Wertschätzung seiner Erhabenheit und Vollkommenheit zu bekennen und es allen um uns her, so laut wir können, zu bezeugen, wie gütig und gnädig sein Walten gegen die Menschenkinder ist, und wie unbegrenzt wir für alles, was wir genießen, ihm zu Dank verpflichtet sind, in dem wir leben, weben und sind. Vor allem soll aber auch der Einfluss, den diese Ehrfurcht vor Gott und dankbare Liebe zu ihm auf unser Leben haben, ein Preis Gottes sein. William Dunlop † 1720.
  Meine Seele. Gott sieht vornehmlich auf die Seele. Er, der Beste, will auch mit dem Besten bedient sein. Bringen wir ihm in den gottesdienstlichen Übungen die Seele dar, so geben wir ihm die Blume, den Rahm, das Feinste, Edelste; durch eine heilige Art Scheidekunst ziehen wir das Geistige aus und weihen es ihm. Eine von heiliger Begeisterung durchglühte Seele ist der Würzwein, welchen die Braut Christo darbietet. (Hohelied 8,2.) Thomas Watson 1660.
  Lobe seinen heiligen Namen. Die Heiligkeit ist die Herrlichkeit des Namens Gottes, d. i. seines geoffenbarten Wesens. Die Reinheit Gottes ist das, was alle seine Vollkommenheiten so schön und preiswürdig macht. Seine Ewigkeit, sein Wissen, seine Macht ohne seine Gerechtigkeit, Güte und Wahrhaftigkeit könnten uns wohl erschrecken und verwirren, aber nicht Liebe zu Gott in uns entzünden oder uns zu innigem Lobe anreizen. Nun aber unbegrenzte Macht, unfehlbare Weisheit und ewige Herrschaft mit unwandelbarer Liebe, unverbrüchlicher Wahrhaftigkeit und unermesslicher Güte gepaart sind und sein Name somit ein heiliger Name ist, nun sind die göttlichen Vollkommenheiten wahrhaft liebenswert und geeignete Gegenstände unserer Hoffnung, unseres Vertrauens und unserer inbrünstigsten Lobgesänge. Wie fein ist also gerade hier die Hinweisung des Psalmisten auf die Heiligkeit Gottes! Und überdies gibt es in der Tat nichts, was die Herrlichkeit der Gnade und erlösenden Liebe Gottes gegen eine Seele mehr in ihrer Erhabenheit zeigen könnte, als gerade die Betrachtung der göttlichen Heiligkeit. Denn wenn die Augen deines Schöpfers nicht reiner als Menschenaugen wären, wenn sein Hass der Sünde und seine Liebe zur Gerechtigkeit nicht größer wären als des vornehmsten Engels, so wäre sein Vergeben der Sünde und seine Geduld gegen die Übertreter nicht eine solch wunderbare Herablassung. Ist aber sein Name so unendlich heilig, dass selbst die Himmel nicht rein sind vor ihm (Hiob 15,15), und ist die geringste Missetat seiner Seele ein Gräuel, etwas, dass er hasst mit vollkommenem Hass, dann müssen wahrlich seine Gnade und Liebe unvergleichlich größer sein, als wir denken können. William Dunlop † 1720.


V. 1.2. Ein Brunnen ist selten so voll, dass beim ersten Pumpen Wasser fließt. So ist auch unser Herz, auch wenn wir im Verkehr mit der Welt vorsichtig sind, (noch viel mehr aber, wenn wir darin etwas zu viel tun), meist nicht so geistlich gestimmt, dass es sich frei in Gottes Herz ergießt, ohne dass es erst gleichsam gehoben werden müsste. Ja, oft stehen die Wasser der Gnade so tief, dass sie sich nicht so einfach heraufholen lassen, sondern, gerade wie bei tiefen Brunnen erst Wasser in die Pumpe gegossen werden muss, so erst Beweggründe in die Seele eingelassen werden müssen, ehe die Gemütsbewegungen steigen. Daher diese Selbstgespräche, welche wir Männer Gottes mit ihrem Herzen führen sehen, um dieses in eine zum Verkehr mit Gott geeignete Stimmung zu bringen. William Gurnall † 1679.


V. 1-5. Die Dankbarkeit des Psalmisten zeigt vier beachtenswerte Eigenschaften. Sie ist erstens persönlich: Lobe den HERRN, meine Seele. Die gleiche Selbstaufforderung kehrt hernach wieder, nachdem er V. 20-22 andere zu demselben Werke aufgerufen hat. Unsere Frömmigkeit muss auch auf den Nächsten Einfluss zu üben suchen, muss einen sozialen Zug haben; aber so wenig sie demnach daheim enden darf, muss sie doch ebenda, im eignen Herzen, anfangen, und einer Frömmigkeit, die nicht vor allem persönlich ist, sondern in den Beziehungen zu den Mitmenschen aufgeht, wird es stets an Feuer, Kraft, Einfluss, Ausdauer und gemeiniglich auch an Erfolg fehlen. Sodann ist die Dankbarkeit des Psalmisten inbrünstig: Und alles, was in mir ist, lobe seinen heiligen Namen - alle meine Gedanken, meine Gefühle, meine Vernunft, mein Wille, mein Gedächtnis, mein Gewissen, meine Neigungen, meine Triebe; die ganze Leidenschaftlichkeit meiner Seele gehe in dieser einen Passion auf. Drittens ist sie vernunftgemäß, begründet in den Tatsachen seines bisherigen Lebens. Darum: "vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat." Nichts kann uns gehörig erregen und beeinflussen, wenn es unserer Erinnerung entschwunden ist. "Aus den Augen, aus dem Sinn", und was uns aus dem Sinn ist, das spielt auch als Beweggrund zum Handeln keine Rolle mehr bei uns. Si oblivisceris, tacebis: wenn du vergissest, wirst du schweigen. Woher kam die Undankbarkeit bei dem Volke Israel in der alten Zeit? Sie hatten ein so schlechtes Gedächtnis. Deinen Fels, der dich gezeugt hat, hast du aus der Acht gelassen, und hast vergessen Gottes, der dich gemacht hat. (5. Mose 32,18) Ein Ochse kennet seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennet’s nicht, und mein Volk vernimmt’s nicht. (Jes. 1,3; siehe ferner 5. Mose 6,12; 8,11.14) Darum sollte es uns anliegen, der empfangenen Gnadenerweisungen nicht nur zu gedenken, sondern sie auch zu zählen. So sehen wir denn auch drittens, wie der Psalmist die Wohltaten eine nach der andern einzeln auszählt: Der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen usw. Wir empfangen bei dem Beschauen einer Landschaft stärkere Eindrücke, wenn wir bestimmte Punkte ins Auge fassen, als wenn wir nur einen allgemeinen Überblick nehmen. David war ein Dichter von Gottes Gnaden und verstand das Wesen der Dichtkunst wohl. Die Poesie aber unterscheidet sich von der Philosophie wesentlich. Diese sucht von den besonderen Tatsachen und Beispielen sich zum Allgemeinen zu erheben, um die allgemeinen Grundsätze und Regeln festzustellen; jene hingegen strebt stets von der Allgemeinheit zur Besonderung, und viel von ihrer Schönheit und Kraft liegt gerade in diesem Betrachten der Einzelheiten. William Jay 1849.


