Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon
PSALM 91 (Auslegung & Kommentar)
Überschrift
Dieser Psalm ist ohne Überschrift, und es fehlen uns die Mittel, den Namen des Dichters oder die Zeit der Abfassung auch nur mit einiger Gewissheit festzustellen. Die jüdischen Gelehrten wie auch manche der alten kirchlichen Ausleger haben gemeint, jeder Psalm, bei welchem der Verfasser nicht genannt ist, sei jeweils demjenigen Dichter zuzuschreiben, der den vorhergehenden verfasst habe. Diese Ansicht ist freilich unhaltbar, wie leicht zu beweisen ist. Es wären dann mit Origenes ja in unserem Fall auch alle die folgenden Psalmen bis zum hundertsten einschließlich dem Mose zuzuschreiben. Bei dem vorliegenden Ps. 91 spricht aber ausnahmsweise in der Tat manches für die Vermutung, dass er von dem Verfasser des neunzigsten herrühre. Schon Hitzig hat darauf aufmerksam gemacht, dass mehrere Ausdrücke und Redewendungen an 5. Mose 32 erinnern. Der lange Lebenslauf Josuas und Kalebs, die dem HERRN von ganzem Herzen nachfolgten, sind treffende Belege zu unserem Psalm. Denn zum Lohn für ihren treuen Wandel in der beständigen Gemeinschaft mit dem HERRN blieben diese Männer am Leben mitten unter den Toten und umgeben von Gräbern. So ist es denn nicht so unwahrscheinlich, dass Mose, der Mann Gottes, den Psalm verfasst habe. Sollte aber, nach der Überlieferung der Septuaginta, Davids Feder vom HERRN benutzt worden sein, uns diesen in seiner Art unvergleichlichen Hochgesang des Gottvertrauens zu schenken, so könnten wir doch nicht mit manchen Auslegern glauben, dass er bei der Abfassung des Psalms jene Plage im Auge gehabt habe, durch welche Jerusalem wegen der von ihm angeordneten Volkszählung verheert wurde. Wie hätte er damals singen können, man werde an den Heimgesuchten sehen, wie den Gottlosen vergolten werde - schnurstracks im Widerspruch mit seiner eigenen Erklärung: "Ich bin, der gesündigt und das Übel getan hat; diese Schafe aber, was haben sie getan?" (1. Chr. 21,17) Auch wäre es dann unerklärlich, dass jede Hindeutung auf das Opfer, welches auf Aravnas Tenne dargebracht wurde, fehlt, da doch die Buße David unfehlbar dazu geführt hätte, bei dem versöhnenden Opfer zu verweilen.
In der ganzen heiligen Liedersammlung gibt es keinen tröstlicheren Psalm als diesen. Der Ton ist durchweg erhaben. Der Glaube schöpft hier aus dem Vollen und äußert sich in besonders edler Weise. Ein deutscher Arzt pflegte diesen Psalm als das beste Schutzmittel in Cholerazeiten zu empfehlen. Er ist auch in der Tat eine himmlische Arzenei gegen Pest und Plagen. Wer in dem Geiste dieses Psalmes einhergehen kann, darf furchtlos sein, auch selbst wenn unsre Städte wieder wie einst London oder wie Wien zu Abraham a. St. Claras Zeiten Pesthöhlen werden und die Friedhöfe die Leichen nicht fassen sollten.
In Kriegszeiten ist der Psalm, in den betreffenden Sprachen auf starkem Papier gedruckt, zu Zehntausenden von christlichen Freunden unter den sich gegenüberstehenden Heeren verteilt worden. Ein Amulet ist der Psalm freilich nicht, wie schon der erste Vers beweist.
Einteilung. V. 1-2: Die Stellung der Gottesfürchtigen. V. 3-8: Ihre Sicherheit. V. 9-10: Ihre Wohnung. V. 11-13: Ihre Diener. V. 14-16: Ihr treuer Freund, und endlich die Wirkung all dieser Wohltaten.
Auslegung
1. | Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, |
2. | der spricht zu dem HERRN: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. |
1. Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt. Die in diesem Psalm verheißenen Segnungen gelten nur denjenigen Menschen, die mit Gott in inniger Gemeinschaft leben, die nicht nur je und dann zum HERRN eilen, um in Augenblicken besonderer Not bei ihm Zuflucht zu suchen, sondern die in dem Schutz des Höchsten ihre Heimat gefunden haben. Wer durch Gottes reiche Gnade in beständiger Gemeinschaft mit Gott steht, so dass er in Christo bleibt und Christus in ihm, der genießt außerordentliche Segnungen, welche jene entbehren, die nur von ferne dem HERRN folgen und sich nicht ängstlich davor hüten, den Geist Gottes zu betrüben. Zu dem sichern Bergungsort gelangen nur diejenigen, welche die Liebe Gottes in Christo Jesu erkennen, und nur die bleiben daselbst, deren Leben Christus ist. Für diese ist der Vorhang zerrissen, ihnen steht der Gnadenthron stets offen; ihnen sind die schützenden Cherubim sichtbar, ihnen leuchtet die erhabene Herrlichkeit des Höchsten. Sie haben wie Simeon den Heiligen Geist in sich, und wie Hanna kommen sie nimmer vom Tempel. Das sind die Hofleute des großen Königs, die Starken, die um das Bett Salomos her stehen (Hohelied 3,7), die Jungfrauen, die dem Lamme nachfolgen, wo es hingeht (Off. 14,4). Als die Erwählten aus den Erwählten gleichen sie jenen drei vornehmsten der Helden Davids (2. Samuel 23,8 ff.); sie werden mit ihrem Herrn in weißen Kleidern wandeln, denn sie sind’s wert (Off. 3,4). In dem herrlichen Audienzsaale sitzend, wo das geheimnisvolle Licht der Schechina sie bescheint, wissen sie, was es heißt, samt Christo auferstanden und samt ihm in das himmlische Wesen gesetzt zu sein, und von ihnen kann in Wahrheit gesagt werden, ihr Bürgertum sei im Himmel. Solche besondere Gnade sichert ihnen denn auch besondern Schutz. Die Gott nur von ferne, im äußeren Vorhof, anbeten, wissen wenig von den Vorzügen des inneren Heiligtums; sonst würden sie gewisslich vorwärts drängen in Gottes Nähe hinein, sie würden nicht ruhen, bis auch ihnen solch heilige Zutraulichkeit mit dem HERRN zuteil würde. Die ständigen Hausgäste Jehovahs sollen es erfahren, dass er nie dulden wird, dass ihrer einer innerhalb seiner Tore verletzt werde. Er hat das Bundessalz mit ihnen gegessen und steht darum für ihre Bewahrung ein.
Und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt. Der unüberwindlich Allgewaltige wird alle die bewahren, welche bei ihm wohnen; sie stehn unter seinem Schutz, wie die Gäste eines morgenländischen Hausherrn unter dem Schirm der unverletzlichen Gastfreundschaft. Wer bei Gott Hausrecht genießt, ist wohl geborgen; kein Übel kann ihn antasten, denn die ausgebreiteten Flügel seiner Macht und Liebe schirmen ihn vor allem Bösen. Dieser Schutz ist beständig: sie bleiben darin; und er ist allgenügend, denn es ist ja der Schatten des Allmächtigen: seine Allgewalt sichert sie gegen jeden Überfall. Kein Zufluchtsort ist denkbar, der an Sicherheit irgend der Bewahrung durch Jehovahs eigenen Schatten zu vergleichen wäre; denn wo der Schatten des Allmächtigen ist, da ist er selbst. Welch kühlende Labung bietet dieser Schatten in der sengenden Mittagshitze, welche Sicherheit diese Kluft des ewigen Felsens, wenn der Sturm alles verheerend vorüberbraust! Je näher wir uns dem allmächtigen himmlischen Vater anschmiegen, desto zuversichtlicher dürfen wir sein.
2. Der spricht, oder, wie der Grundtext, plötzlich in die erste Person übergehend, eigentlich sagt: Ich spreche zu dem HERRN: Meine Zuversicht und meine Burg. Eine allgemeine Wahrheit ergreifen und durch persönlichen Glauben sich aneignen, das ist die höchste Weisheit. Es liegt wenig Trost darin, zu sagen: "Der HERR ist eine Zuversicht"; aber zu Jehovah sagen können: "Du bist meine Zuversicht", das erquickt wahrhaft. Wir mögen von dem Psalmdichter auch lernen, dass wir unseren Glauben freimütig aussprechen sollten; solch kühne Bekenntnisse ehren Gott und ermuntern andere, ein gleiches Vertrauen zu fassen. Die Menschen haben es ja eilig genug, ihre Zweifel kundzugeben, ja sich mit diesen zu brüsten, und es gibt in unseren Tagen sogar eine Richtung, die mit großer Anmaßung auf Bildung und Gedankenreichtum Anspruch erhebt und doch ihren Ruhm darin sucht, alles zweifelhaft zu machen; umso mehr ist es daher für die wahren Gläubigen Pflicht, hervorzutreten und es ruhig, aber fest, zu bezeugen, dass ihr Vertrauen auf Gott wohl gegründet ist. Aber was wir sagen, das müssen wir auch durch unsere Handlungen beweisen; wir müssen beim HERRN Schutz suchen und nicht bei fleischlichem Arm. Der Vogel flieht ins Dickicht, der Fuchs eilt zu seiner Höhle, jedes Geschöpf benutzt seinen Bergungsort in der Stunde der Gefahr; so lasst uns auch in jeder Drangsal, oder wo wir auch nur Gefahr befürchten, zu Jehovah, dem ewigen Schirmherrn der Seinen, fliehen. Sind wir unter des HERRN Schutz, so wollen wir frohlocken, dass unsere Stellung uneinnehmbar ist; denn der HERR ist unsere Burg sowohl wie unsre Zuversicht. Kein Graben, kein Fallgatter, keine Zugbrücke, kein Festungswall, keine Mauerzinne, kein Turm könnte uns solche Sicherheit gewähren, als wenn die hohen Eigenschaften des HERRN der Heerscharen uns schützend umgeben. Ja, auch heute ist der HERR uns Mauer und Wehr. Unsere Bollwerke trotzen den verbündeten Heeren der Hölle. Feinde von Fleisch und Blut und solche von geistiger Art gehen beide ihrer Beute verlustig, wenn der HERR Zebaoth sich zwischen uns und ihre Wut stellt, und alle anderen bösen Mächte müssen vor ihm weichen. Mauern können die Pest nicht ausschließen, aber der HERR vermag es.
