Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 58 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Dies ist der vierte Psalm, der überschrieben ist: Ein gülden Kleinod Davids, und der zweite, bei dem wir lesen: Verderbe nicht. Wenn wir die Bedeutung dieser Überschriften auch in den meisten Fällen nicht mehr sicher ermitteln können, so unterstützen sie doch wenigstens unser Gedächtnis. Vorzusingen. Wiewohl David in den meisten seiner Psalmen zunächst seine eigenen Umstände im Auge hatte, schrieb er doch nicht als Privatmann, sondern als inspirierter Gottesmann. Deshalb war auch dies Lied zur dauernden öffentlichen Verwendung im Tempelgottesdienst bestimmt.

Einteilung. Der Dichter klagt die gottlosen Widersacher an, V. 2-6, wünscht das Gericht über sie herbei, V. 7-9, und sieht es mit prophetischem Blick bereits ausgeführt, V. 10-12.


Auslegung

2. Seid ihr denn stumm, dass ihr nicht reden wollt, was recht ist,
und richten, was gleich ist, ihr Menschenkinder?
3. Ja, mutwillig tut ihr Unrecht im Lande
und gehet stracks durch, mit euren Händen zu freveln.
4. Die Gottlosen sind verkehret von Mutterschoß an,
die Lügner irren von Mutterleib an.
5. Ihr Wüten ist gleich wie das Wüten einer Schlange,
wie eine taube Otter, die ihr Ohr zustopft,
6. dass sie nicht höre die Stimme des Zauberers,
des Beschwörers, der wohl beschwören kann.


2. Redet ihr wirklich, was recht ist? Mit dieser Frage redet der so arg angefeindete und verleumdete Knecht des HERRN seinen Widersachern ins Gewissen. Der Grundtext enthält aber noch ein in diesem Zusammenhang schwer verständliches Wort, das von den älteren Auslegern ziemlich allgemein als Anrede an die Schar1 oder Rotte der Feinde Davids aufgefasst wurde. Die Gesinnungsgenossen und Anhänger Sauls waren in der Tat eine zahlreiche, in ihrem Hass gegen den Sohn Isais einige Rotte, und weil unter ihnen in der Verdammung des von dem Zorn des Königs Betroffenen solche Einstimmigkeit herrschte, waren sie sehr geneigt, es für eine ausgemachte Sache zu halten, dass ihr Urteilsspruch recht sein müsse. "Was alle Welt sagt, muss wahr sein," ist ein landläufiges lügnerisches Sprichwort, das sich auf die Anmaßung gründet, die sich da einstellt, wo man die große Masse und die Mächtigen auf seiner Seite hat. "Sind wir nicht alle übereingekommen, den Mann zu Tode zu hetzen? Wer darf es sich herausnehmen, anzudeuten, dass so viele angesehene und mächtige Leute irren könnten?" Dennoch legt der arme so verfolgte Mann die Axt an die Wurzel, indem er diejenigen, welche über ihn aburteilen, auffordert, die Frage zu beantworten, ob sie wirklich der Gerechtigkeit gemäß handelten oder nicht. Wahrlich, es wäre gut, wenn die Leute manchmal innehalten und diese Frage ernstlich und aufrichtig erwägen wollten. - Dem Grundtext eher entsprechend ist die Übersetzung: Ob ihr wirklich in Verstummung Gerechtigkeit redet? Es waren in der Umgebung Sauls wohl etliche, die sich zwar nicht tätlich an der Verfolgung Davids beteiligten, aber dennoch mitschuldig waren, indem sie stumm blieben, wenn das Opfer des Hasses und Neides des Königs verleumdet und geschmäht wurde. Diesen gilt demnach der Vorwurf unseres Verses. Es gibt Lagen, wo schweigen so viel ist wie zustimmen. Wer es unterlässt, das Recht zu verteidigen, macht sich des Unrechts schuldig. Richtet ihr, was gleich ist, ihr Menschenkinder? (Grundtext2 Auch ihr seid nur Menschen, ob ihr auch mit Gewalt bekleidet seid; eure Macht ist gering und von kurzer Dauer. Beides, das Amt, das ihr zum Besten eurer Mitmenschen verwalten sollt, und eure Naturverbindung mit den Menschen, verpflichtet euch zur Rechtschaffenheit und Billigkeit. Aber seid ihr des eingedenk gewesen? Habt ihr nicht vielmehr alle Gerechtigkeit beiseite gesetzt, da ihr den Gottseligen verurteiltet und euch zur Vernichtung des Unschuldigen zusammenschlosset? Aber seid nicht zu sicher, dass euch euer frevles Tun gelingen werde, denn ihr seid nur Menschenkinder, und es gibt einen Gott, der euer Urteil umstoßen wird.