V. 3. Der dir alle deine Sünde vergibt. Der Psalmist redet in Beziehung auf diese Lebensfrage eine sehr volle Sprache: Alle deine Sünden, nicht etliche oder viele. Das würde niemals genügen. Wenn auch nur die kleinste Sünde in Gedanken, Worten oder Werken unvergeben bliebe, so wären wir geradeso schlimm daran, geradeso fern von Gott, geradeso ungeschickt zum Himmel, geradeso der Hölle ausgesetzt, als wenn die ganze Last unserer Sünden noch auf uns läge. Auch sagt er nicht: Der dir alle vor der Bekehrung begangenen Sünden vergibt. Von einem solchen Begriff weiß die Schrift nichts. Wenn Gott vergibt, so vergibt er, wie es seiner Vollkommenheit entspricht. Quelle, Mittel, Macht und Maß der Vergebung sind göttlich. Wenn Gott die Sünden eines Menschen tilgt, so tut er es nach dem Maße, in welchem Christus jene Sünden getragen hat. Nun hat aber Christus nicht etliche oder viele von den Sünden des Gläubigen getragen, sondern alle; so vergibt Gott denn auch alle. Wie sich die von Christo dargebrachte Sühne auf jegliche Sünde des an Christum Glaubenden erstreckt, liege sie in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, so auch dem entsprechend die göttliche Vergebung. 1. Joh. 1,7. Things New and Old 1858.
  Der ... vergibt und heilet. In einem der Gefängnisse eines gewissen Landes war ein Mann, der Hochverrat begangen hatte; dieses Verbrechens wegen war er zur Zeit vor Gericht gestellt und nach erwiesener Schuld zum Tode verurteilt worden. Aber noch mehr; der Mann litt auch an einem inneren Übel, das sich allgemein als tödlich erweist. Können wir da nicht in Wahrheit sagen, dieser Mensch sei zwiefach dem Tode verfallen, einmal nach den Gesetzen seines Landes, und sodann infolge der unheilbaren Krankheit, welche an ihm zehrt? Wenn nun der König jenes Landes auch willens gewesen wäre, diesem Gefangenen das Leben zu schenken, hätte er es können? Wohl vermochte er die Strafe des Gesetzes von ihm abzuwenden, ihm freie Vergebung zu schenken und somit ihm das Leben wiederzugeben, sofern es dem gerechten Spruch des Gesetzes verfallen war; aber wenn er ihm nicht einen Arzt senden konnte, der ihn von seiner Krankheit zu heilen vermochte, so musste der Mann ja doch an dieser sterben, und die Begnadigung konnte ihm nur für etliche Wochen oder Monate ein elendes Dasein verlängern. Und wenn die Krankheit des Mannes nicht nur eine tödliche war, sondern auch eine ansteckende Seuche, eine infektiöse Krankheit, die sich durch seinen Atem auszubreiten drohte, und eine kontagiöse, die sich durch Berühren des Körpers oder der Kleider des Kranken übertragen musste, so dass es für andere gefährlich war, in die Nähe des Betreffenden zu kommen, so war der Mensch, wiewohl ihm volle Verzeihung zuteil geworden war, doch nur für das Seuchenhaus ein geeigneter Bewohner und konnte demnach keine Freiheit erlangen, nimmer zu den Wohnungen der Gesunden Zutritt erlangen - es sei denn, dass er geheilt, gänzlich und völlig geheilt worden wäre. Brüder, ihr habt solchen Fall schon erlebt; ihr sitzt vielleicht in diesem Augenblick ganz nahe bei jemand, der in solchem Falle ist, und vielleicht befindet ihr euch selbst in genau der gleichen Lage! Vielleicht, sage ich? Vielmehr muss ich sagen: du bist in diesem Fall, es sei denn, dass du wirklich und wahrhaftig ein Christ, ein an Christum Jesum gläubig Gewordener bist. W. Weldon Champneys 1842.
  Alle deine Gebrechen. Unser Körper erfährt die traurigen Folgen von Adams Übertretung; aber die Seele ist ebenso vielen Gebrechen unterworfen. Was ist Stolz anders als eine Art Wahnsinn? Was Zorn als eine Art Seelenfieber, was Habsucht als eine Art Wassersucht, was Fleischeslust als ein Aussatz, was Faulheit als eine Lähmung? Vielleicht gibt es für alle körperlichen Krankheiten ähnliche geistliche. Bischof George Horne † 1792.
  Siehe, meine Seele, wie alle deine Sinne krank sind. Dein Auge sieht wohl den Splitter in deines Bruders Auge, aber des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr. Und was deinen Geruch betrifft, dünkt dich der Gewinn nicht gut zu riechen, woher er auch komme? Dein Ohr erfreut sich mehr an weltlichem und unnützem Gerede als an Gesprächen über ernste, heilige Dinge. Und wenn ich dich, meine Seele, in so viel Teile zergliederte, wie der Anatom den menschlichen Körper, und die Krankheiten und die Gebrechen eines jeden Teiles untersuchte, würde ich nicht gerechte Ursache haben auszurufen: O ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von diesem Sündenleibe? Wer wird mich heilen von allen diesen Gebrechen? Aus beide Fragen kommt hier die Antwort, so dass wir zwiefache Ursache haben, den HERRN zu preisen. Richard Baker † 1645.
  Unser Verstand ist so schlecht, dass er seine eigene Schlechtigkeit nicht versteht. Unser Wille, der der König unserer Seele sein sollte, ist Knecht der Sünde geworden. Unser Gedächtnis ist einer Müllgrube gleich geworden, gut nur für Stroh oder um wertlose Nichtigkeiten aufzuspeichern. Unser Gewissen ist so unzuverlässig, dass es uns, infolge von Irrtümern in unserem sittlichen Denken, das eine Mal verklagt, wenn wir schuldlos sind, dann wieder uns freispricht, wenn wir schuldig sind. Unsere Neigungen und Triebe sind sämtlich missleitet und außer Ordnung. Wir lieben, was wir hassen sollten, und hassen, was wir lieben sollten; wir fürchten, was nicht zu fürchten ist, und fürchten uns nicht vor solchem, was wir mit ganzer Furcht fürchten müssten. Alle unsere Neigungen wenden sich entweder falschen Gegenständen zu oder werden, auch wo sie sich an und für sich erlaubten Dingen zukehren, zu Leidenschaften. Sind wir nicht voller Gebrechen? Thomas Fuller † 1661.


V. 4. Der dein Leben vom Verderben erlöst. Von seiner Jugend an hatte über dem Psalmisten die Vorsehung schützend gewaltet. Wie oft war er nur bei einem Haar entkommen, wie viele wunderbare Errettungen hatte er erlebt! Das eine Mal drohte der Rachen des Löwen, dann wieder die Tatze des Bären, es mit ihm ein Ende zu machen; vor allem aber war es die grausame Feindschaft der Menschen, die ihn wieder und wieder in die äußerste Gefahr brachte. Derselbe Gott, der ihn von dem Schwerte Goliaths errettete, schützte sein Leben auch vor dem Wurfspieß des umnachteten Saul. Der allmächtige Freund, der sein Haupt in so mancher Schlacht geschützt hatte, errettete ihn das eine Mal von den Fürsten der Philister, das andere Mal aus der Hand der verräterischen Bürger von Kegila, und bewahrte ihm dann wieder Leben und Thron bei der aller Natur Hohn sprechenden Empörung seines eigenen Sohnes. Wohl mochte demnach der Psalmist seine Seele und alles, was in ihm, anfeuern, mit inbrünstigster Dankbarkeit den HERRN zu segnen, der durch so viele merkwürdige Errettungen sein Leben vom Verderben erlöst hatte. John Stevenson 1856.
  Von der Grube. (Wörtl.) Dies Wort schließt Tod, Grab und Hades in sich. Das Targum gibt es mit "von der Gehenna" (der Hölle der Verdammten) wieder. J. J. St. Perowne 1864.


V. 5. Mit Gutem sättigt. (Wörtl.) Gott vermag die Seele also zu sättigen, dass sozusagen jede Ritze und Spalte derselben mit geistlicher Freude erfüllt ist. Thomas Fuller † 1661.
  Merke, womit der HERR dich sättigen will. Nicht mit glitzerndem Schein, nicht mit vielen Dingen, nicht mit allem, warum du bittest, sondern mit Gutem. Alle deine Notdurft soll völlig gestillt werden, und alles soll sich als gute Gabe erweisen. Gut und Gott gehören zusammen: alle seine Segnungen sind seiner Natur teilhaftig, sind heilige Segnungen, heilige Gnadengaben. Alles, was wahrhaft sättigt, muss Gottes Art in sich haben; nichts anderes wird jemals das Bedürfnis der Seele stillen. Unser Herz ist zu Gott geschaffen, darum kann nur Gott ihm genügen. Frederick Whitfield 1874.
  Und du wieder jung wirst wie ein Adler. Es ist eine alte Sage, dass der Adler seine Jugend erneuern könne, wenn er sehr alt ist, und darauf wird hier dichterisch hingewiesen. Aber diese alte Meinung ist ohne Zweifel in Wahrheit auf die außerordentliche Lebensdauer dieses edlen Tieres gegründet, sowie auf das Vermögen, welches er mit andern Vögeln gemein hat, sein Gefieder in gewisser Zeitfolge zu erneuern und durch diese Mauserung seine Stärke und Tatkraft zu erhöhen.9 Hugh Macmillan 1871.
  Wie der Adler: so dass du dem Adler gleich wirst an Kraft. Denn davon, dass der Adler sich im Alter wieder verjünge, weiß die Schrift nichts. Dass in Jes. 40,31, worauf man sich gewöhnlich beruft, nichts derart enthalten ist, dort vielmehr nur der kräftige Flug des Adlers in Betracht kommt (sie steigen auf mit Flügeln wie der Adler, laufen und werden nicht matt, gehen und werden nicht müde), zeigt schon der Parallelismus von fliegen, laufen, gehen. Prof. E. W. Hengstenberg 1845.
  Und du wieder jung wirst. So kühn es klingen mag, sagen wir doch nicht zu viel, wenn wir von ewiger Jugend sprechen als dem herrlichen Vorrecht, das ein frommer Knecht des HERRN, aber auch nur er, genießt. Alles, was uns mit Recht an der Jugend so einnimmt und fesselt, das sehen wir in höherer Weise da, wo das geistliche Leben sich ungestört in der Gemeinschaft mit Gott entwickelt. Zieht dich die Unschuld der Jugend an? Im natürlichen Leben ist sie nur zu oft täuschender Schein; im Leben des Wiedergeborenen aber kehrt sie in gewissem Maße wieder, wenn das Herz durch die Macht des Heiligen Geistes gereinigt und das Leben in Gleichförmigkeit mit dem Leben Christi erneuert wird. Dünkt uns die Ergötzung der Jugend alle andre Freude hienieden zu übertreffen? Es mag so sein; aber wie schnell wird diese Freude von den Sorgen der späteren Jahre verdrängt, während eine der Sorgen ledige Freude selbst in trüben Zeiten in dem Herzen wohnen kann, über welches der Friede Gottes durch den Glauben gekommen ist. Hältst du die Kraft der Jugend für etwas Beneidenswertes? Ach, ein Tag nach dem andern bestätigt die Wahrheit der Worte, dass Knaben müde und matt werden und Jünglinge fallen; dagegen fühlt der Christ sich oft, wenn seine natürliche Kraft längst den Gipfel überschritten hat, durch eine Kraft aus der Höhe über alle körperliche und seelische Schwäche hinausgehoben, und was keine Kraft der Muskeln und Nerven zustande gebracht hätte, das wird erreicht durch die Macht unbedingten Glaubens. Sogar die so schöne Entwicklung, welche die Jugendzeit uns zeigt, suchen wir nicht vergeblich bei einem Manne, der, sich der göttlichen Führung ganz vertrauend, vergisst, was dahinten ist, und sich ausstreckt nach dem, das da vorne ist, von Licht zu Licht, von Kraft zu Kraft, von Seligkeit zu Seligkeit, von Freude zu Freude geht. Und wie könnte, endlich, die Hoffnung, welche das jugendliche Herz so freudig schlagen macht, dem gereiften Christen fehlen? Den schönsten Teil seines Lebens sieht der sinnliche Mensch bald hinter sich, der geistliche Mensch stets vor sich; und gleich dem Adler kann der Letztere immer wieder aus dem niederen Dunstkreis, der ihn umgibt, sich in die reine, klare Himmelsluft aufschwingen, wo sich ihm bereits von ferne im Bilde, vielmehr in unaussprechlicher Wirklichkeit eine alle irdische Freude überstrahlende Wonne zeigt!
  Ewige Jugend: sie kann noch viel mehr, als David sie genoss, jetzt jedes Christen Teil sein - aber auch nur des wahren Christen. Wo nicht Glaube und Hoffnung im Herzen wohnen, da muss auch der festeste Entschluss, allezeit oder doch so lange wie möglich jung zu bleiben, vor dem ersten großen Sturm des Lebens weichen. Doch woher mag es kommen, dass unser geistliches Leben, auch wenn uns Glaube und Hoffnung keine Fremdlinge sind, häufig so wenig dem des Adlers gleicht und wir dagegen unser Bild so oft viel eher in der "Rohrdommel in der Wüste" oder dem "einsamen Vogel an dem Dach" finden, auf welche Ps. 102,7 f. hinweist? Kommt es vielleicht daher, dass wir uns zu wenig mit den guten Dingen sättigen lassen, von welchen David eben zuvor gesprochen, das will sagen, dass wir uns so wenig nähren an den besten Gaben, die Gott uns zu schenken hat, an seinem Wort, seinem Geiste, seiner Gnade? Nur durch diese erlangen wir jene dauernde Neugeburt, von welcher der Adler das Sinnbild und eine unvergängliche Jugendfrische die unschätzbar köstliche Frucht ist. Die ihr jung an Jahren seid, suchet doch diese unsterbliche Jugend mehr denn alle Freuden des Lebensmorgens! Sucht sie wieder zu erlangen, die ihr im mittleren Alter stehet, indem ihr mit dem in Lebensgemeinschaft tretet, der auch in euch alles neu macht! Hütet sie wohl, ihr bejahrten Freunde Gottes und seines Christus, als eure schönste Krone hier auf Erden und das Angeld eurer ewigen Wonne im Himmel. Und du, lieber Christ, der du gedrückt dasitzest, bedenke: der Adler lässt seine Flügel nur hängen, um danach mit desto kräftigerem Fluge aufzufahren. Prof. J. J. van Osterzee 1874.