Als ob es ihm nicht genügte, den HERRN seine Zuversicht und seine Burg zu nennen, fährt der Dichter fort: Mein Gott, auf den ich hoffe. Größeres kann er nicht sagen. Mein Gott - darin liegt alles und mehr als alles, was sich an Sicherheit denken lässt. So ist es denn auch passend, dass der Psalmist das Bekenntnis und den Entschluss des Vertrauens hinzufügt mit den Worten: auf den ich hoffe (oder traue). Einem solchen Wesen das volle Vertrauen verweigern, das wäre ja mutwillige Bosheit und freche Beleidigung. Wer in einer uneinnehmbaren Festung wohnt, der verlässt sich selbstverständlich auf dieses sichere Bollwerk; und sollte, wer in Gott wohnt, sich nicht wohlgeborgen fühlen und guten Mutes sein? Ach, dass wir dem Psalmisten in seinem Gottvertrauen mehr nachahmten! Der ewig Treue hat uns nie getäuscht; weshalb sollten wir denn jetzt Verdacht gegen ihn hegen? Auf Menschen bauen ist dem gefallenen Adamskind natürlich; ebenso natürlich sollte es dem Wiedergeborenen sein, sich auf Gott zu verlassen. Wo jeder Grund und jede Bürgschaft für den Glauben gegeben ist, da sollten wir auch wirklich ohne Zögern und ohne Zagen Vertrauen üben. Lieber Leser, flehe um Gnade, dass auch du sagen könnest: Mein Gott, auf den ich hoffe.
3. | Denn Er errettet dich vom Strick des Jägers und von der schädlichen Pestilenz. |
4. | Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und deine Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, |
5. | dass du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, |
6. | vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die im Mittage verderbt. |
7. | Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen. |
8. | Ja, du wirst mit deinen Augen deine Lust sehen und schauen, wie den Gottlosen vergolten wird. |
3. Denn Er errettet dich vom Strick des Jägers. Ja fürwahr, keinem noch so schlau angelegten Plane wird es gegen den gelingen, über welchem Gottes Auge schützend wacht. Wir sind töricht und hilflos wie die armen Vöglein und sehr der Gefahr ausgesetzt, von listigen Feinden ins Verderben gelockt zu werden; bleiben wir aber in Gottes unmittelbarer Nähe, so wird er dazu sehen, dass kein Vogelsteller, wie fein er es auch anlege, uns berücke. Ja der Satan selbst, der unbewachte Seelen auf tausend Weisen fängt, wird an allen zu Schanden werden, die im Schirm des Höchsten sitzen. Und von der schädlichen Pestilenz. Gott, der Geist ist, kann uns gegen böse Geister schützen; er, dessen Wesen so geheimnisvoll ist, kann aus den geheimsten Gefahren retten; er, der unsterblich ist, kann uns aus tödlicher Krankheit aufrichten. Es gibt auch eine verderbliche Pest des Irrtums; aber wir sind gegen sie gefeit, wenn wir mit dem Gott der Wahrheit in Gemeinschaft stehen. Eine andere unheilvolle Pestilenz ist die der Sünde; aber wir werden ihr nicht unterliegen, wenn wir in dem Heiligen Gott bleiben. Und sogar vor der Ansteckungskraft der leiblichen Krankheiten vermag uns der Glaube zu schützen, wenn er solcher Art ist, dass er in Gott bleibt, in gelassenem Seelenfrieden einhergeht und um der Pflicht willen alles wagt. Indem der Glaube das Herz ruhig macht und heiter stimmt, hält er es von der Furcht frei, die in Zeiten der Seuche mehr Leute umbringt als die Pestilenz an sich. Wohl wird er nicht in allen Fällen Krankheit und Tod abwehren; aber er sichert allen denen, auf welche die Beschreibung des ersten Verses passt, ganz unzweifelhaft Unsterblichkeit, wo andere den Tod erleiden. Werden nicht alle Heiligen so beschirmt, so liegt es daran, dass nicht alle so innig mit Gott verbunden sind und darum kein so festes Vertrauen zu der Verheißung haben. Solch besonderer Glaube wird nicht allen gegeben; denn es besteht ein Unterschied in dem Maß des Glaubens. Nicht allen Gläubigen gilt das, wovon der Psalmdichter singt, sondern nur denen, die unter dem Schirm des Höchsten sitzen. Gar zu viele unter uns sind schwach im Glauben und setzen ihr Vertrauen oft tatsächlich mehr auf Tränklein und Pillen als auf den Schöpfer und Erhalter des Lebens. Sterben wir dann an der Seuche wie andere, so geschieht es, weil wir es gemacht haben wie andere, statt unsre Seelen in Geduld zu fassen. Die große Gnade dabei ist, dass auch in solchem Falle unser Sterben doch ein seliges sein und uns ewig wohl sein wird, da wir bei dem Herrn sein werden allezeit. Für die Erlösten ist auch die Pestilenz nicht schädlich, sondern wird für sie zu einem Himmelsboten.
4. Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und deine Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln. Welch wundervolle Sprache! Wäre sie von einem Menschen gebraucht, der nicht unter der besonderen Einwirkung des Heiligen Geistes stünde, so würde sie an Gotteslästerung streifen; denn wer dürfte es sonst wagen, solche Worte von dem unendlichen Jehovah zu gebrauchen? Da er aber selbst zu diesen Ausdrücken Vollmacht geschenkt, ja sie eingegeben hat, sehen wir in ihnen eine unvergleichliche Herablassung, die uns zu Bewunderung und Anbetung drängt. Spricht doch der Allerhabene hier von seinem Fittich, als wollte er sich einem Vogel gleichstellen! Wer sieht darin nicht eine unbegreifliche Liebe, eine göttliche Zärtlichkeit, die unser Vertrauen wecken und gewinnen soll? Ja, wie die Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel birgt, so schützt der HERR die Seelen, die bei ihm bleiben. Bergen wir uns denn bei ihm, damit wir behagliche Ruhe und Sicherheit genießen. Kein Habicht, der in der Luft schwebt, und keine Schlinge auf dem Felde kann uns Schaden tun, wenn wir uns im Glauben so nahe zum HERRN flüchten. Seine Wahrheit - seine gewisse Zusage und seine Treue, mit der er über der Verheißung hält - ist Schirm und Schild. Zwiefältig gerüstet ist, wer sich auf den HERRN verlässt. Die Wahrheit ist ein wohlbewährter Schild zum Auslöschen feuriger Pfeile, ein undurchdringliches Rüstzeug, an dem alle Schwerter stumpf werden. Lasst uns so gewappnet in den Streit ziehen, so sind wir auch in der heißesten Schlacht geschützt. Dieser Schild ist altbewährt und wird auch uns zugute standhalten, bis wir in das Land des Friedens eingehen. Und auch dort, unter den schwertbegürteten Cherubim und wohlgepanzerten Seraphim, werden wir keinen andern Waffenschmuck tragen als eben diesen; seine Wahrheit wird uns auch dann noch Schirm und Schild sein.
5. Dass du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht. Wir sind solch schwache Geschöpfe, dass wir bei Nacht und bei Tage in Gefahr sind, und wir sind so schuldbeladen, dass uns zu allen Zeiten die Furcht leicht überwältigen kann. Die vorliegende Verheißung sichert aber den Günstling des Himmels vor aller Gefahr und selbst vor Furcht derselben. Die Nacht ist die Zeit des Grauens; da gehen Schrecken um gleich den beutegierigen Raubtieren, gleich den Gespenstern zwischen den Gräbern. Unsere Furcht wandelt die süße Ruhezeit in Stunden der Angst, und ob auch Engel um uns her sind und unsre Kammer füllen, träumen wir doch von bösen Geistern und schrecklichen Gästen aus dem Höllenabgrund. Wie gesegnet ist doch die Gemeinschaft mit Gott, die uns gegen alle Schrecken der Finsternis und alles Grauen der Mitternacht feit! Sich nicht fürchten, das ist an und für sich schon ein unermesslicher Segen, da wir für jedes Leiden, das wir wirklich zu ertragen haben, von tausend Qualen gemartert werden, die nur aus der Furcht entstehen. Der Schatten des Allmächtigen nimmt dem Schatten der Nacht alle Düsternis; sind wir von den Fittichen der Gottheit bedeckt, so kümmert es uns nicht, was für beschwingte Schrecken auch über die Erde flattern mögen. Vor den Pfeilen, die des Tages fliegen. Listige Feinde liegen im Hinterhalt und zielen mit ihren tödlichen Geschossen auf unser Herz; aber wir fürchten sie nicht und haben auch gar keine Ursache, es zu tun. Der Pfeil ist noch nicht gemacht, der den Gerechten verderben könnte; denn der HERR hat gesagt: Eine jegliche Waffe, die wider dich zubereitet wird, der soll es nicht gelingen. (Jes. 54,17) In Zeiten großer Gefahr sind je und je solche, die ihre Zuversicht auf den HERRN setzten und darum auf die Anwendung fleischlicher Waffen verzichteten, in auffälliger Weise bewahrt worden; davon gibt die Geschichte der Quäker treffende Beweise. Doch mag der Gedanke des Psalmisten vornehmlich der sein, dass die, welche im Glauben wandeln, gegen die feigen Angriffe der List gesichert sein sollen, dass sie vor schlau eindringenden Ketzereien beschützt, bei plötzlichen Versuchungen vor allem Schaden bewahrt werden sollen. Der Tag hat seine Gefahren so gut wie die Nacht. Pfeile noch tödlicherer Art als die bekannten Giftpfeile der Indianer fliegen geräuschlos durch die Luft, und wir würden ihnen zum Opfer fallen, wenn wir nicht Schirm und Schild bei unserem Gott fänden. O gläubige Seele, bleibe du unter dem Schatten des Allmächtigen, so wird dich keiner der Schützen verderben können; sie mögen auf dich zielen, sie mögen dich verwunden, aber dein Bogen wird dennoch fest bleiben. Wenn des Teufels Köcher geleert ist, wirst du noch aufrecht stehen, von seiner List und Grausamkeit nicht beschädigt; ja, seine zerbrochenen Pfeile werden dir Siegeszeichen der Wahrhaftigkeit und Macht des HERRN, deines Gottes, sein.
6. Vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht. Diese ist, sowohl was ihre Ursache als was ihre Heilung betrifft, in geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Sie schreitet, von Menschen ungesehen, immer weiter und tötet mit verborgenen Waffen wie ein Feind, der im Finstern meuchlings umbringt; aber die in Gottes Hut leben, fürchten sie nicht. Und doch beunruhigt sonst nichts so sehr, wie die Anschläge eines Meuchelmörders; denn ein solcher kann einen in jedem Augenblick überfallen und mit Einem Schlag niederstrecken. Das ist aber gerade die Art, in welcher die Pest ihr schauriges Werk tut, wenn die Zeit ihrer Macht da ist. Keiner kann sich an irgendeinem Ort in der verseuchten Stadt oder Gegend auch nur eine Stunde vor ihr sicher fühlen. Sie schleicht in ein Haus, niemand weiß wie; sogar die Luft, die man zum Leben einatmet, ist todbringend. Dennoch sollen die begnadeten Seelen, die im Schirm des Höchsten weilen, auch an den gefährdetsten Orten über alle Furcht erhaben sein; sie sollen sich nicht ängsten vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht, und ebenso wenig vor der Seuche, die im Mittage verderbt. Hungersnot mag wüten oder blutiger Krieg viele verschlingen, Erdbeben mag große Zerstörungen, Unwetter schwere Verwüstungen anrichten; aber mitten in alle dem soll der Mann, der unter den Fittichen des Ewigen geborgen ist, in vollem Frieden erhalten bleiben. Schreckenstage und Schauernächte sind für andere Leute; er verbringt ja seine Tage und Nächte in der Gemeinschaft seines Gottes, darum gehen sie in heiliger Ruhe dahin. Sein Friede ist nicht dem Wechsel der Tage und Zeiten unterworfen, er geht nicht mit der Sonne auf und nieder und ist nicht abhängig von der Reinheit der Luft oder der Sicherheit des Landes. Über das Herzenskind des HERRN hat die Pestilenz keine zerstörende Macht, und die Trübsal kann es nicht aufreiben. Die Pestilenz schleicht im Finstern, aber das Gotteskind wohnt im Licht; die Seuche verderbt im Mittage, aber über dem Christen ist eine andre Sonne aufgegangen, deren Strahlen Erquickung bringen. Gedenke des, dass die Stimme, welche hier spricht: "Du sollst nicht erschrecken müssen", die Stimme Gottes selbst ist; er verpfändet damit sein Wort für die Sicherheit derer, die unter seinem Schatten bleiben, ja, nicht nur für ihre Sicherheit, sondern auch für ihren Seelenfrieden. Sie sollen so fern davon sein, beschädigt zu werden, dass sie sogar aller Furcht vor den Übeln, die sie umgeben, entnommen sein sollen, weil der HERR sie beschützt.
7. Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten. So schrecklich mag die Seuche wüten, dass die Sterbelisten unheimlich anschwellen und, immer zunehmend, noch zehnmal größer werden; dennoch sollen die, von welchen unser Psalm gilt, der Sichel des Todes entgehen. So wird es doch dich nicht treffen. Ob die Pestilenz dir auch so nahe rückt, dass sie an deiner Seite ist, doch soll sie so nahe nicht an dich herankommen, dass sie dich berühren könnte. Wie ein Feuer mag sie rings umher brennen, doch soll man an dir keinen Brand riechen. Wie wahr ist das von der Seuche der sittlichen Übel, der Irrlehre und dem Abfall! Ganze Völkerschaften sind von ihr durchseucht; aber der Mann, der mit Gott in enger Gemeinschaft steht, wird von der Ansteckung nicht ergriffen. Er bleibt bei der Wahrheit, auch wo die Lüge herrschend geworden ist. Überall um ihn her sieht er viele, die dem Bekenntnisse nach zu den Frommen zählen, von der Seuche ergriffen, die Kirche ist verwüstet, das christliche Leben selbst ist verfallen; aber an eben dem Ort, zu eben der Zeit steht der echte Gläubige in jugendfrischer Kraft da und weiß nichts von Siechtum. In einem gewissen Maße gilt das aber auch von äußerlichen Übeln; noch immer macht der HERR, wenn er ein Land mit Plagen heimsucht, einen Unterschied zwischen den Israeliten und den Ägyptern. Sanheribs Heer mag verdorren wie das Gras auf den Dächern, ehe denn es reif wird (2. Könige 19,26), aber Jerusalem bleibt in Kraft.
8. Ja, du wirst es sehen mit deinen Augen (Grundtext) und schauen, wie den Gottlosen vergolten wird. Nur Zuschauer wirst du sein; aber was du da mit eigenen Augen siehst, das wird sowohl die Gerechtigkeit als die Barmherzigkeit Gottes offenbaren: an denen, die verderben, soll sich Gottes Ernst, und an dem Entrinnen der Gläubigen der Reichtum der göttlichen Güte enthüllen. Josua und Kaleb haben die Wahrheit dieser Verheißung erfahren, und die puritanischen Prediger müssen, als sie, da die Pest in London wütete, aus ihren Verstecken hervorkamen, um dem durch die Seuche so arg heimgesuchten zuchtlosen Geschlecht Gnade und Gericht zu verkündigen, von den Weissagungen unseres Psalms tief durchdrungen gewesen sein. Das Anschauen der Gerichte Gottes erweicht das Herz, erweckt ernste Scheu, wirkt Dankbarkeit und treibt so zur demütigsten Anbetung. Es ist ein Anblick, den unser keiner zu sehen begehren wird; und doch, würden wir ihn schauen, so könnte es sein, dass wir dadurch zur Entfaltung der edelsten menschlichen Tugenden getrieben würden. Geben wir nur auf Gottes Wege Acht, so werden wir merken, dass wir in einer Schule sind, wo uns Beispiele der göttlichen Vergeltung der Sünde reichlich vor Augen geführt werden. Da das Endgericht noch aussteht, dürfen wir nicht einen einzelnen Fall für sich beurteilen, damit wir nicht falsch richten; aber dem aufmerksamen Beobachter von Menschen und Dingen werden sich Beweise der göttlichen Heimsuchung des Bösen zahlreich vor Augen drängen, und aus der Gesamtheit solcher Wahrnehmungen dürfen wir billig Folgerungen ziehen. Und wenn wir anders unsere Augen nicht gegen offenkundige Tatsachen verschließen, werden wir dann bald merken, dass es trotz allem Widerspruch eben doch einen Richter über das sittliche Verhalten der Menschen gibt, der früher oder später den Gottlosen ihre verdiente Strafe zumisst.
9. | Denn der HERR ist deine Zuversicht, der Höchste ist deine Zuflucht. |
10. | Es wird dir kein Übels begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen. |
9-10. Ich kann es nicht unterlassen, ehe wir den einzelnen Worten dieser Vers nachgehen, ein persönliches Erlebnis zu erzählen, welches die herzstillende Kraft beleuchten mag, die von diesen Worten ausgeht, wenn der Heilige Geist sie uns zueignet. Im Jahr 1854, als ich noch kaum ein Jahr in London war, wurde die Gegend, in welcher ich wirkte, von der asiatischen Cholera heimgesucht, und meine Gemeinde litt schwer unter der verheerenden Seuche. Eine Familie nach der anderen rief mich an das Lager der von der schrecklichen Krankheit Ergriffenen, und beinahe jeden Tag hatte ich am Grabe zu stehen. Mit jugendlichem Eifer gab ich mich dem Besuchen der Kranken hin, und aus allen Teilen des Stadtbezirkes sandten Leute jeden Standes und Religionsbekentnisses nach mir. Nach und nach aber wurde ich müde und matt an Leib und Seele. Meine Freunde schienen einer nach dem andern dahin zu sinken, und ich fühlte oder bildete mir ein, dass auch ich im Begriff war zu erkranken, wie so viele um mich her. Noch ein wenig Arbeitens und Leidens hätte mich dahingestreckt wie die Übrigen. Meine Last wurde mir zu schwer, als dass ich sie noch länger hätte tragen können; ich war ganz nahe daran ihr zu unterliegen. Da fügte es Gott eines Tages, als ich traurigen Herzens von einer Beerdigung heimkehrte, dass mein Blick auf ein Blatt Papier fiel, das an dem Fenster eines Schuhmacherladens in der Doverstraße befestigt war. Die Neugierde trieb mich, zu sehen, was darauf geschrieben stehe, denn es sah nicht aus wie eine Geschäftsanzeige, die es auch in der Tat nicht war. Vielmehr stand in fester, deutlicher Handschrift darauf zu lesen: Der HERR ist deine Zuversicht, der Höchste ist deine Zuflucht. Es wird dir kein Übels begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen. Diese Worte schlugen bei mir ein. Ich konnte sie mir sogleich im Glauben aneignen und fühlte mich reich erquickt und völlig sicher, ja mit Unsterblichkeit gegürtet. Ich konnte mit ruhigem Gemüte fortfahren, die Sterbenden zu besuchen. Ich fühlte keine Furcht mehr und litt keinen Schaden. Dankerfüllten Herzens preise ich das Walten der göttlichen Vorsehung, durch welche jener Geschäftsmann veranlasst wurde, die Bibelworte an seinem Fenster anzubringen, und bei der Erinnerung an die wunderbare Wirkung, welche sie auf mein Gemüt hatten, bete ich den HERRN, meinen Gott, an.
In diesen Versen verbürgt der Psalmdichter dem Manne, der Gott zu seiner Zuflucht hat, völlige Sicherheit. Wiewohl der Glaube kein Verdienst für sich in Anspruch nimmt, belohnt der HERR ihn doch, wo immer er ihn wahrnimmt. Wer den Höchsten zu seiner Zuflucht macht, wird erfahren, dass derselbe in der Tat eine sichere Zuflucht ist. Wir müssen den Herrn zu unserem Obdach machen, indem wir ihn zu unserer Zuversicht und Ruhstatt erwählen; dann wird uns Schutz vor aller Gefahr zuteil werden. Uns selber wird kein Übels anrühren, und unser Haus wird von keinem Gericht getroffen werden. Selbst wenn unsere Wohnstatt nach dem Wortlaut des Grundtextes V. 10 nur ein Zelt ist, wird die schwache Hütte dennoch ein genügender Schutz gegen alle Gefahren sein. Es macht im Grunde wenig aus, ob unser Obdach ein Zigeunerzelt oder ein Königsschloss ist, wenn unsre Seele den Höchsten zu ihrer Zuflucht gemacht hat. Birg dich in Gott, so wohnst du im Guten, und alles Böse wird weit weg gebannt sein. Nicht weil wir vollkommen sind oder bei den Menschen im besten Ansehen stehen, können wir am bösen Tage auf Schutz hoffen, sondern weil der ewige Gott unsre Zuversicht ist und wir es gelernt haben, uns im Glauben unter seinen Flügeln zu bergen. Es ist schlechterdings unmöglich, dass ein Übel den Mann treffe, der vom HERRN geliebt ist; auch der schwerste Schlag kann nur seine Heimfahrt abkürzen und seine Belohnung beschleunigen. Das Übel ist für ihn kein Übel, sondern Gutes in verschleierter Gestalt. Verluste bereichern ihn, Krankheit ist ihm Arzenei, Schmach eine Ehre, das Sterben Gewinn. Kein Übel im eigentlichen Sinn des Wortes kann ihm begegnen, denn alles wird ihm zum Besten gewendet. Wohl dem, der in solcher Lage ist. Er ist geborgen, wo andere in Gefahren stehen; er lebt, wo andre sterben. Wörtlich ist der erste Teil des neunten Verses wieder ein Bekenntnis: Denn Du, HERR, bist meine Zuflucht! Die prophetische Stimme bestätigt dies Bekenntnis: Den Höchsten hast du zu deiner Wohnstatt gemacht, und knüpft daran die Verheißungen.
11. | Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, |
12. | dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. |
13. | Auf Löwen und Ottern wirst du gehen und treten auf junge Löwen und Drachen. |
11. Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir. Hier ist nicht von einem besondern Schutzengel, wie etliche gerne träumen, sondern von den Engeln im Allgemeinen die Rede. Diese bilden die Leibwache der Prinzen vom himmlisch königlichen Geblüte. Sie empfangen von ihrem und unserem Herrn den Auftrag, sorgsam über den Gläubigen und allem, was diese betrifft, zu wachen. Leute, denen ein besonderer Auftrag gegeben wird, pflegen zwiefache Sorgfalt anzuwenden; darum hier die Darstellung, es sei den Engeln von Gott selbst anbefohlen, zuzusehen, dass die Auserwählten ja beschützt werden. In dem Dienstbefehl der himmlischen Heerscharen steht es besonders vermerkt, dass sie vor allem auf die Menschen, welche den HERRN zu ihrer Zuflucht gemacht haben, Acht geben sollen. Das braucht uns nicht zu wundern, dass den Dienern Befehl erteilt wird, um das Wohlergehen der Gäste des Hausherrn recht besorgt zu sein; und wir dürfen des gewiss sein, dass sie der Anweisung, zumal sie sie von ihrem Herrn selber bekommen haben, treulich nachkommen werden. Dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen. Sie sollen die Heiligen nach Leib, Seele und Geist in ihre Hut nehmen. Die Beschränkung dieses Schutzes, die, recht verstanden, in den Worten "auf allen deinen Wegen" liegt, ist für denjenigen, der zu seinem Gott richtig steht, gar keine hindernde Schranke; denn es liegt dem Gläubigen gar nicht im Sinn, von dem Wege seines Gottes abzuweichen. Er bleibt auf dem rechten Wege; und so behüten ihn die Engel. Die Zusicherung des Schutzes ist sehr umfassend, denn sie dehnt sich auf alle unsre gottgewollten Wege aus; was könnten wir mehr begehren? In welcher Weise die Engel uns behüten, das vermögen wir nicht zu sagen. Wir werden aber wohl nicht irren, wenn wir glauben, dass sie die bösen Geister zurückdrängen, Verschwörungen der unsichtbaren Mächte vereiteln und auch die verborgen andringende Macht der leiblichen Krankheiten abwehren. Vielleicht werden wir eines Tages staunen über die mannigfaltigen Dienste, welche uns Engelshand geleistet hat.
12. Dass sie dich auf den Händen tragen. Wie die Amme das Kindlein mit sorgsamer Liebe trägt, so werden Gottes Engel, diese herrlichen Geister, die mit Freuden unsere Diener werden, jeden einzelnen Gläubigen pflegen. Und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Sogar die geringeren Übel werden sie verhüten. Es ist sehr zu wünschen, dass wir nicht straucheln; da aber der Weg so manche raue Stelle hat, ist es sehr gnädig von dem HERRN, dass er seine Diener sendet, uns über Steine und Geröll hinwegzuhelfen. Kann es nun einmal nicht sein, dass wir stets auf ebenem Pfad wandeln, so ist uns doch völlig geholfen, wenn Engel uns auf den Händen tragen. Da aus ganz kleinen Unfällen die größten Übel entstehen können, tritt die Weisheit des HERRN gerade darin besonders hervor, dass wir auch vor den anscheinend geringeren Gefahren bewahrt werden sollen.
13. Auf Löwen und Ottern wirst du gehen. Über Gewalt und List sollst du siegreich dahinschreiten; offene Feinde und heimlich schleichende Widersacher sollst du gleicherweise unter die Füße treten. Sind unsere Schuhe Eisen und Erz, so wird es uns ein Leichtes sein, Löwen und Ottern unter unseren Fersen zu zermalmen. Und treten auf (Grundtext: zertreten) junge Löwen und Drachen. Die stärksten und die listigsten Feinde sollen von dem Mann Gottes überwunden werden. Nicht nur vor Steinen, sondern auch vor Schlangen sollen wir auf dem Wege sicher sein. Für solche, die in Gott bleiben, werden auch die schädlichsten Mächte gefahrlos. Ein geheimnisvoller Zauber umgibt die Kinder Gottes, dass sie auch den tödlichsten Übeln trotzen. Ihr Fuß kommt mit den ärgsten Feinden in Berührung, der Teufel selber stichelt ihnen an der Ferse herum; aber in Christo Jesu haben sie die bestimmte Versicherung, dass der Satan in kurzem unter ihren Füßen zertreten werden wird. Der heilige Georg und der Drache, das ist das rechte Bild des Volkes Gottes; die Gläubigen sind die wahren Löwenkönige und Schlangenbändiger. Sie haben Gewalt über die Mächte der Finsternis und frohlocken: "Herr, es sind uns auch die Teufel untertan in deinem Namen!"
14. | "Er begehrt mein, so will ich ihm aushelfen; er kennt meinen Namen, darum will ich ihn schützen. |
15. | Er ruft mich an, so will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen; |
16. | ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil." |
14. Hier tritt der HERR selbst redend ein und bestätigt das Vertrauen seines Erwählten. Er begehrt mein - er hängt liebend und vertrauend an mir - so will ich ihm aushelfen. Nicht weil er so große Verdienste hat, dass er um ihretwillen beschützt werden müsste, sondern weil er bei allen seinen Mängeln doch Gott liebt: darum werden nicht nur die Engel Gottes, sondern der Gott der Engel selbst in allen Zeiten der Gefahr zu seiner Rettung erscheinen und ihn herrlich befreien. Ist das Herz dem HERRN mit ganzer Inbrunst der Liebe ergeben, ist es völlig ihm geweiht, hängt es mit vollem Vertrauen an ihm, so wird sich der HERR zu der heiligen Flamme bekennen und den Menschen schützen, in dessen Busen sie brennt. Liebe - Liebe, die völlig an Gott hängt, ist das eigentümliche Kennzeichen derer, die der HERR vor dem Übel bewahrt. Er kennt meinen Namen, darum will ich ihn schützen (wörtl.: erhöhen und so aller Gefahr entrücken). Er hat das Wesen Gottes so erkannt, dass er daraus Vertrauen zu Gott geschöpft hat, und das hat ihn zu Erfahrungen geleitet, durch die er zu einer noch tieferen Erkenntnis Gottes und Bekanntschaft mit Gott gelangt ist. Das wird der HERR als ein Pfand seiner Gnade gelten lassen und wird darum den also Versiegelten über Gefahr und Furcht erheben, dass er in Friede und Freude wohnen kann. Keiner bleibt in inniger Gemeinschaft mit Gott, der nicht warme Liebe für Gott und einsichtsvolles Vertrauen zu Gott hegt. Diese Gnadengaben sind in Jehovahs Augen köstlich; wo immer er sie wahrnimmt, schaut er mit Wohlgefallen auf sie. Wie erhaben ist doch die Stellung, welche der HERR dem Gläubigen gibt! Wir sollten mit rechtem Ernst danach trachten, uns dies Vorrecht zu nutze zu machen! Steigen wir eigenmächtig in die Höhe, so mögen wir uns damit in Gefahr bringen; erhöht uns Gott aber selber, so wird es gar herrlich sein.
15. Er ruft mich an (wörtl.: er wird mich anrufen), so will ich ihn erhören. Er wird allerdings beten müssen, er wird aber auch dazu geleitet werden, in rechter Weise zu beten, und dann wird die Antwort gewisslich kommen. Die Auserwählten werden zuerst von Gott berufen, dann rufen sie zu ihm; und dies ihr Rufen findet stets Erhörung. Auch den Höchstbegünstigten fließt der Segen nicht, ohne dass sie beten, zu; aber mittelst des Gebets sollen sie alles Gute erlangen. Ich bin bei ihm in der Not. Die Erben des Himmels sind sich in Zeiten großer Not der besonderen Gegenwart Gottes bewusst. Der HERR ist seinen schwer geprüften Kindern stets nahe, um ihnen mitleidig und machtvoll zu helfen. Ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen. Die Gläubigen ehren Gott, und Gott ehrt sie. Sie werden nicht in solcher Weise errettet oder beschützt, dass sie dadurch erniedrigt werden und sich entwürdigt fühlen; sondern im Gegenteil, Gottes Heil bringt denen Ehre, die dadurch gerettet werden. Gott gibt uns erst Gnade, dass wir überwinden, und dann belohnt er uns dafür.
16. Ich will ihn sättigen mit langem Leben. Der in diesem Psalm geschilderte Mensch erfüllt das Maß seiner Tage. Ob er jung stirbt oder alt, er hat vom Leben völlig genug und ist es zufrieden, abzuscheiden. Er wird sich von der Festtafel des Lebens erheben wie einer, der ganz gesättigt ist und nichts mehr möchte, auch wenn er es haben könnte. Und will ihm zeigen mein Heil. Sein letzter Blick soll das volle Anschauen der göttlichen Gnade sein. Er wird schauen von Amanas Gipfel und vom Libanon her. (Hohelied 4,8) Nicht mit Verderben vor ihm, finster wie die Nacht, sondern indem ewiges Heil hell wie der Mittag über ihm leuchtet, soll er zu seiner Ruhe eingehen.
Erläuterungen und Kernworte
Zum ganzen Psalm. Der Psalm ist eine der herrlichsten Dichtungen, die es überhaupt gibt. Gediegenere, tiefere und schönere Poesie lässt sich nicht denken. Könnte das Lateinische oder eine der neueren Sprachen alle die Schönheiten und Feinheiten sowohl der Worte als der Sätze ganz wiedergeben, so würde es nicht schwerfallen, den Leser zu überzeugen, dass wir weder im Griechischen noch im Lateinischen ein diesem hebräischen an die Seite zu stellendes Gericht besitzen. Simon de Muis † 1644.
Der 90. Psalm beschreibt den Menschen als unter dem Zorne Gottes vergehend, der 91. zeigt uns einen Menschen, der Löwen und Ottern unter seine Füße tritt. Ohne Zweifel hatte der Versucher recht, als er diesen Psalm auf den Sohn Gottes bezog. - Die Bilder des Psalms scheinen mir zum Teil jener Passahnacht entnommen zu sein, in welcher die treuen und gehorsamen Israeliten von Gott behütet wurden, während der Todesengel durch Ägypten zog. William Kay 1871.
V. 1. Der Schirm Gottes heißet ein latibulum, ein heimlich Örtlein, dahin man sich verbirgt und versteckt in öffentlichen allgemeinen Nöten. Und will uns hiermit der Heilige Geist trösten, dass, so ein Mensch einen verbergen kann an einem heimlichen verborgenen Örtlein zur Zeit der Not, viel mehr kann’s Gott. Johann Arnd † 1621.