V. 6. Indem der Psalmist nun von seinen persönlich erfahrenen Segnungen zu allgemeiner Betrachtung der Gnade Gottes übergeht, hebt er vor allem eine viel umfassende Wahrheit hervor, die Gottes Herrlichkeit so hell erstrahlen lässt: Gottes Mitgefühl mit den Leidenden und Unterdrückten und sein rasches und wirksames Eintreten zu ihrem Besten. Wer sollte ihn nicht dafür preisen, dass er sich so leutselig und so göttlich groß und herrlich um die kümmert, die von gottlosen Unterdrückern bitteres Unrecht leiden? Henry Cowles 1872.


V. 7. Wie das Kundtun der Wege gemeint ist, erhellt aus V. 8. Der Dichter denkt an Moses Bitte "Lass mich deinen Weg wissen" 2. Mose 33,13, welche Jahve dadurch erfüllte, dass er vor dem in der Felsspalte Stehenden vorüberzog und sich unter Ausrufung seiner Eigenschaften dem Nachblickenden zu schauen gab. Die Wege Jahves sind also hier nicht die vom Menschen vorschriftsmäßig zu wandelnden (Ps. 25,4), sondern die von Ihm selbst auf seinem heilsgeschichtlichen Gange (67,3) eingehaltenen. - Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Den Kindern Israel machte er seine Taten kund - er erzeigte seine Gerichte an Pharao und seine Heilsgerechtigkeit in den Wohltaten, die Israel erfuhr; aber er machte ihnen nicht, wie dem Mose, seine Wege kund, die Beweggründe und Ordnungen seines Waltens. Sie sahen nur die Ereignisse, nicht die Gründe derselben wie Mose. Richard Baker † 1645.


V. 8. Wahrlich, keine der vier hier genannten Eigenschaften Gottes könnten wir missen. Wäre unser Gott nicht barmherzig, so könnten wir nicht auf Vergebung hoffen; und wenn er nicht noch mehr als barmherzig wäre, so könnten wir auch auf nichts mehr als Vergebung hoffen. Dass er aber auch gnädig ist, das gibt uns die Aussicht darauf, Geschenke, Gaben von ihm zu empfangen, und zwar nicht nach dem Maße unserer Würdigkeit, sondern nach dem Maß seiner göttlichen Würde. Wiederum, wenn er nicht langsam zum Zorn (wörtl.) wäre, so könnten wir keine Geduld und Nachsicht erwarten. Ist er aber überdies von großer Güte, reich an erbarmender Liebe, so dürfen wir gewiss sein, dass er sich an uns als der rechte barmherzige Samariter erweisen, dass er nicht nur unsere Wunden verbinden, sondern auch fernerhin unsere Pflege übernehmen wird. Richard Baker † 1645.
  Reich oder groß an Gnade. (Wörtl.) Das ist wahrer Reichtum. Hier können wir lernen, was echte Größe ist. Bischof George Horne † 1792.
  Aus dem Vollen ist gut schöpfen. Was wir unheilige, gottlose Kreaturen brauchen, vergebende und erneuernde Gnade, das ist in Gott vorhanden wie Wasser im Ozean. Siehe z. B. Ps. 86,5; 130,7; Jes. 55,7. John Goodwin † 1665.


V. 9. Er wird nicht immer hadern usw. Sicherlich ist es Gott ebenso unerfreulich, wenn er uns schelten und strafen muss, wie es uns ist, gescholten und gestraft zu werden; und er findet so wenig Gefallen am Zürnen, dass er sich so schnell wie möglich dessen entledigt. Er kommt nicht so langsam dazu wie ein weichlicher, gegen das Böse unempfindlicher Mensch; aber so bald wie nur möglich steht er davon ab, denn der Zorn ist ein Riegel der Gnade und das Hadern ein Hindernis für die Erweisungen seines Erbarmens, und nichts geht so gegen Gottes innerstes Wesen, als wenn seine Gnade gehemmt ist und sein Erbarmen sich zurückhalten muss. So können wir denn gewiss sein, dass er selbst nie der Gnade etwas in den Weg legen oder freiwillig sein Erbarmen verschließen wird. Richard Baker † 1645.


V. 10. Könnten wir nicht, bei solchem Verhalten unsererseits, erwarten, dass Gott uns die Segnungen seiner Vorsehung entzogen und die Mitteilung seines Geistes vorenthalten haben würde? Wäre es ungerecht, wenn er uns die Gnadenmittel hätte nutzlos finden lassen, es zugegeben hätte, dass sich unsere Versuchungen vervielfachten, und uns in den Zustand unwiederbringlichen Abfalls hätte versinken lassen und dann, wenn unser Herz schließlich der so natürlichen Verzweiflung verfallen wäre, uns nur zugerufen hätte: Es ist deiner Bosheit Schuld, dass du so gestäupt wirst, und deines Ungehorsams, dass du so gestraft wirst; also musst du innewerden und erfahren, was es für Jammer und Herzeleid bringt, den HERRN, deinen Gott, verlassen und ihn nicht fürchten, spricht der Herr, HERR Zebaoth? (Jer. 2,19.) B. W. Noel † 1873.
  Warum handelt Gott nicht mit uns nach unseren Sünden? Ist’s nicht deshalb, weil er mit einem andern gehandelt hat nach unseren Sünden, mit einem andern, den er schlug, und warum anders denn um unserer Sünden willen? O Wunder der Gnade, dass Gott, nachdem er ihm vergolten hat nach unseren Sünden, nun uns vergilt nach seinen Verdiensten! Richard Baker † 1645.


V. 11. Unser Sinnen kann keine Vergleichung ausdenken, die zu groß wäre, die überschwengliche Gnade des HERRN gegen die Seinen auszudrücken. David Dickson † 1662.


V. 12. So ferne der Morgen ist vom Abend. Wie Rabbi Kimchi († um 1235) bemerkt, ist dieser Ausdruck gewählt, weil diese beiden Weltgegenden, Ost und West, voneinander am fernsten abstehen und bekannt und bewohnt sind. Daher kommt es ja auch, dass die Geographen in dieser Richtung die Längengrade messen, wie in der Richtung von Nord nach Süd die Breitengrade. Henry Hammond † 1660.


V. 13. Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt. Ein Pastor, der in einem amerikanischen Hafen unter den Seeleuten wirkte, besuchte einen Matrosen, der dem Tode nahe schien. Er sprach mit dem Mann herzlich über seinen Seelenzustand und bat ihn, doch Jesum als seinen Heiland zu ergreifen. Mit einem Fluch forderte der Kranke ihn auf, sich wegzumachen. Der Prediger sagte ihm, es sei seine Pflicht, ihn treulich zu warnen, denn wenn er unbußfertig sterbe, so werde er ewig verloren gehen. Der Seemann war finster und schweigsam und tat, als schliefe er ein. Der Diener am Wort wiederholte seinen Besuch mehr als einmal, aber mit gleich schlechtem Erfolg. Einmal jedoch verfiel er, da er vermutete, dass der Seemann ein Schotte sei, auf den Gedanken, den uns vorliegenden 12. Vers dieses Psalms in der alten metrischen Übersetzung, wie sie in den Kirchen Schottlands gesungen wurde, herzusagen; und siehe, Zähren traten dem wettergebräunten Manne in die Augen beim Hören dieser Worte. Der Prediger fragte ihn, ob er nicht eine fromme Mutter gehabt habe. Da stürzten ihm die Tränen hervor. Ach ja, seine Mutter habe ihn in längst vergangenen Tagen diese Worte gelehrt und für ihn zu Gott gefleht. Seither sei er in aller Welt umhergeworfen worden; aber diese Erinnerung an den Glauben und die Liebe seiner Mutter habe sein Herz getroffen. Nun konnte der Knecht des Herrn eingehend mit ihm reden, und die Ansprache an sein Herz und Gewissen ward durch den Geist Gottes gesegnet. Das Leben wurde ihm wiedergeschenkt, und sein Wandel bestätigte die Echtheit seiner Bekehrung. C. H. Spurgeon 1874.
  Wie ein Vater. Der Prophet sagt nicht: Wie der Mensch sich des Menschen, oder, wie sich der Reiche des Armen, der Starke des Schwachen, der Freie des Gefangenen erbarmet, sondern er führt das Erbarmen an, das ein Vater gegen seinen Sohn fühlt, welches das allerstärkste Mitleid ist. Auch das für Erbarmen gebrauchte Wort ist damit im Einklang. Ein Beispiel solches Erbarmens haben wir in 1. Könige 3 an der Frau, deren mütterliches Herz also über ihren Sohn entbrannte, dass sie ihn lieber dem andern Weibe lassen wollte, als dass er getötet werde; sodann an dem Vater des verlorenen Sohnes Lk. 15. Wolfgang Musculus † 1563.
  Ein Vater erbarmt sich über sein Kind, das an Wissen schwach ist, und unterweist es; er ist betrübt, wenn es unartig ist, und hat Geduld mit ihm; er hat Mitleid mit ihm, wenn es krank ist und tröstet es; ist es gefallen, so hilft er ihm wieder auf; hat es sich vergangen und beugt es sich, so vergibt er ihm; ist ihm Unrecht geschehen, so tritt er für es ein. Also erbarmt sich der HERR über die, so ihn fürchten. Matthew Henry † 1714.
  So, und noch zehntausendmal mehr. Denn er ist der Gott aller Gnade, der Vater der Barmherzigkeit, der Vater aller Väter, wie etliche die Stelle Eph. 3,15 deuten. John Trapp † 1669.
  Das Sprichwort sagt wohl, es sei besser, Neider als Mitleider zu haben; aber in diesem Fall ist’s jedenfalls nicht so, sondern es ist wahrlich ein köstlicher Ding, von Gott bemitleidet als von Menschen beneidet zu werden. R. Baker † 1645.
  Die Furcht Gottes ist die Ehrerbietung vor Gott, welche dich dazu führt, deinen Willen dem seinen unterzuordnen, dich ernstlich beflissen macht, ihm zu gefallen, dich mit Reue erfüllt im Blick auf frühere Widerspenstigkeit, mit Wonne, dass sein Angesicht dir jetzt freundlich leuchtet, mit seliger Entzückung über den Reichtum seiner Liebe, die du erfährst, und mit froher Hoffnung auf die Gemeinschaft seiner Herrlichkeit. George Bowen 1873.


V. 13.14. Ein Vater, der den Namen verdient, setzt sein Kind nicht aus, weil es schwächlich und siech ist, sondern ist umso zärtlicher und nachsichtiger gegen das Kind, weil seine Gebrechlichkeit der Hilfe bedarf. Als der Sohn der Sunamitin über sein Haupt klagte, nahm sie ihn auf ihren Schoß. Wenn das kranke Kindlein seine Augen auf die Mutter richtet, unfähig ihr zu sagen, was ihm fehlt, wo es Schmerz fühlt und was es wünscht, so verdoppelt das ihr Mitleid. So bestimmt es den HERRN zu erbarmungsreicher Milde gegen uns, dass er die Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit unserer Natur kennt; er gedenket daran, dass unsere Seele mit einem lahmen Werkzeug arbeiten muss, und verlangt vom Staubgeborenen nicht, was er von den mit einem geistlichen Leibe begabten Engeln erwartet. Einem Knaben wird befohlen, eine Nachschrift zu fertigen; er tut sein Bestes, dennoch sticht sie von dem Vorbild sehr ab. Aber der Vater tadelt ihn nicht, sondern ermutigt ihn. Oder er gibt ihm Armbrust und Pfeile in die Hand und fordert ihn auf, nach dem Ziele zu schießen. Der Knabe strengt alle seine Kraft an und drückt fröhlich ab; aber ach, der Pfeil erreicht bei weitem nicht das Mal. Dennoch empfängt der Sohn Lob, der Vater ist wohl zufrieden. Versuchung bedrängt uns, böse Lust setzt uns zu, irdische Geschäfte zerstreuen uns, vielfältig ist unsre Schwachheit; aber all unsre Mangelhaftigkeit und unser vieles Fehlen übertrifft nicht unseres Vaters Willigkeit, uns zu vergeben und zurechtzuhelfen. "Ich will ihrer schonen, wie ein Mann seines Sohnes schont, der ihm dient." (Mal. 3,17.) Thomas Adams 1614.


V. 14. Er kennet, was für ein Gemächte wir sind usw.: er kennt unsre Natur, weiß die Art, wie, und aus welchem Stoffe wir gebildet sind. Adam Clarke † 1832.
  Unser Gott macht’s nicht wie ein Quacksalber, der von der Natur des Menschen nichts versteht und darum nur ein Rezept für alle hat, ob sie stark oder schwach, jung oder alt sind, sondern er behandelt den Menschen wie ein weiser Arzt, der sich seinen Patienten erst gründlich besieht und danach die Arznei verschreibt. Menschen und Teufel sind nur Gottes Apotheker; unsere Gesundheit liegt nicht in ihrer Hand, sondern sie geben uns nur, was der himmlische Arzt uns verschreibt. Bileam hätte Balaks Lohn gern genug gehabt; doch konnte er nicht ein Haar breit über Gottes Auftrag hinangehen. William Gurnall † 1679.
  Er gedenkt daran, dass wir Staub sind. Der Stoff, aus welchem der Mensch gebildet ward, war zwar nicht böse, machte ihn aber doch schwächer im Widerstand gegen die Sünde, als die höheren Wesen es sind. Wenn das so war, als der Mensch noch keine Sünde in sich hatte, wie viel mehr jetzt, da die meisten Menschen nichts als Sünde und selbst die besten deren so viel in sich haben! Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch, sagt Christus. Die verderbte Natur kann nur verderbte Handlungen erzeugen. Joseph Caryl † 1673.
  Nie kann ich eine jener spiralförmigen Staubsäulen sehen, die, wie eine Nachahmung des Wüsten-Samum im Kleinen, an einem windigen Tage durch die Straßen fliegen, ohne dass mir dabei der Gedanke kommt: Sieh da, ein Bild vom Menschenleben! Von einem Hauch bewegter Staub! Beachte, wie die scheinbare "Säule" nur ein Zustand, ein tätiger Zustand der Staubteilchen ist und wie diese Teilchen in ständigem Wechsel sind. Die ganze Erscheinung hängt lediglich von der unaufhörlichen Bewegung ab. Der schwere Sand schwebt auf der unmessbar feinen Luft, solange er an ihrer Bewegung teilhat; sobald diese aufhört, fällt er zu Boden. So bekommen die schwerfälligen Erdklöße des Feldes (1. Mose 2,7), von Kraft aufgehoben, Flügel und schwirren durchs Leben, nehmen eine Weile teil an des Lebens raschem Lauf, fallen aber, sobald diese Kraft erschöpft ist, zurück in ihren früheren Zustand. Eine Staubwolke, eine kreisende Drehung, von außer ihr liegenden Kräften getragen, und verschwindend, so wie diese Kräfte sich ihr entziehen: das ist unser Leben. James Hinton 1871.
  O heilige Gottesgüte, die unsre Seele erquickt, aber uns auch tief beschämt! Werde von dieser Huld und Güte gerührt, wollen wir unserem eigenen Herzen sagen; du zürnest mit deinen Brüdern, weil du nicht daran gedenkst, dass sie Staub sind, wie du selbst bist - und Er, der Alleinhohe, Erhabene, den die Himmel nicht fassen und vor dem die Himmel nicht rein sind, er gedenkt daran und hat Geduld und erbarmt sich! Wie anders, wie strenge und scharf könnte er mit dir handeln, wenn er, der Sündlichkeit und Sterblichkeit deiner Menschennatur vergessend, mit dir handeln wollte, als ob du einer Engelnatur teilhaftig wärest. - Soll aber dies Wissen, was für ein Gemächt wir sind, dies Bedenken, dass wir ein wunderbares Gewebe von Bedürfnis und Mangel, von Schwachheit und Eingeschränktheit sind, uns zur Milde des Urteils über andere stimmen und zur Geduld und Nachsicht bei den Unterlassungen, Übereilungen, Verkehrtheiten und Fehlern anderer bewegen, so müssen wir es in Betreff unserer selbst tief gefühlt und tief erkannt haben. Andere ansehen und behandeln mit einem Gefühle, das nicht ohne Mitleid ist, als schwache Staubgebilde, denen Fehlen und Sündigen natürlich ist, und von sich selbst ein Gefühl nähren, als wäre man aus edlerem Stoffe gebildet und über die allgemeine Schwachheit der Menschen erhaben, das ist so wenig möglich, als man wahre Demut haben und doch in sich selbst stolz sein, oder Liebe üben kann, indes man von Selbstsucht und Eigennutz beseelt ist. Darum hält uns der Psalmist auch noch länger dabei fest und sagt: Der Mensch ist in seinem Leben wie Gras usw. Gottfried Menken 1823.