O ihr, die ihr in Furcht irgendeiner Gefahr stehet, lasst doch alle fleischlichen Behelfe und ängstlichen Ratschläge und Berechnungen; flüchtet euch doch lieber zu dem Felsen der göttlichen Macht und Fürsorge. Seid wie die Tauben, die ihre Nester in den Höhlen der Felsen machen. Jeremiah Dyke † 1620.
Wir haben einmal von einem Hirsch gelesen, der in der größten Sicherheit umhergestreift sei, weil er ein Täfelchen am Halse getragen, auf dem geschrieben gewesen: "Niemand rühre mich an, denn ich gehöre dem Kaiser." In ähnlicher Weise sind alle wahren Diener Gottes sicher, selbst unter Löwen, Bären und Schlangen, in Feuer und Wasser, bei Wetter und Sturm; denn alle Kreatur kennt und achtet den Schatten Gottes. Kardinal Robert Bellarmin † 1621.
V. 2. Mein Gott. Du bist recht eigentlich mein Gott; erstens von deiner Seite, wegen der besondern Güte und Huld, die du mir erzeigest, zweitens von meiner Seite, wegen der besonderen Liebe und Ehrerbietung, mit der ich an dir hange. Johannes Paulus Palanterius 1600.
V. 3. Denn Er errettet dich von der schädlichen Pestilenz. Zur Zeit, als in London die Pest wütete, lebte daselbst ein Edelmann namens Craven. Als die schreckliche Seuche um sich griff, beschloss er, seinen Wohnsitz nach seinem Landgut zu verlegen. Der sechsspännige Reisewagen stand bald vor der Tür, das Gepäck wurde aufgeladen, und alles war zur Abfahrt bereit. Als der Edelmann ganz reisefertig durch die Vorhalle schritt und eben im Begriff stand, in den Wagen zu steigen, hörte er, wie sein schwarzer Diener, der als Vorreiter diente, zu einem der Lakaien sagte: "Der Gott unseres Herrn muss wohl auf dem Lande wohnen und nicht in der Stadt, weil Massa aufs Land geht, um vor der Krankheit geschützt zu werden." Der Schwarzafrikaner sagte das in seiner Einfalt; er glaubte wirklich, dass es viele Götter gebe. Die Worte machten einen tiefen Eindruck auf den Edelmann. Er stutzte. "Nein", dachte er "mein Gott wohnt allenthalben und kann mich in der Stadt ebenso gut schützen wie auf dem Lande. Ich will bleiben, wo ich bin. Der Schwarze hat mir da in seiner Unwissenheit eine sehr nützliche Predigt gehalten. HERR, vergib mir meinen Unglauben, der mich dazu verleitet hat, mich deiner Führung entziehen zu wollen." Alsbald befahl er, die Pferde auszuspannen und das Gepäck wieder ins Haus zu bringen. Er blieb in London, machte sich unter seinen leidenden Nachbarn nützlich und wurde von der Seuche nicht ergriffen. John Whitecroß 1858.
V. 4. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild. Was wir allen Gefahren entgegensetzen müssen, das ist die Wahrheit oder das Wort Gottes; solange wir das festhalten und damit Schwert und Pfeil abwehren, werden wir nicht überwunden. David Dickson † 1662.
V. 5. Das bewährte Mittel gegen alle quälende Furcht ist das Gottvertrauen. Viel Schreckliches kann ja die Menschen überkommen, wenn sie am sichersten sind, wie denn so mancher bei Nacht im tiefen Schlaf von Räubern, von Feuers- oder Wassersnot überfallen wird. Aber der HERR will, dass die Gläubigen sich vor keinem Übel fürchten, auch nicht vor dem Grauen der Nacht. Mancherlei noch traurigere Unfälle können dem Menschen zustoßen, wenn er sich im wachen Zustande befindet und so sorgfältig wie nur möglich auf der Hut ist. Aber es ist des HERRN Wille, dass der Gläubige das feste Zutrauen habe, dass ihm kein Übels begegnen werde, dass er darum auch alle Angst ablege vor den Pfeilen, die des Tages fliegen. David Dickson † 1662.
Nicht nur sind die Frommen geborgen, sie sollen auch nicht einmal von Furcht befangen sein. Solches Vertrauen ist der natürlichen Kraft nicht eigen, wenn das Verderben ringsumher tobt und wütet. Es ist den Sterblichen ja von dem Schöpfer und Erhalter des Lebens eingepflanzt, dass sie das Schädliche und Tödliche fürchten. Darum fügt der Psalmist die zwei Dinge so schön zusammen: Du sollst nicht erschrecken und vor dem Grauen. Er gesteht damit, dass die Pestilenz etwas Grauenhaftes ist, aber durch das Vertrauen auf Gott muss das sonst natürliche Grauen weichen. Wolfgang Musculus † 1563.
Nicht dass wir aus jeder besondern Gefahr oder Trübsal buchstäblich gerettet werden sollen, aber alles muss zu unserm größern Wohl dienen, und je mehr wir leiden, desto größer wird unsre Herrlichkeit sein. Jesajas sagt Ähnliches (43,2) und Habakuk (3,17.18) und Hiob (5,19.20). Werden die Worte recht gedeutet, so ist kein Grund zu der Annahme da, dass man unbedingt auf Rettung aus jeglicher Not rechnen könne, vollends nicht, wenn man sich im Übermut in Gefahr begeben hat. Solche Bilder werden als Zierden der Sprache allgemein gebraucht und werden von jedermann verstanden. Weshalb soll solche Kraftsprache den heiligen Schriftstellern nicht gestattet sein, die es doch auch mit Menschen zu tun hatten? Die meisten Schriftausleger ziehen aus diesen Worten den Schluss, dass die Frommen in Zeiten der allgemeinen Not geschont werden sollen, und das hat auch wohl seine Berechtigung, doch aber nicht so, dass unbedingt alle Gläubigen zu solchen Zeiten auf Schutz gegen jede Seuche rechnen dürfen. - Aus den Anmerkungen der Westminister Synode 1643-48.
Mit den Pfeilen ist wahrscheinlich auch die Pest gemeint. Wenigstens gebrauchen die Araber dieses Bild dafür. So erzählt auch Busbequiu in seinen Reisebeschreibungen: "Ich wollte meine Wohnung nach einer weniger mit Ansteckungsstoffen geschwängerten Gegend verlegen. Da empfing ich von dem Kaiser Soliman die Botschaft, dass er sich darüber wundere; denn, sagte er, ist nicht die Pest der Pfeil Gottes, der stets sein Ziel trifft? Wollte Gott mich damit heimsuchen, wie könnte ich dem ausweichen? Ist die Seuche nicht in meinem eigenen Palast? Doch denke ich nicht daran, wegzuziehen." Und Smith berichtet 1673 von den Türken, dass sie sprechen: "Wie, ist die Pest nicht der Wurfspieß des Allmächtigen? Können wir den Schlag abwehren, den er gegen uns führt? Trifft seine Hand nicht mit Sicherheit die Leute, welche er im Auge hat? Können wir ihm entlaufen, dass er uns nicht mehr sieht, oder können wir uns seiner Macht entziehen?" Samuel Burder 1839.
Die Krankheiten der heißen Länder, besonders derjenigen mit üppigem Pflanzenwuchs und vielen Sümpfen, kommen von den giftigen Dünsten, die sich während der Nacht sammeln, oder von den brennenden Sonnenstrahlen, die im Mittage verderben und Sonnenstiche, Lähmungen, Gehirnentzündungen und Lebererkrankungen hervorbringen. Man vergleiche Ps. 121,6. Gegen beide Übel wurden die Israeliten auf der Wüstenwanderung wunderbar beschützt, bei Tage durch die Wolkensäule, welche die Sonnenstrahlen milderte, bei Nacht durch die Feuersäule, welche die sich sammelnden Dünste zerstreute und die Luft klar, trocken und gesund erhielt. James Millard Good † 1827.
V. 7. Gottes Macht kann uns in unmittelbarer Nähe der Gefahr das Übel doch ferne halten. Wie das Gute uns räumlich sehr nahe und dennoch in Wirklichkeit ferne von uns sein kann, so auch das Übel. Das Volk drängte Christum, dennoch rührte nur eine ihn so an, dass ihr ein Segen daraus wurde; so kann uns Christus auch inmitten sich herandrängender Gefahren so behüten, dass auch nicht eine uns schadet. Joseph Caryl † 1673.
Es wird doch dich nicht treffen. Nicht mit der Absicht, zu zeigen, dass alle Frommen der Pestilenz zu entrinnen erwarten dürfen, sondern um zu beweisen, dass etliche, die hervorragenden Glauben gehabt, in der Tat wunderbar bewahrt geblieben sind, habe ich aus verschiedenen Quellen die folgenden Beispiele gesammelt. C. H. Spurgeon 1874.
Bevor Paul Fagius, der berühmte Kenner des Hebräischen, im Jahre 1543 Isny verließ, wurde dieses württembergische Städtchen arg von der Pest heimgesucht. Als er hörte, dass viele der wohlhabendsten Einwohner vorhatten, den Ort ohne Rücksicht auf solche, die von der Seuche ergriffen waren, zu verlassen, und dass die Häuser der Erkrankten auf Befehl der Behörde geschlossen werden sollten, vermahnte er die Flüchtlinge öffentlich, entweder in der Stadt zu bleiben oder doch mit Freigebigkeit Almosen für die Leidenden zu hinterlassen. Solange die Heimsuchung dauerte, besuchte er selbst die Kranken, brachte ihnen geistlichen Trost, betete über ihnen und hielt sich bei Tag und Nacht zur Hilfe bereit; trotz alledem blieb er durch Gottes Fürsorge unangetastet. - Leben des Paul Fagius † 1549.
Als im Jahre 1576 der Kardinal Carlo Borromeo, Erzbischof von Mailand, der würdigste unter allen Nachfolgern des Ambrosius, in Lodi, wo er sich zur Zeit befand, die Kunde bekam, dass sich in Mailand die Pest gezeigt habe, begab er sich alsbald dorthin. Die ihm unterstehenden Geistlichen empfahlen ihm, sich in irgendeinem gesunden Teil seines Sprengels aufzuhalten, bis die Krankheit gewichen sei. Aber er antwortete, der Bischof habe die Pflicht, für die Schafe sein Leben einzusetzen, und er könne darum diese in der Zeit der Gefahr nicht verlassen. Man gab ihm zu, dass ihnen beizustehen allerdings der bessere Weg sei. "Nun denn," sagte er, "ist es nicht allezeit eines Bischofs Pflicht, den bessern Weg zu wählen?" So eilte er denn in die von der tödlichen Krankheit befallene Stadt zurück, ermahnte das Volk zur Buße, besuchte die Spitäler und ermunterte die Priester durch sein Beispiel, den Sterbenden geistlichen Trost zu bringen. Die ganzen vier Monate, während deren die Pest wütete, wartete er ohne Furcht und ohne Ermatten der Kranken und Sterbenden, und, was besonders bemerkenswert ist, von seiner ganzen Haushaltung starben nur zwei Leute, und das waren solche, die nicht den Beruf hatten, zu den Kranken zu gehen. - Aus dem Buch der goldenen Taten (engl.) 1864.