V. 15. Ein Mensch. Die Unbedeutenheit des Menschen wird noch besonders durch das hier gebrauchte Wort (enosch) angezeigt, das ihn als Sterblichen, als Schwachen, Hinfälligen bezeichnet. R. B. Girdlestone 1871.
  Der Mensch, so sagt auch Hiob (14,2), geht auf wie eine Blume und fällt ab. Er wird in die Welt gesetzt als das schönste und edelste von Gottes Werken, geschaffen nach dem Bilde seines Schöpfers in Anbetracht der Vernunft und der hervorragenden Fähigkeiten seines Geistes. Er geht auf herrlich wie die Blume des Feldes; wie sie die übrige Pflanzenwelt an Schönheit übertrifft, so er die animalische Welt in der Herrlichkeit und Vortrefflichkeit seiner Natur. Die Sommerblume erreicht, wenn nicht ein Unfall ihr Leben vorzeitig beendet, sehr bald die Zeit ihrer Vollendung - sie darf für etliche Augenblicke prangen und wird mit den Wurzeln ausgerissen mitten in dem stolzesten und glänzendsten Abschnitt ihres Daseins, oder wenn sie so glücklich ist, der Gewalt zu entgehen, so welkt sie doch unfehlbar in wenigen Tagen dahin und stirbt. Gleicherweise der Mensch; wiewohl seine Entwicklung langsamer und seine Lebensdauer länger ist, so sind doch die Perioden seines Wachstums und seines Verfalls nahezu die gleichen. Wenn er den Gefahren entgeht, welche seine zarteren Jahre bedrohen, ist er bald zu der vollen Reife und Kraft des Lebens entwickelt; und wenn er das Glück hat, dann nicht durch einen Unfall oder durch seine eigene Torheit oder Unmäßigkeit aus dem Leben gejagt zu werden, so verfällt er naturgemäß von selbst, schnell kommt für ihn das Zeitmaß, über welches hinaus zu leben er nicht geschaffen ward. Es geht mit ihm wie mit den Blumen oder Früchten, die wohl vor der Zeit der Reife gepflückt werden können, die man aber nicht über die Periode hinaus wachsen machen kann, in welcher sie von selbst zu welken und abzusterben bestimmt sind. Wenn diese Zeit gekommen ist, kann keine Kunst des Gärtners die Blume, keine Geschicklichkeit des Arztes den Menschen erhalten. Lawrence Sterne † 1768.


V. 16. Wenn der Wind darüber geht usw. Es wäre nicht so verwunderlich, wenn gesagt wäre, dass ein Unwetter, ein Orkan, ein Wirbelsturm ihn hinwegführe. Aber der Dichter will mehr als das sagen, nämlich dass schon ein leiser Wind, ein Lufthauch genüge. Henry Cowles 1872.
  Es ist bekannt, dass ein heißer Wind im Morgenlande alsbald alles Grün zerstört. Darüber braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn, wie Russel († 1805) sagt, der Wind manchmal einen Grad und eine Art der Hitze mit sich bringt, die wie aus einem Ofen zu kommen scheint und selbst Metall in den Häusern, wie die Türschlösser, fast so stark angreift, als ob es der Sonnenglut unmittelbar ausgesetzt worden wäre. Benedikt Maillet († 1738) schildert, wie hunderte von Gliedern einer Karawane an Ort und Stelle ersticken an dem Feuer und dem Staub, aus welchen der tödliche Wind, der zu Zeiten in der Wüste herrscht, zusammengesetzt zu sein scheint. Und ein anderer, John Chardin († 1713), berichtet, dieser Wind mache einen starken, zischenden Lärm und erscheine rot und feurig und töte durch Ersticken, besonders wenn er über Tag wehe. Richard Mant † 1849.
  Und seine Stätte kennt ihn nicht mehr. (Siehe d. 7. Anm. S. 260.) Ist der Mensch erst zu Staub geworden, so werden seine Überreste von jedem Winde umhergeblasen von Ort zu Ort; und was weiß die Stätte, wenn Staub darauf fällt, ob es der Staub eines Fürsten oder eines Bauern, überhaupt eines Menschen oder eines Tieres ist? Und ist der Mensch nicht in der Tat sehr jämmerlich daran, wenn Zeit und Raum, diese besten Gehilfen des Lebens, beide ihn im Stich lassen? Denn was für Hilfe kann er von der Zeit haben, wenn seine Tage nur wie Gras sind, und was für Hilfe vom Raum, wenn seine Stätte ihn verleugnet, ihn nicht mehr kennen will? Richard Baker † 1645.
  Wie zum Erstaunen klein ist die Zahl der Sterblichen, die einst auf Erden lebten, von denen jetzt noch ein geringes, mattes Andenken unter den lebenden Sterblichen vorhanden ist, wenn sie verglichen wird mit der unermesslichen, undenklichen Menge aller derer, die von Anbeginn hienieden gelebt haben, und von denen kein einziger weiß, dass sie gelebt haben, von denen kein Name, kein Wort, kein Zeichen, kein Stein, kein Sandhügel - nicht die mindeste Spur des Dagewesenseins übrig ist, so wenig wie von Millionen Grashalmen und Blumen, die in den Jahrhunderten und Jahrtausenden der Vergangenheit in diesem oder jenem Weltteile geblüht haben, und von denen man nicht sagen kann: "Hier standen diese Grashalme, hier blühten diese Blumen!" Gottfried Menken 1823.


V. 17. Die Gnade aber des HERRN währet von Ewigkeit zu Ewigkeit usw. Kein menschliches Wohlwollen bleibt beständig gleich; die Erfahrung lehrt uns sogar, dass solche, die heute gütig sind, sich morgen in Wüteriche verwandelt haben mögen, wie wir Beispiele davon an dem Leben Neros und mancher anderen Herrscher haben. Damit wir denn nicht etwa argwöhnen, die Güte Gottes sei ähnlicher Art, wird uns zu unfassbar großem Troste gesagt, dass sie nimmer aufhören wird, sondern auf ewig bereitet ist für alle, die Gott fürchten und ihm dienen. Wolfgang Musculus † 1563.
  Von Ewigkeit in der Erwählung, zu Ewigkeit in der Verherrlichung; das eine ohne Anfang, das andre ohne Ende. Bernhard v. Clairvaux † 1153.
  Wenn aber die Gnade Gottes ewig währet, so müssen auch, da das Tote und das, was nicht da ist, kein Gegenstand derselben sein kann, diejenigen, die ihrer teilhaftig sind, ewig bleiben; weil es sonst gar nicht möglich wäre, dass die göttliche Gnade sich als eine ewig währende offenbaren und erweisen könnte. "Gottes Gnade währt von Ewigkeit zu Ewigkeit!" kann doch nach allem Menschengefühl und Menschenverstand nicht heißen sollen: sie dauert nur so lange, wie der Staub dauert; ihre Tage sind wie die des Grases; sie währt, solange die Blume blüht, die der Wind verweht. Das wäre das unwürdigste Spiel mit unwahren Worten; das wäre an dieser Stelle ein höllisches Spottlied über dem Grabe des Menschen, dass er vergeblich nach Unsterblichkeit gedürstet habe. Nein, gewisser, bestimmter, befriedigender brauchte es dem frommen Israeliten des Alten Testamentes nicht gesagt zu werden, dass ein Leben nach diesem Leben sei. Gottfried Menken 1823.


V. 18. Dass sie danach tun. Wir haben der Gebote zu gedenken, um sie auszuüben; müßige Betrachtung ist nicht der Zweck, zu welchem sie kundgemacht sind. Stephen Charnock † 1680.


V. 19. Der HERR hat seinen Stuhl im Himmel bereitet. Diese Worte zeigen an: 1) die Eigentümlichkeit der Herrschermacht Gottes. Er hat sich selbst den Thron bereitet und niemand anders für ihn. Seine Macht ist ein Ausfluss seiner Natur, er hat sie nicht von irgendjemand durch Geburt oder Bevollmächtigung erhalten. Er selbst ist die alleinige Ursache seines Königtums; daher ist auch seine Macht unbegrenzt, so unendlich wie seine Natur. Niemand kann ihm Gesetze geben. So wenig er seiner Seligkeit Eintrag tun lässt, so wenig wird er sich auch seine Macht verkürzen lassen. 2) Seine Bereitschaft, diese Macht zur rechten Stunde auszuüben. Er kommt nie in Verlegenheit, was tun. Er braucht nicht auf einen Auftrag oder auf Anweisungen von irgendjemand zu warten. Er hat alles in Bereitschaft, um seinem Volke zu helfen; er hat Belohnungen und Strafen, edle Schätze sind für die Guten, aber auch Geißel und Axt für die Gottlosen stets bereit. 3) Weise Ausübung der Herrschaft. Gute Vorbereitung weist auf Klugheit hin. Gottes Weltregierung ist nicht hastig und hitzig. Der Fürst auf dem Throne und der Richter auf dem Richterstuhl behandeln die Sachen mit der größten Vorsicht, oder man setzt das wenigstens bei ihnen voraus. 4) Wohlfahrt und Beständigkeit seiner Herrschaft. Sie ist wohl befestigt, nicht wankend; sein ist ein unbewegliches Reich. Alles Sträuben und Sturm Laufen von Menschen und Teufeln kann seinen Thron nicht stürzen, nicht einmal erschüttern. Seine Macht ist hoch erhaben über alle Empörung, er kann nicht abgesetzt, seine Macht nicht gebunden werden. Wie er selbst, so bleibt auch seine Herrschaft ewig. Und wie sein Rat besteht, so auch seine Macht. Er tut und wird tun alles, was ihm gefällt. (Jes. 46,10.) Stephen Charnock † 1680.
  Dass des HERRN Thron im Himmel ist, bezeichnet 1) die Herrlichkeit seines Reichs. Die Himmel sind die prächtigsten und lieblichsten Teile der Schöpfung; Gottes Majestät ist dort am sichtbarsten, seine Herrlichkeit offenbart sich an ihnen am glänzendsten. (Ps. 19,2) Auch ist sein Zepter dort ungeteilt anerkannt; keiner der Engel, die dort vor ihm stehen, bestreitet seine Herrschaft, wie es auf Erden geschieht von den Empörern, die sich wider ihn waffnen. 2) Die Hoheit seiner Herrschaft. Die Himmel sind der erhabenste Teil der Schöpfung und der einzige seiner würdige Palast. 3) Die Ausschließlichkeit seiner Herrschaft. Er regiert in den Himmeln allein. Die Menschen, die auf seinem Fußschemel, der Erde, wohnen, regiert er durch ihresgleichen; im Himmel aber überträgt er seine Gewalt keinem Geschöpf, sondern übt selbst unmittelbar die Herrschaft über die seligen Geister aus. 4) Die Ausdehnung seines Reichs. Die Erde ist im Vergleich zu den Himmeln nur ein Stäubchen. Was ist unser Land auf einer Weltkarte anders denn ein Fleckchen, das du mit dem Finger bedecken kannst; noch viel unbedeutender aber muss die ganze Erde sein im Vergleich zu der ausgedehnten Welt der Himmel. Du kannst die vielen Millionen Teilchen, aus denen die Erde besteht, nicht ermessen; und wenn diese alle zusammen nur ein Punkt sind im Vergleich mit dem Ort, wo der Thron Gottes steht, wie weit muss sein Reich sein! Dort herrscht er über die Engel, die starken Helden, über die Heerscharen, die seinen Willen tun, im Vergleich zu welchen alle Menschen der Welt und die Macht der größten Gewalthaber nicht mehr ist als die Kraft einer Ameise oder einer Fliege. Und daraus, dass sein Thron im Himmel ist, ergibt sich, dass alles, was unter dem Himmel ist, zu seiner Herrschaft gehört; die niederen Dinge der Erde müssen ihm unterworfen sein, und sein Einfluss muss sich auf alles hienieden erstrecken, da der Himmel die Ursache aller Bewegung in der Welt ist. (vergl. Hos. 2,23 f.). 5) Die Leichtigkeit, mit der er die Weltregierung handhabt. Da sein Thron so hoch steht, sieht er naturgemäß alles, was hienieden geschieht. Die Höhe des Beobachtungsstandpunktes hilft ja zu klarem Überschauen alles dessen, was darunter ist. Der HERR schaut vom Himmel auf der Menschen Kinder, dass er sehe, ob jemand klug sei usw. Ps. 14,2. Er schaut vom Himmel, nicht als ob seine Gegenwart auf den Himmel beschränkt wäre, sondern er schaut majestätisch und als der Gewalt hat hernieder. 6) Die Beständigkeit seiner Regierung. Die Himmel sind unvergänglich, sein Thron ist dort in Unvergänglichkeit aufgerichtet. Der Thron Gottes überlebt die Auflösung der Welt. Nach Stephen Charnock † 1680.
  Sein Reich herrschet über alles. Als Melanchthon um den Stand der Kirche zu seiner Zeit sehr bekümmert war, sagte Luther: Monendus est Philippus ut desinat esse rector mundi: Philippus stehe doch davon ab, Lenker der Welt zu sein. David Clarkson † l686.


V. 20. Ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet. Die höchste Vortrefflichkeit der Engel, die Hauptursache ihrer Kraft und ihrer Überlegenheit über die Menschen ist, dass sie Gottes Befehl ausrichten, auf die Stimme seines Wortes hörend. Denn das ist die einzige immer fließende Quelle dauernder Kraft und Macht. Wer den Willen Gottes treulich und gehorsam tut, hat Gott für sich; und was mag dann wider ihn sein? Einen solchen stärkt auch die Arbeit selbst; sie ist ihm, was die Flut dem Schiff, die es vorwärts trägt; ist es doch Gottes Werk, das er treibt. Wer dagegen wider den Willen Gottes angeht, der hat Gott wider sich; und was kann dann für ihn sein? Mag auch ein Mensch das Meer zurückdrängen? Kann er den Sonnenball ergreifen und aus seiner Bahn schleppen? Wenn er das vermag, dann mag er auch hoffen, stark zu sein, wenn er wider Gottes Willen ankämpft. - Daraus mögen wir auch ersehen, wie falsch der Grundsatz ist, welcher im Munde derer, die sich auf ihre Meisterschaft in der Weisheit dieser Welt viel zugute tun, so gewöhnlich ist: dass Macht Recht sei - ein Lebensgrundsatz, welcher die Wahrheit geradezu verkehrt und mit welchem sich der Fürst der Finsternis stets gegen den Herrn des Himmels auflehnt. Das wahre Grundgesetz, welches als goldene Regel des Handelns in den Ratskammern der Könige und auf den Wänden der Rathäuser geschrieben stehen sollte, das Grundgesetz, welches das Geheimnis der Kraft der Engel und in der Tat aller wahren Kraft enthüllt, mag in die gleichen Worte gefasst werden, wenn wir nur ihre Ordnung umkehren: Recht ist Macht. Julius Charles Hare 1849.
  Die Engel lauschen aufmerksam auf die göttlichen Befehle; sie schauen auf Gott als ihren General, und so wie er seinen Befehl ergehen lässt, stellen sie ihre Kraft ihm zur Verfügung und gehen willig ans Werk. So wie er sagt: Geh, schlage Herodes wegen seiner Überhebung, Bileam wegen seiner Habsucht, David wegen seiner Ruhmsucht, Sanherib wegen seiner Lästerung, Sodom wegen seiner Unreinigkeit, so gehen sie alsbald. William Greenhill † 1677.
  Die Engel sind achtsame Wesen; sie warten auf Gelegenheiten, und wenn diese kommen, lassen sie sich dieselben nicht entschlüpfen. Sie schlafen noch schlummern nicht, sondern horchen beständig, was der HERR sagen, was für Gelegenheit zum Wirken und Dienen sich ihnen bieten möge. Als Christus geboren ward, erschien ihrer eine Menge und feierte seine Geburt. Lk. 2,13. Und als er von Judas und seiner Schar gefangen genommen ward, und Petrus das Schwert zog, um seinen Meister zu verteidigen, erwiderte dieser: "Es ist jetzt nicht an der Zeit, den Vater um Hilfe zu bitten, denn ich muss sterben, die Schrift muss erfüllt werden; aber wenn ich bäte, so würde der Vater die Engel aufbieten, mir beizustehen, und sie würden alsbald kommen, ganze Legionen von ihnen, ja alle die Engel im Himmel." Lasst uns von den Engeln lernen, auf Gelegenheiten aufzupassen und sie zu ergreifen. Wie wichtig sind oft kleine Augenblicke für den Dienst des Meisters. William Greenhill † 1677.


V. 21. Alle seine Heerscharen. Sonne, Mond und Sterne tun den Willen des HERRN unbewusst, die Engel bewusst und mit der Kraft der Liebe, die ihrer Natur eingeprägt ist. Beide miteinander bilden die Heerscharen des HERRN. A. R. Fausset 1866.


V. 22. Lobe den HERRN, meine Seele, das ist, lass deine Lebensaufgabe die der Seraphim sein und beginne schon jetzt das Leben des Himmels. Aber warum soll ich ihn loben? Kann mein Lobpreis ihm denn von irgendwelchem Vorteil sein? Nein, so wenig wie der Lobgesang aller Himmelsheere. Es ist unendliche Herablassung von Gott, auf das Lob selbst seiner erhabensten Geschöpfe zu hören.
  Ich will den HERRN loben, weil kein Werk meiner Seele reichere Segnungen eintragen wird als dieses. Die bewundernde, anbetende Betrachtung der Vollkommenheiten Gottes ist in Wahrheit die Zueignung derselben; das Herz kann nicht an Gott seine Wonne haben, ohne Gott ähnlich zu werden. Ich will den HERRN lobpreisen, weil dies auf Erden das besondere Vorrecht des Menschen ist. Will der Mensch irgendwelche Wesen finden, die sich mit ihm darin vereinigen, so muss er zum Himmel emporsteigen. Ich will den HERRN loben, weil die Erde mir überall Stoff dazu bietet. Der Sand, das Meer, die Blumen, die Schmetterlinge, Tiere, Vögel, Felder, Wälder, Berge, Felsen, Wolken, Winde, Blitz und Donner, Strom und Bächlein, Sonne, Mond und Sterne - alle warten auf mich, dass ich als ihr Dolmetsch das Lob Gottes singe. Doch vor allem die neue Kreatur.
  Ich will des HERRN Lob singen, weil von ihm, durch ihn und zu ihm alles das ist, was mir zu Leben, Gesundheit, Wohlbefinden, Erkenntnis, Würde, Sicherheit, Fortschritt, Macht und Nützlichkeit dient. Tausende seiner Diener auf Erden, im Meer und am Himmel sind mit dem Hervorbringen und Zurüsten eines jeden Bissens Speise, mit dem ich mich stärke, beschäftigt. Der Odem, den ich zu lieblichem Lobpreis umgestalten soll und kann, kommt nicht aus meiner Brust und geht nicht aus meinem Munde ohne eine erstaunliche Erweisung der Herablassung, Güte, Weisheit, Macht und Gegenwart dessen, den ich lobpreisen soll. Ist es nicht schändlich, Wohltaten über Wohltaten hinzunehmen, ohne auch nur den Namen des Gebers zu erwähnen und seine Güte anzuerkennen? Wer die Anwartschaft auf den Himmel in Anspruch nimmt, der lobe den HERRN. Dort ist kein Raum für solche, die diese Kunst nicht gelernt haben. Wie aber soll ich ihn loben? Nicht mit feinen Worten. Kein Dichtertalent ist dazu nötig. Wenn dein Lob nur wahrer Herzensanbetung Ausdruck gibt, so wird es angenehm sein. Lobe den HERRN, soweit du ihn kennst, so wird er dir mehr von seiner Herrlichkeit zu erkennen geben. George Bowen 1873.