Der Bischof von Marseille, de Belsunce, zeichnete sich während der Pestzeit im Jahre 1720 so sehr durch seine Menschenfreundlichkeit aus, dass der König von Frankreich ihm den angeseheneren und einträglicheren Bischofssitz von Laon in der Picardie anbot. Er schlug das Anerbieten aber aus, mit der Begründung, dass er nicht geneigt sei, eine Herde zu verlassen, die ihm durch ihre Leiden so teuer geworden sei. Das Andenken an sein frommes, unerschrockenes Wirken in jener Zeit bewahrt ein Gemälde, das sich im Rathaus von Marseille befindet. Da sieht man ihn in seinem bischöflichen Gewand, inmitten seiner Priesterschar, wie er den Sterbenden den Segen austeilt. Aber ein noch ergreifenderes Bild von den Liebesdiensten dieses Bischofs gibt uns ein eigenhändiger Brief von ihm, in welchem er dem Bischof von Soissons schreibt: "Nie ist wohl eine schrecklichere Verheerung gewesen. Marseille hat zwar schon öfters schwere Seuchen erlebt, aber nie eine, die dieser gleichgekommen wäre. Von der Krankheit ergriffen werden und tot sein ist fast dasselbe. Welche Jammerbilder auf allen Seiten! Die Straßen liegen voll von halb verwesten Leichnamen, zwischen denen wir hindurch müssen, um die Sterbenden zur Buße zu mahnen und ihnen die Absolution zu erteilen." Wiewohl der gottergebene Bischof sich so der tödlichen Pestilenz aussetzte, blieb er gesund. Percy’s Anekdoten.
Während Frankreich sich billigerweise dieses "guten Bischofs von Marseille" rühmt, Deutschland aber, von andern zu geschweigen, an dem Wittenberger Reformator ein leuchtendes Beispiel der Pflichttreue und der göttlichen Bewahrung in Pestzeiten hat, kann England sich Glück wünschen, auch einen geistlichen Hirten gehabt zu haben, der in gleich eifriger Weise sein Amt verwaltete und für die kleine ihm anvertraute Herde unter nicht geringerer Lebensgefahr und mit nicht geringerer Treue sorgte. W. Mompesson war Pfarrer von Eyam in der Grafschaft Derby, als im Jahre 1666 eine Seuche die Stadt beinahe entvölkerte. Während der ganzen Unglückszeit versah er den Dienst eines Arztes, Anwalts und Pastors, indem er den Kranken mit Arzenei, mit Ratschlägen und Fürbitte diente. Man zeigt noch heute eine Höhle in der Nähe von Eyam, wo dieser würdige Diener des Evangeliums denjenigen Gemeindegliedern, welche noch nicht von der Seuche befallen waren, gepredigt haben soll. Wiewohl das Dorf fast alle seine Einwohner durch die schreckliche Krankheit verlor, wurde durch seine Bemühungen doch dem vorgebeugt, dass die Seuche sich über andere Gegenden ausbreitete, und er selber überlebte die schwere Zeit durch Gottes bewahrende Gnade.
V. 10. Es gibt eine dreifache Bewahrung, welche die Gemeinde des HERRN und deren einzelne Glieder von der göttlichen Vorsehung erwarten dürfen, nämlich Bewahrung vor Gefahr, in Gefahr und durch Gefahr. Erstens eine Bewahrung vor Gefahr, wie sie der HERR hier im Psalm verheißt. Augustin († 430) hatte sich vorgenommen, die Christen in einer gewissen Stadt zu besuchen und ihnen das Wort Gottes zu verkündigen. Tag und Ort waren seinen Feinden bekannt geworden, und diese hatten bewaffnete Leute bestellt, die ihm auf dem Wege auflauern und ihn umbringen sollten. Gott fügte es aber so, dass der Führer, den man ihm mitgegeben hatte, den Weg verfehlte und ihn auf einen Nebenpfad brachte, auf dem er aber schließlich doch glücklich auf Ziel kam. Als die Christen das erfuhren und auch von der Täuschung hörten, die dadurch den Feinden des Bischofs bereitet worden war, beteten sie Gott wegen seines wunderbaren Waltens an und priesen ihn für diese herrliche Errettung.
Zweitens gibt es eine Bewahrung in Gefahren, wie Hiob 5,19 f. geschrieben steht: "Aus sechs Trübsalen wird er dich erretten, und in der siebenten wird dich kein Übel rühren. In der Teurung wird er dich vom Tod erlösen und im Kriege von des Schwertes Hand." In der Hungersnot zu Elias Zeiten reichte der Vorrat der Witwe von Sarepta aus. Gottes Vorsehung waltete über Daniel in der Löwengrube und verschloss den wütenden Bestien den Rachen. So war Gott auch mit den drei Männern im Feuerofen und gebot den Flammen, dass sie sie nicht versengen durften. Die Gemeinde des HERRN ist stets eine Lilie unter Dornen gewesen, aber sie blüht noch heutigen Tags. Dieser Busch ist noch immer fern davon, verzehrt zu werden, wiewohl er selten oder nie außer dem Feuer gewesen.
Drittens gibt es eine Bewahrung durch Gefahren, eine Errettung aus größeren Übeln durch geringere. Für jedes Gift hat Gottes Vorsehung ein Gegengift. So ward Jona von einem Seeungeheuer verschluckt und gerade dadurch am Leben erhalten. Joseph wurde in eine Grube geworfen und dann nach Ägypten verkauft, und eben durch diese Trübsale wurde er der Nährvater des Volkes Gottes. Chrysostomus sagt trefflich in seiner 26. Homilie über das Matthäusevangelium: "Fides in periculis secura est, in securitate periclitatur, der Glaube ist inmitten von Gefahren sicher, durch Sicherheit aber wird er gefährdet." Gott bewahrt uns, nicht, wie wir es mit dem Obst machen, das nur ein Jahr halten soll, in Zucker, sondern wie das Fleisch, das für eine lange Seereise in Salz eingemacht wird. Wir haben in diesem Leben viel beißendes Salz zu erwarten, weil unser Gott beschlossen hat, uns auf ewig zu erhalten. Man denke auch an des Paulus Pfahl im Fleisch, der ihn vor dem Hochmut bewahren sollte. John Arrowsmith † 1659.
Die Verheißung lautet auf Sicherheit inmitten drohender Gefahren; nicht auf eine Sicherheit, wie die Engel sie genießen, Sicherheit in einer Welt vollkommener Gefahrlosigkeit, nicht auf Ruhe in heiterer Stille, sondern auf Ruhe mitten im Sturm, Sicherheit inmitten von Verheerung und Verwüstung und inmitten des Tobens wilder Mächte, Rettung, wo rings umher alles zu Grunde geht. Charles Bradley 1840.
Gott sagt nicht, dass uns keine Trübsal, sondern dass uns kein Übels begegnen werde. Thomas Watson 1660.
Die Sünde, die das Feuer in der Hölle entzündet hat, facht auch auf Erden beständig Feuer an. Und wenn die Flammen dann hervorbrechen, fragt ein jeder, woher das komme. Amos antwortet: Ist auch ein Unglück in der Stadt, das der HERR nicht tue? (Amos 3,6) Und angesichts der durch das Feuer angerichteten Verheerung erklärt Jesaia: Du lässest uns in unseren Sünden verschmachten, oder eigentlich: Du ließest uns in der Gewalt unserer Verschuldungen hinschmelzen. (Jes. 64,6) Vor vielen Jahren wurde mein Haus mehrmals mit Zerstörung bedroht, aber der HERR übernahm die Versicherung, indem er mir Ps. 91,10 zusprach; und des HERRN Bewahrung ist die beste Unfallversicherung. John Berridge † 1793.
V. 11. Nehmen wir das Wort Engel im buchstäblichen Sinn, als Bote, so können wir jedes Mittel, jede Kraft, welche Gott gebraucht, um uns zu stärken, zu schützen und zu erretten, als seinen Engel ansehen. Mary B. M. Duncan † 1865.
Dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen. Wie sollten diese himmlischen Geister einen Menschen, der sich den rechten Weg zu gehen weigert, wie Ammen während seines Erdenlebens auf den Armen tragen oder als beschwingte Boten seine Seele, wenn er stirbt, gen Himmel führen? Sie sollen uns behüten auf den Wegen, die Gott uns anweist. Aber wenn wir von dem rechten Wege abtreten, haben sie ebenso Befehl, uns zu widerstehen. Mag das für die Gottlosen ein Schrecken sein, für die Gottesfürchtigen ist es ein Trost. Denn wenn ein Engel sogar einen Bileam von der Sünde abhalten wollte, wie viel sorgsamer werden diese herrlichen Wesen bedacht sein, die Kinder Gottes vor schlimmen Wegen zu behüten. Vor wie manchem bösen Straucheln, vor wie mancher schweren Verletzung haben sie uns in der Tat bewahrt! Wie oft haben sie uns, wenn wir uns dem Bösen zuneigten, davon abgelenkt, entweder indem sie die Gelegenheit beseitigten, oder indem sie unvermerkt gute Regungen in uns hervorbrachten! Wir sündigen ohnehin übergenug; wie viel öfter noch würden wir straucheln und stürzen, wenn diese heiligen Wächter uns nicht bewahrten! Der Teufel steht bereit, uns irre zu führen, wenn wir bestrebt sind, Gutes zu tun; wenn wir verlockt werden, Böses zu tun, stehen die Engel bereit, es zu verhindern. Es geht uns wie dem Hohenpriester Josua, der den Satan an der einen und einen Engel an der anderen Seite hatte. (Sach. 3,1) Ohne diese schützenden Engel wären wir den Gefahren nicht gewachsen; wir könnten weder unsere Stellung behaupten noch, wenn wir gefallen sind, uns wieder erheben. Thomas Adams 1614.
Als ein betagter Knecht des HERRN, der alte Dod, einst beim Umsteigen aus einem Boot in das andere zwischen beiden ins Wasser glitt, war sein erstes Wort: "Bin ich auf meinem Wege?" So sollten auch wir uns immer wieder fragen. William Bridge † 1670.