V. 19-22. Der Himmel ist im Gegensatz zur Erde der unwandelbare Bereich über dem Entstehen und Vergehen hienieden. Beim Himmel der Herrlichkeit muss sich der Psalmist der Engel erinnern. Seine Aufforderung derselben zum Lobpreise Jahves hat nur in Ps. 29; 148 ihresgleichen; sie geschieht aus dem Bewusstsein der irdischen Gemeinde heraus, dass sie mit den Engeln Gottes in lebendiger, geistesgleicher Gemeinschaft steht und dass sie eine Hoheit besitzt, welche alles Geschaffene, selbst die zu ihrem Dienst (91,11) verordneten Engel überragt. Dieser mit Heldenkraft ohnegleichen ausgerüstetes Leben geht ganz - ein Vorbild für die Sterblichen - in gehorsamer Ausführung des Wortes Gottes auf. Den Ruf seines Wortes vernehmend bringen sie es auch sofort in Ausführung. Die Heere sind, wie die Beifügung "seine Diener" zeigt, die um die Engel höheren Ranges gescharten himmlischen Geistwesen (vergl. Lk. 2,13), die zahllosen dienstbaren Geister Ps. 104,4; Dan. 7,10; Hebr. 1,14; denn es gibt eine himmlische Hierarchie. Von den Erzengeln kommt der Verfasser auf die Myriaden der himmlischen Heerscharen und von da auf alle Kreaturen, dass sie, wo immer in Jahves weitem Reich sie sich befinden, in den anzustimmenden Lobgesang einstimmen, und von da zurück auf seine Seele, die er bescheiden unter die an dritter Stelle genannten Kreaturen begreift. Dem dreifachen "Lobet" entspricht nun (V. 1.2.22) ein dreifaches "Lobe, meine Seele", und indem der Dichter so zu seiner Seele zurückkehrt, kehrt auch sein Psalm in sich selbst zurück und gewinnt die Gestalt eines zusammenlaufenden Kreises. - Nach dem Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.


Homiletische Winke

V. 1. 1) Den HERRN selber sollen wir loben. Wir können es versäumen, ihn zu preisen, während wir seine Gaben, sein Wort, seine Werke und Wege rühmen. 2) Jeder selbst: meine Seele, nicht nur die Familie durch den Vater, die Gemeinde durch ihren Pfarrer oder den Kirchenchor, sondern wir persönlich. 3) Auf eine geistliche Weise: meine Seele; nicht nur mit der Orgel, der Stimme, Opfergaben, christlichen Werken usw. 4) Mit ganzer Hingebung, mit allen Fasern unseres Herzens: was in mir ist. 5) Mit ganzer Entschlossenheit: David ermahnt und ermuntert sich selbst. William Jackson 1874.
  Wir finden hier: 1) Selbstgespräch: meine Seele. Viele reden mit andern mehr als genug, aber nie mit sich selbst. Sie sind sich selber fremd, kommen nie zu stillem Selbstgespräch, lassen sich ihre eigene Seele nicht angelegen sein, sind, wenn alleine, stumpf und missmutig. 2) Selbstermahnung: Lobe den HERRN, meine Seele; ihn, deinen Schöpfer, Wohltäter, Erlöser. 3) Selbstermunterung: Was in mir ist - jede Fähigkeit meines denkenden, sittlichen und geistlichen Wesens, jede Saite meiner Harfe sei in Schwingung. Auch von den Kräften der Seele gilt, es werde "keine zur andern sagen müssen: Erkenne den HERRN, sondern sie sollen mich alle kennen, von der kleinsten bis zur größten" (Vergl. Jer. 31,34.) George Rogers 1874.
V. 1a. 22c. Persönliche Anbetung Gottes das A und O wahrer Frömmigkeit. C. A. Davis 1874.
V. 2. Forsche nach den Ursachen, warum wir so leicht des HERRN Wohltaten vergessen, zeige die bösen Folgen und rate die wirksamen Heilmittel an.
V. 3. 1) Die Vergebung ist in Gottes Wesen begründet (vergl. Ps. 130,4), gerade wie das Strafen. 2) Die Vergebung kommt von Gott. Niemand kann Sünden vergeben, denn allein Gott, und niemand als er kann uns der geschehenen Vergebung gewiss machen. 3) Die Vergebung ist dem Wesen Gottes entsprechend, also eine völlige, freie usw. ewige Vergebung: alle deine Sünden. George Rogers 1874.
  Und heilet alle deine Gebrechen. 1) Warum wird die Sünde ein Gebrechen genannt? Weil sie a) die sittliche Schönheit des Geschöpfes zerstört, b) Schmerz verursacht, c) am Erfüllen der Pflichten hindert, d) zum Tode führt. 2) Die Mannigfaltigkeit der Sündengebrechen, welchen wir unterworfen sind. Mk. 7,21-23; Gal. 5,19-21 usw. 3) Die Heilmittel, durch welche Gott diese Gebrechen heilt: a) Seine vergebende Gnade auf Grund der Erlösung auf Golgatha; b) die heilende Kraft seiner Gnade; c) die Gnadenmittel; 4) die Auferweckung des Leibes. Aus The Study 1873.
  Die Gebrechen unserer sündigen Natur, unser großer Arzt, die völlige Genesung, welche er in uns zustande bringt, und die Folgen dieser geistlichen Gesundheit.
V. 3-5. Sechs Segnungen der Gnade. I) Dreierlei Fluch hinweggenommen: 1) die Schuld getilgt, V. 3a; 2) die Gebrechen geheilt, V. 3b; 3) das Verderben abgewandt, V. 4a. II) Drei Segnungen geschenkt: 1) Zierden, die uns wahrhaft schmücken, V. 4b; 2) Freuden, die die Seele sättigen, V. 5a; 3) ein Leben, dessen Kraft sich stets verjüngt, V. 5b. - Oder: l) Vergebung, 2) Heilung, 3) Erlösung, 4) Krönung, 5) Sättigung, 6) Verjüngung. W. Durban 1874.
V. 4a. Die Erlösung vom Verderben, wie David sie erfahren in 1) seinem Hirtenleben, 2) seinem Kriegerleben, 3) seinem Leben in der Verfolgung, 4) seinem königlichen, 5) seinem geistlichen Leben. William Jackson 1874.
  Was ist erlöst und wovon? Wer ist erlöst und durch wen?
V. 5. 1) Ein seltener Zustand: zufrieden (gesättigt). 2) Ein seltenes Gut: wirklich Gutes. 3) Eine seltene Wirkung: erneuerte Jugendkraft.
V. 7. 1) Gott will, dass die Menschen ihn kennen. 2) Er offenbart sich selbst, und er allein. 3) Es gibt Stufen der Offenbarung. 4) Wir dürfen um vermehrte Erkenntnis Gottes bitten.
V. 8. 1) Die Liebe Gottes gegen die Sünder a) als Erbarmen, b) als Huld. 2) Ihre Zurückhaltung des Zornes gegenüber den Reizungen unserer Sünde. Selbst die Gnade kann sich in Zorn verwandeln, und wie schrecklich muss solcher Zorn sein! 3) Ihr Reichtum an Vergebung, den Gott allein ermessen kann.
V. 9. 1) Was Gott den Seinen zwar tut: mit ihnen hadern, züchtigend einschreiten, a) durch äußere Strafen, b) durch innere Züchtigungen. 2) Was er hingegen nicht tut: a) er hadert nicht immerdar mit ihnen in diesem Leben, b) er wird niemals hernach mit ihnen hadern. George Rogers 1874.
V. 10. Man lege dar, wie schrecklich es wäre, wenn Gott nach unseren Sünden mit uns handelte, zeige die Gründe auf, warum dies bis jetzt nicht geschehen, weise darauf hin, dass es doch noch zur schrecklichen Tatsache werden könnte, und mahne die Schuldigen, Gnade zu suchen, solange es Zeit ist.
V. 11-13. Die Höhe, Länge und Tiefe göttlicher Liebe.
V. 12. 1) Die enge Verbindung zwischen dem Menschen und seinen Sünden: a) gesetzlich, b) tatsächlich, c) erfahrungsmäßig, d) (an und für sich betrachtet) ewig. 2) Die Trennung beider: a) Durch wen bewirkt? Er. b) Wie? Dadurch, dass sein eigener Sohn zwischen den Sünder und dessen Sünden trat. 3) Die Wiedervereinigung verhindert. "So fern usw." Wenn Ost und West zusammentreffen, dann und nicht eher wird die Wiedervereinigung stattfinden. Wie die beiden Enden einer geraden Linie sich niemals treffen können und nicht verlängert werden können, ohne noch weiter voneinander abzustehen, so werden auch der Sünder, der Vergebung erlangt hat, und seine Sünde sich nie wieder begegnen. George Rogers 1874.
V. 13.14. 1) Über wen der HERR sich erbarmt: über die, so ihn fürchten. 2) Wie er sich erbarmt: wie sich ein Vater über Kinder erbarmt. 3) Warum er sich erbarmt: denn er kennt, was für ein Gemächte wir sind. Er hat Grund, es zu wissen, denn er selbst hat uns gebildet, und da er den Menschen aus Staub gemacht hat, gedenket er daran, dass wir Staub sind. Matthew Henry † 1714.
V. 14. 1) Des Menschen Naturbeschaffenheit; 2) Gottes Gedenken an dieselbe. Oder: des Menschen Hinfälligkeit und Gottes Barmherzigkeit.
V. 15. Des Menschen Erdenlaufbahn. Sein Lebensanfang, sein Wachstum, seine Herrlichkeit, sein Vergehen und schnelles Vergessenwerden.
V. 15-18. 1) Was der Mensch an sich ist: a) Was in diesem Leben: sein Leben gleicht dem des Grases, seine Herrlichkeit des Grases Blume. b) Was hernach? Hinweggefegt durch einen schneidenden Wind, durch einen Hauch des göttlichen Zornes - nicht mehr gekannt auf Erden, gekannt nur noch am Ort des ewigen Verderbens. 2) Was die Gnade Gottes für ihn tut: a) Sie macht einen Gnadenbund zu seinem Besten von Ewigkeit. b) Sie macht einen Friedensbund mit ihm für dieses Leben. c) Sie macht einen Verheißungsbund für ihn für die kommende Ewigkeit. 3) Wer ist der Gegenstand dieser Gnade? a) Die Gott fürchten. b) Die in den Fußstapfen frommer Väter wandeln. c) Die ihren Bundespflichten treu sind. George Rogers 1874.
V. 18. Der Bund, inwiefern wir ihn zu halten haben, in welcher Gesinnung er gehalten werden soll; und was der praktische Erweis davon ist, dass wir ihn halten.
V. 19. 1) Die Beschaffenheit des Thrones Gottes. 2) Der Umfang dieses Reiches. 3) Der Charakter des Herrschers. 4) Die sich daraus ergebende Freude der Untertanen: Lobet den HERRN.
V. 20. Der Dienst der Engel, lehrreich für uns. 1) Ihre Kraft ist groß. Als Diener Gottes sollten auch wir auf unsre eigne geistliche Gesundheit und Kraft bedacht sein. 2) Ihr Gehorsam ist ausübender, werktätiger Art - sie sind nicht Theoretiker. 3) Sie sind, während sie am Wirken sind, aufmerksam, begierig, mehr zu lernen, und in steter Gemeinschaft mit Gott, der persönlich mit ihnen redet. 4) Sie tun alles in dem Geist freudigen Lobpreises.
V. 20.21. 1) Der Gegenstand des Lobes: der HERR. Aller Lobpreis der Geschöpfe hat in ihm seinen Mittelpunkt. 2) Der vielstimmige Chor: a) die Engel, b) die Scharen der Erlösten, c) die Diener des HERRN, d) die ganze Schöpfung. 3) Meine Mitwirkung. So mächtig der Chor sein mag, ist doch meine Stimme notwendig zu seiner Vollständigkeit. Dies ist der Schlusston im Akkord: Lobe den HERRN, meine Seele. George Rogers 1874.
V. 21. Wer sind Gottes Diener? Was ist ihr Geschäft? Seinen Willen zu tun. Und was ist ihre Wonne? Den HERRN zu loben.
V. 22. l) Der Chor. 2) Das Echo. W. Durban 1874.