V. 11.12. Es ist sehr beachtenswert, dass die Schrift die Waffe ist, welche der Satan gegen Christus zu führen suchte. Bei seinen andern Versuchen, Jesum zu verführen, war er schüchterner, er legte Jesu nur die Sünde nahe, machte die Gelegenheiten und überließ es ihm, sie zu benutzen; bei dieser Versuchung aber geht er zuversichtlicher vor und legt seinen Ratschlag mit Eifer dar als eine Sache, die er besser vertreten und mit mehr Zuversicht behaupten kann. Seine Schlauheit liegt in der falschen Darstellung und dem Missbrauch, indem er erstens die Verheißung geltend macht, um mit ihr eine Sünde zu fördern, völlig entgegen dem ganzen Zweck der Heiligen Schrift, die dazu geschrieben ist, auf dass wir nicht sündigen (1. Joh. 2,1); im Besonderen aber zweitens, indem er das Schriftwort beschneidet und dadurch verstümmelt. Er lässt mit Bedacht denjenigen Teil aus, der die Verheißung des Schutzes auf rechtmäßige Unternehmungen beschränkt, zu denen jene, die er dem Herrn Jesu vorschlägt, doch nicht gehört, und verwandelt die Verheißung in eine ganz allgemeine Zusage unbedingter Sicherheit, möge die Handlung welcher Art immer sein. Gerade die Worte "auf allen deinen Wegen", welche zum richtigen Verständnis der göttlichen Zusage dienen, lässt er in betrügerischer Weise aus, als wären sie unnötig, während sie gerade absichtlich vom Heiligen Geist dahin gestellt sind, damit an ihnen erkannt werde, von was für Leuten und bei welchen Handlungen die Erfüllung der Verheißung erwartet werden könne. Man vergleiche Spr. 3,21-26. wo wir gleichsam eine Umschreibung unseres Verses haben. Richard Gilpin † 1699.
V. 12. Die Engel werden uns hier dargestellt, wie sie den Gläubigen auf den Händen tragen, nicht, dass er gefahrlos über das weite Meer gebracht, durch feindliche Heerhaufen geführt oder beim Drohen irgendeiner außerordentlichen Gefahr zu einem sichern Bergungsort geleitet werde, sondern dass er seinen Fuß nicht an einen Stein stoße. Die Engel, die höchsten aller geschaffenen Wesen, die strahlenden, prächtigen, mächtigen Engel sollen den Gerechten auf den Händen tragen, damit er nicht über einen Kieselstein stolpere oder sich den Fuß an einem Stein verletze. Ist da nicht ein Missverhältnis zwischen der aufgewendeten Kraft und der beabsichtigten Leistung, so dass es den Anschein gewinnt, als würden die Engel mit einer Aufgabe beschäftigt, die unter ihrer Würde sei? Nun, ein Stoßen des Fußes an einem Stein, ein Schaden, scheinbar zu unbedeutend, um beachtet zu werden, hat schon manchmal bedenkliche Leiden nach sich gezogen und mit dem Tod geendet. Und ist es in geistlicher Beziehung etwa anders? Ist ein Unterschied vorhanden, dann gewiss nur der, dass die Gefahren, die der Seele aus einem scheinbar leichten Schaden drohen, noch weit größer sind. Die schlimmsten geistlichen Krankheiten können in vielen Fällen auf geringfügige Anfänge zurückgeführt werden. - Dieses Behüten des Fußes muss wohl keine leichte Aufgabe sein, da die höchsten geschaffenen Wesen damit beauftragt werden. So ist es in der Tat. Das Schwierige der Nachfolge Christi ist das tägliche Aufsichnehmen des Kreuzes, viel mehr als besondere Taten bei besondern Gelegenheiten und unter außergewöhnlichen Verhältnissen. Gott in den kleinen Dingen dienen, die christlichen Grundsätze in dem alltäglichen Leben betätigen, Temperament und Zunge in Zucht halten, das Christentum im Hause durchführen, jeden Augenblick zu Opfern, auch zu kleinen, von niemand bemerkten Selbstverleugnungen bereit sein - wer, der etwas von den Schwierigkeiten kennt, mit welchen die Frömmigkeit zu tun hat, weiß nicht, dass die Gefahr viel größer ist, dass wir in diesen Stücken zurückbleiben, als bei außerordentlichen Proben, die dem Anschein nach weit wichtiger und viel härter zu bestehen sind, - und wäre jenes auch nur deshalb der Fall, weil dort eben alles das wegfällt, was wichtig scheint oder schwer aussieht, und man eben dadurch leichter sorglos und sicher wird, wodurch gerade die Niederlage beinahe gewiss wird. Henry Melville † 1871.
V. 13. Drache. Das hebräische Wort (wörtl. wohl ein lang gestrecktes Tier) wird gebraucht für große Fische, für Schlangen und für das Krokodil, das letzte als Bild der Feinde des HERRN, besonders der ägyptischen und der babylonischen Weltmacht. Der Ausdruck ist also eine allgemeine Bezeichnung, er bedeutet irgendein Ungeheuer, sei es des Landes oder des Wassers. Die besondere Bedeutung muss jeweils der Zusammenhang ergeben. An die Drachen unserer Fabeln ist dabei nicht zu denken. John Duns 1868.
Du wirst treten auf junge Löwen und Drachen, nicht zufällig, wie jemand, der unversehens auf eine Schlange tritt, die am Wege liegt; sondern der Sinn ist: Du wirst auf sie treten wie ein Sieger auf den Nacken seiner Feinde, du wirst auf sie treten, um deine Herrschaft über sie anzuzeigen. So sagte auch der Herr Jesus Lk. 10,19 zu den Jüngern, als er ihnen die Verheißung gab, dass sie große Dinge ausrichten sollten: Sehet, ich habe euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione; d. h. ihr sollt alles überwinden können, was immer euch belästigen mag, seien es nun buchstäblich Schlangen und dergleichen sichtbare Übel, seien es geistige Mächte. Ähnlich versichert ja auch der Apostel die Gläubigen Röm. 16,20, Gott werde den Satan (die alte Schlange) unter ihre Füße treten in kurzem. Joseph Caryl † 1673.
V. 14. So will ich usw. Wie es in dem Rechtsgang des Gesetzes, bei dem Festsetzen des Todes als Folge der Sünde, ein Darum gibt, so auch in dem Rechtsgang der Gnade. Die Schlussfolgerung, welche das Evangelium zieht, ist die, dass eine verliehene Gnade das Recht auf weitere Gnade mit sich führe - Gnade um Gnade (Joh. 1,16). So wird an unserer Stelle darauf, dass der Gerechte an dem HERRN hängt (Grundtext) - und ist das nicht eine Wirkung der Gnade? - die Verheißung gebaut: so will ich ihm aushelfen. David Dickson † 1662.
Darum will ich ihn schützen, wörtl.: erhöhen, ich will ihn an einen erhabenen, für seine Widersacher unerreichbaren Ort stellen, so dass also die freie Übersetzung schützen den Sinn richtig wiedergibt. Wenn die Menschen Gott wirklich als Retter und Beschützer kennen, so setzen sie ihr Vertrauen auf ihn und rufen ihn an. Dann erhöht und errettet Gott die, welche ihn anrufen. Franciscus Vatablus † 1547.
Er kennet meinen Namen. Gewinnen wir nicht vielleicht Licht über diesen Ausdruck von der Sitte der Juden, den Namen Jehovah für sich zu behalten? Dieser Name war ihnen zu heilig, als dass sie ihn im täglichen Verkehr ausgesprochen hätten. So war er allein den Juden bekannt und wurde davor bewahrt, von den ringsum wohnenden Heiden missbraucht zu werden. Aber was immer der Ursprung solcher Ausdrücke wie "seinen Namen kennen" oder "auf seinen Namen hoffen", "an seinen Namen glauben" sein mag, stets bedeutet der Name Gottes das, was von Gott geoffenbart ist, alles, wodurch er sich kund macht. So ist denn Gottes Wort, Gottes Vorsehung und vor allem Gottes Sohn in dem Ausdruck eingeschlossen. Gottes Namen kennen heißt daher, Gott selber kennen, wie er sich im Evangelium geoffenbart hat. Mary B. M. Duncan † 1865.
V. 15. Ich bin bei ihm in der Not. Meine Lust, spricht er, ist bei den Menschenkindern. Immanuel, Gott mit uns. Gegrüßet seist du, Holdselige, sagt der Engel zu Maria, der HERR ist mit dir! Er ist bei uns in der Fülle der Gnade, wir sollen bei ihm sein in der Fülle der Herrlichkeit. Er neigt sich herab, um denen nahe zu sein, die betrübten Herzens sind, dass er bei uns sei in der Not. - Es ist mir besser, in der Not zu sein, HERR, wenn du nur bei mir bist, als ohne dich zu herrschen, ohne dich Feste zu feiern, ohne dich geehrt zu werden. Es ist besser, in der Not von deinen Armen umfangen zu sein, besser, dich im glühenden Ofen der Trübsal bei mir zu haben, als selbst im Himmel zu sein ohne dich. Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Im Schmelztiegel wird das Gold erprobt, und in der Anfechtung der Not bewährt sich der Gerechte. Bernhard von Clairvaux † 1153.
Gott hat seinen Heiligen zugesagt, sie in ihren Leiden seine Gegenwart besonders erfahren zu lassen. Haben wir einen solchen Freund, der uns im Kerker besucht, so wird es uns auch dort wohl sein; wechseln wir den Ort, wir wechseln doch nicht den Hüter: Ich bin bei ihm. Wird uns schwach, so wird Gott uns Kopf und Herz oben halten. Was macht es, ob wir mehr Trübsale haben als andere, wenn wir dabei Gottes Nähe mehr erfahren? Gott dem HERRN ist seine Ehre wert; es würde ihm aber nicht zur Ehre gereichen, wenn er seine Kinder in der Not stecken ließe. Er ist bei ihnen, ihnen zu helfen und sie zu unterstützen und zu ermuntern. Ja, ob auch immer neue Drangsale kommen, heißt es doch Hiob 5,19: Aus sechs Trübsalen wird er dich erretten usw. Thomas Watson 1660.
Gott spricht und handelt wie eine zärtliche Mutter. Wenn ihr Kind ganz gesund ist, so überlässt sie es wohl etwa der Magd; ist es aber krank, dann sagt sie zu der Magd: "Du kannst jetzt etwas anderes tun, ich will selbst das Kind nehmen." Sie hört den leisesten Laut ihres Kindes, fliegt zur Wiege, nimmt es in die Arme, küsst es zärtlich und spricht ihm liebevoll zu. So macht es der HERR auch mit seinen geplagten Kindern. Zu andern Zeiten kann er sie in der Hut der Engel lassen, V. 11, aber wenn sie in Not sind, so sagt er zu den Engeln: "Tretet zur Seite; ich will selber für sie sorgen" "Ich will bei ihm sein in der Not." Keine Mutter kann mehr Mitgefühl haben mit ihrem leidenden Kinde. Alle Liebe der ganzen Welt in einem Mutterherzen zusammengedrängt und auf ein einziges Kind gerichtet wäre im Vergleich mit der Liebe, die Gott für sein Volk hegt, immer noch nur wie das Glühwürmchen einer Juninacht im Vergleich zu der Sommer-Mittagssonne. Der HERR spricht zu seinem Volke: So du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein usw. (Jes. 43,2 f.) Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. (Jes. 66,13) Wenn sie in Krankheit schmachten, so schüttelt er ihnen das Kissen auf; wenn sie durchs dunkle Tal wandern, so setzt er sie in den Stand, zu singen: Ich fürchte kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. So ist er bei ihnen als ihr Arzt und ihre mütterliche Pflegerin in Schmerzen und Krankheit, als ihre Stärke in der Schwachheit, als ihr Führer auf schwierigen Wegen, als ihr Trost in Leiden und als ihr Leben im Sterben. Ich bin bei ihm in der Not. William Dawson † 1841.
V. 16. Ich will ihn sättigen mit langem Leben. Man beachte, wie hell diese Worte abstechen gegen die düstern Worte des vorhergehenden Psalms V. 9.10. Das Leben Israels in der Wüste ward verkürzt durch Ungehorsam. Der Gehorsam, den Christus in der Wüste bewies, hat uns eine herrliche Unsterblichkeit errungen. Christopher Wordsworth 1868.
Es liegt in den Worten, dass es dem Menschen natürlich ist, sich ein langes Leben zu wünschen, dass ein langes Leben als ein Segen zu betrachten ist (vergl. Spr. 3,2.16; 2. Mose 20,12), dass die Gottesfurcht das Leben verlängert und die Gesundheit fördert, dass aber bei alledem eine Zeit kommt, wo der Mensch des Lebens satt wird, so dass er, teils wegen der Gebrechen des Alters, teils weil er sich vereinsamt fühlt, vornehmlich aber unter dem Einfluss der herrlichen Hoffnung des Himmels von dem Eindruck beherrscht ist, dass es ihm besser sei, heimzugehen zu der bessern Welt. Dort wird ihm Gott die Fülle seines Heiles zeigen. Albert Barnes † 1870.
Die Worte verheißen eine wahrlich nicht gering zu schätzende Gabe Gottes. Gegen das Leben des Gerechten verschwören sich viele Feinde, sie sind bemüht, ihm das Lebenslicht so bald und so plötzlich wie möglich abzulöschen; aber ich will, verheißt der HERR, ihn so behüten, dass er ein gesegnetes Alter erreichen und, gesättigt an Jahren, selber verlangen wird, abzuscheiden. Giambattista Folengo † 1559.
Das Heil Jehovahs ist wie Ps. 50,23 die volle Wirklichkeit des göttlichen Gnadenratschlusses. Die endzeitige Herrlichkeit zu erleben, war der Wonnegedanke der israelitischen und in der apostolischen Zeit auch der christlichen Hoffnung. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
Hiermit ist unser Psalm an seinem Ende angelangt. Die verschiedenen Situationen, die uns in demselben vor Augen gestellt werden, das Entrinnen aus den Schlingen des Nachstellers, das Wüten einer verderblichen Seuche, die einherfliegenden Pfeile von angreifenden Völkerscharen, die Hinweisung auf Unglückskatastrophen, welche Tausende dahinrafften, das Wohnen in Zelten, die Löwen und Schlangen, sowie die Anspielung auf die Steine in unwegsamen Einöden, - alles dies lässt uns vermuten, dass auch dieser Psalm vielleicht schon zu der Zeit des Zuges Israels durch die Wüste gedichtet wurde und wahrscheinlich eben deshalb von der Redaktion der letzten beiden Psalmbücher so unmittelbar hinter den Psalm Mosis gesetzt worden ist. Zeigt er uns doch in schönem Gegensatze zu der Klage Mosis über das Dahinschwinden seiner sündigen, gegen Gott murrenden Zeitgenossen unter diesen einen Glaubensmann, der mit seinem Herzen trotz aller Mühsale und Gefahren, die der Wüstenzug mit sich brachte, ohne zu wanken an Gott und dem Vertrauen auf dessen Zusagen festhielt, und der auch von Gott, dessen Vorsehung über die Seinigen oft in gar wunderbarer Weise waltet, in diesem seinem Vertrauen nicht getäuscht wurde. Vergl. Lk. 10,19; Hebr. 11,33 ff. Lic. H.V. Andrea 1885.
Homiletische Winke
V. 1. | 1) Die verborgene Wohnstätte. Man kann wohnen in der argen Welt, im gelobten Lande, in der Heiligen Stadt, im äußern Vorhof; das große Vorrecht des Gläubigen aber ist es, unmittelbar im Schirme Gottes, im Allerheiligsten, zu wohnen, wo man die innigste Gemeinschaft, Kindesrecht usw. genießt. 2) Der schützende Schatten; er bietet Sicherung, Erquickung usw. Wie die Weiler in alter Zeit, sicher geborgen unter den starken Burgmauern. Charles A. Davis 1874. 1) Von wem die Rede ist. Von einem, der mit Gott in persönlicher, inniger, verborgener, beständiger Gemeinschaft steht, der sich nahe dem Gnadenstuhl und innerhalb des Vorhangs aufhält. 2) Was von solchem ausgesagt wird. Er ist Gottes Gast und wird von ihm behütet und erquickt in Zeit und Ewigkeit. |
V. 1.2. | Vier Namen Gottes. 1) Wir nahen Gott ehrfurchtsvoll, denn er ist der Höchste. 2) Wir ruhen in ihm als dem Allmächtigen. 3) Wir freuen uns in ihm als in Jehovah. 4) Wir vertrauen auf ihn als auf El, den Starken. |
V. 2. | 1) Was Gott ist: eine Zuversicht in der Not, eine Burg in der Drangsal, Gott zu allen Zeiten. 2) Wie der Glaube sich dies zu eigen macht: Ich spreche zu dem HERRN: Meine Zuversicht, meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. George Rogers 1874. Die Vortrefflichkeit, Vernunftgemäßheit und Kraft des persönlichen Glaubens und dessen öffentlichen Bekenntnisses. |
V. 3. | Was dem Gläubigen dargeboten wird: unsichtbarer Schutz gegen unerkannte Gefahren, Weisheit zum Abwehren der List, Liebe als Waffe gegen Grausamkeit, allgegenwärtige Macht zum Besiegen der unheimlichen Mächte, Leben zum Überwinden des Todes. |
V. 4. | 1) Gottes zärtliche Fürsorge. 2) Die Zuversicht der Gläubigen. 3) Die Waffenrüstung der Wahrheit. |
V. 5.6. | 1) Alle Menschen sind zur Furcht geneigt, und zwar beständig, Tag und Nacht, und verdientermaßen, denn das böse Gewissen macht uns feige. 2) Doch gibt es Menschen, die von der Furcht frei werden, indem sie unter Gottes Schutz stehen und auf ihn trauen. |
V. 7. | Wie ein Übel uns ganz nahe und doch ferne von uns sein kann. |
V. 8. | Was wir tatsächlich davon geschaut haben, wie den Gottlosen vergolten wird. |
V. 9.10. | 1) Gott ist unsre geistliche Wohnstätte. 2) Er ist auch der Hüter unserer irdischen Hütte. 3) Allgemeine Wahrheit: Das Geistliche bringt auch für das Zeitliche Segen. |
V. 10. | 1) Segen für die eigene Person. 2) Segen für das Haus. 3) Die Verbindung zwischen beiden. |
V. 11.12. | Berichtigung eines verdrehten Schriftworts. 1) Wie der Teufel die Verheißung benutzt: in Vermessenheit. 2) Wie der Heilige Geist sie gebraucht: im echten Gottvertrauen. Charles A. Davis 1874. Der Dienst der Engel. 1) Von Gott angeordnet. a) Von ihm befohlen, b) zum Besten bestimmter Personen, c) auf allen ihren gottgewollten Wegen. 2) Von den Menschen genossen, a) in zartem aber sicherem Schutz, doch b) unter gewissen Beschränkungen, denn die Engel können Gottes Arbeit, Christi Werk, des Geistes Walten, des Wortes Dienst, der Prediger Zeugnis zur Rettung der Seelen nicht ausrichten; sie sind nur dienstbare Geister. George Rogers |
V. 12. | Die Bewahrung vor anscheinend kleineren Übeln ist von hoher Wichtigkeit, weil solche oft gerade sehr lästig sind, nicht selten zu größeren Übeln führen und leicht großen Schaden anrichten. |
V. 13. | 1) Jedes Gotteskind hat seine Feinde. a) Diese sind zahlreich (Löwe, Otter, junger Löwe, Drache). b) Sie sind verschiedenartig (mächtig und listig: Löwe und Otter; jung und alt: junge Löwen und Drachen). c) Der Gläubige behält zuletzt den Sieg über sie alle. (Du wirst gehen auf usw.) George Rogers |
V. 14. | Wie der Gläubige an Gott hängt (Grundtext) in Liebe und Vertrauen. 1) Liebe um Liebe. a) Die Heiligen hangen liebend an Gott. Allererst liebt Gott sie, ohne dass sie ihn lieben, dann aber liebt er sie, weil sie ihn lieben. b) Der Beweis dieser gegenseitigen Liebe: sie begehren Gottes, und er hilft ihnen aus, und zwar aus Sünde, Versuchung, Gefahr und allem Übel. 2) Ehre um Ehre. a) Der Gläubige ehrt Gott. Er kennet meinen Namen. b) Gott ehrt den Gläubigen, indem er ihn zu sicherem, freiem und herrlichem Stande erhöht. |
V. 15.16. | 1) Man beachte die überaus großen und köstlichen Verheißungen. a) Gebetserhörung, b) Trost in Not, c) Rettung aus Gefahren, d) Erhöhung nach der Trübsal, e) Sättigung mit langem Leben, f) ewige Beseligung. 2) Man beachte, wem diese Verheißungen gelten. Vergl. außer V. 15a noch V. 14, V. 9 und V. 1. Hannah More sagt einmal: Verheißungen verkündigen, ohne diejenigen zu bezeichnen, welchen sie gehören, das ist, wie wenn man einen Brief ohne Adresse in den Briefkasten wirft. Ein Wechsel mag auf einen noch so hohen Betrag lauten und, was denjenigen betrifft, auf welchen er gezogen ist, noch so gut sein - wenn man nicht ersehen kann, an wen er zahlbar ist, so gilt er doch nichts. Alle Verheißungen der Schrift sind deutlich an die gerichtet, welchen sie gehören. Auch die Adresse der Verheißungen dieses Psalms ist unverkennbar deutlich und mehrmals wiederholt. |