Fußnoten

1. Man macht gegen die davidische Abfassung ja namentlich die Suffixformen yki " und ykiy: a geltend, die man kurzweg als nordpalästinensisch- (vergl. 2. Könige 4,3.7) aramäische Formen bezeichnet. Allein es ist doch in den Vordergrund zu stellen, dass diese Formen altsemitisch sind; als solche archaistische Formen werden sie hier ihres Vollklangs wegen in dem so erhabenen Lobliede als dichterischer Schmuck verwendet. Man vergl. übrigens die alte (Genetiv-) Form (chirek compaginis) yni$:Olm (bei Auflösung des St. constr. durch das zwischengeschobene rtsb mithin ersichtlich tote archaistische Form) in dem uns unzweifelhaft davidischen Psalm 101, Vers 5. Dass manche solche altsemitische Formen im Aramäischen wieder modern geworden sind, ist eine Sache für sich. Allerdings zeigt die spätere hebr. Poesie mehrfach eine Vorliebe für solche altertümelnde oder aramaisierende Verzierungen, vergl. Ps. 113; 124; hier aber (Ps. 103) ist ihre Anwendung so maßvoll und so ganz in dem außergewöhnlich hohen Schwung des Liedes begründet, dass wir es nicht für berechtigt halten, um ihretwillen den Psalm dem David bestimmt abzusprechen. Auch die nahe Verwandtschaft von V. 9.15.16 mit Hiob u. Hes. 40 ff. zwingt nicht, diese Schriften vorauszusetzen. - James Millard

2. Das hebräische Wort hängt mit knien zusammen: der Anbetende beugt ja die Knie.

3. Oder krank. Wort vom gleichen Stamm wie hier Gebrechen, vergl. Jes 53,4 und das griech. a)sqe/neia usw. Das Wort bezeichnet ja bald physische, bald sittliche Krankheiten; oft werden im A. T. u. N. T. beide mit ihm zusammengefasst, so auch hier im Psalm.

4. Wörtlich: Grube, so auch Luther im ersten Psalter. Die Übersetzung Verderben stammt aus der LXX, die das Wort an sämtlichen Stellen so deutet, mit falscher Ableitung von txa$f statt von xW$. Gemeint ist im Grundtext bald das Grab, bald die Unterwelt, bald beide miteinander. Man wird somit hier und an manchen andern Stellen den Ausdruck Verderben gerne beibehalten als freie Übersetzung, die den Sinn allgemeiner fasst als unser deutsches Wort Grube. Vergl. übrigens Schatzk. Bd. I, S. 254 f. zu Ps. 16,8-11.

5. Schmuck ist die einzige nachweisbare Bedeutung des hebr. Wortes. (Vergl. Schatzk. Bd. I, S. 603, Anm. zu Ps. 32,9.) Es erscheint in der Tat noch am einfachsten, unter dem Schmuck des Menschen hier die Seele zu verstehen, nach Ähnlichkeit der oben angeführten Ausdrücke. (Darauf scheint auch die Übers. der LXX th/n e)piqumi/an sou hinzuweisen, hinter welcher manche Exegeten freilich eine andere Lesart vermuten.) Der gegen diese Auffassung geltend gemachte Grund, es sei ja die Seele selber angeredet, ist allerdings der Form nach richtig; aber dem Sinne nach ist doch schon im Vorhergehenden (vergl. bes. V. 3b. 4a) an die Stelle der Seele unvermerkt der Begriff der Person getreten, welche die Seele eben als die pars melior repräsentiert. (Hengstenbg.) Gestützt wird die Übers. Schmuck durch V. 4b (krönen - Schmuck: Ideen-Assoziation), die Deutung auf die Seele aber dadurch, dass "die Seele sättigen" eine oft gebrauchte Redewendung ist, Ps. 107,9 u. anderwärts. - Alle andern Deutungen, die sich fast sämtlich schon bei den Alten finden, sind nur Mutmaßungen. Die Übers. Mund beruht auf der irrigen Deutung Kinnbacke, Maul in Ps. 32,9. Auch die Bedeutung Alter (für die man Spr. 16,31; 20,29 vergleichen mag) ist nur aus dem 2. Versglied geraten. Andere fassen Schmuck mit starker Metonymie gleich schmucker Leib. Ähnlich Bäthgen, der, den Psalm auf die aus dem Exil erlöste Gemeinde Israel beziehend, diese hier als eine in neuer Jugend strahlende Jungfrau vorgestellt findet, auch bO+ nach. 2. Mose 2,2; 1. Samuel 9,2 mit Schönheit übersetzt: Der deinen Schmuck - deine geschmückte Erscheinung - mit Schönheit sättigt. - James Millard

6. Man kann ja mit Luther V. 9 futurisch, V. 10 präsentisch übersetzen, entsprechender scheint uns aber V. 9 das Präsens, V. 10 das Perfektum; denn, wie Delitzsch bemerkt, sagen die hebräischen Perfekte V. 10, was Gott je und je nicht getan hat, die hebräischen Imperfekte V. 9, was er nicht fort und fort tut.

7. Schade, dass im Deutschen nicht wie im Hebräischen Blume und Mensch gleichen Geschlechts sind; dann fiele die Frage, ob sie oder er, ihre oder seine Stätte zu übersetzen, dahin; denn tatsächlich geht V. 16 doch auf beide, Blume und Mensch, wie denn von den Parallelstellen der beiden Vershälften die erste (Jes. 40,7) von der Blume, die andere (Hiob 7,10) vom Menschen redet.

8. An die englische Übersetzung "ye ministers of his" knüpft Spurgeon noch folgende Bemerkung an: Uns ist es Gewohnheit geworden, dem Worte einen gegen den ursprünglichen sehr beschränkten Sinn beizulegen, so dass wir dabei nur an die denken, welche am Wort und an der Lehre dienen. Doch würde kein wahrer minister verbi divini diese Ehrenbezeichnung seines Amtes geändert zu sehen wünschen sind; sind wir doch vor allen andern Menschen verbunden, dem HERRN zu dienen, und ist doch unser innigstes Verlangen, dass wir den glorreichen HERRN noch mehr als alle andern dienenden Geister und Mächte verherrlichen könnten.

9. Wir hätten viele Seiten mit Fabeln der Rabbinen und Kirchenväter über den Adler füllen können; aber sie sind zu abgeschmackt zum Wiederholen. Wir hoffen daher, der geneigte Leser werde das Übergehen derselben entschuldigen, wenn nicht vielmehr billigen. C. H. Spurgeon.