3. Vielmehr bereitet3 ihr im Herzen Freveltaten. (Grundtext) Tief drinnen im Verborgenen eurer Herzen haltet ihr eine Probe ab von den Schurkenstreichen, die ihr auszuführen beabsichtigt; so könnt ihr dann, wenn die gelegene Stunde kommt, mit Anstand und Geschmack eure wohleinstudierte Rolle spielen. Euer Herz ist bei dem Werk, darum sind eure Hände ganz bereit. Ebendieselben Männer, die auf dem Richterstuhl saßen und sich über die Fehler, die sie selber dem Opfer ihrer Rachgier angedichtet hatten, so entrüstet stellten, verübten in ihren Herzen alle nur denkbaren Freveltaten. Im Lande wägt ihr Gewalttat eurer Hände dar. (Grundtext) Statt als gerechte Richter Gesetz und Recht sorgfältig zu prüfen, die Belastungs- und Entlastungsgründe gegeneinander abzuschätzen und die Sache genau auf der Waagschale der Gerechtigkeit zu wägen, wogen sie Ungerechtigkeit und Gewalttat statt des Rechtes dar, und das mit der größten Kaltblütigkeit, mit vorbedachter Bosheit. Man beachte, wie unser Vers diese Männer als solche beschreibt, die mit Herz und Hand sündigten. Sie verübten Frevel im Verborgenen ihres Herzens und in der vollen Öffentlichkeit, und es war in ihnen Tatkraft mit Bedachtsamkeit vereint. Da sehen wir, mit was für einem Geschlecht die Knechte des HERRN es zu tun haben! Solcherart waren die Feinde Jesu, ein Otterngezücht, ein böses und ehebrecherisches Geschlecht. Sie suchten ihn zu töten, weil er die Gerechtigkeit selber war; dennoch verhüllten sie diesen ihren Hass gegen seine Heiligkeit damit, dass sie ihn todeswürdiger Frevel beschuldigten.

4. Die Gottlosen sind abtrünnig (Grundtext) von Mutterschoß an. Es braucht uns nicht zu wundern, dass etliche Menschen den gerechten Weibessamen verfolgen, da sie alle von dem Samen der Schlange sind und zwischen diesem und dem Weibessamen ewige Feindschaft besteht. Kaum geboren und schon von Gott entfremdet und abtrünnig - welches Verderben enthüllt dieses Urteil! Verlassen wir so früh schon den rechten Pfad? Beginnen wir im nämlichen Augenblick Menschen und Sünder zu sein? Die Lügner irren von Mutterleib an. Wer Kinder beobachtet, kann es gewahr werden, wie früh schon sich bei ihnen der Lügengeist zeigt. Noch ehe sie sprechen können, üben sie kleine Täuschungskünste aus. Das ist besonders bei solchen der Fall, die sich im späteren Leben als Meister in der Kunst des Lügens und Verleumdens erweisen. Sie beginnen ihr böses Geschäft in früher Jugend; da ist’s kein Wunder, dass sie darin wohlgeübt werden. Wer früh am Morgen aufbricht, kommt bis zum Abend weit. Die Unaufrichtigkeit ist eines der sichersten Kennzeichen der gefallenen Natur, und die Allgemeinheit der Falschheit erweist demnach die Allgemeinheit der menschlichen Verderbnis.

5. Gift haben sie gleich dem Gift einer Schlange. (Grundtext) Gehört der Mensch zu den giftigen Reptilien? Jawohl, und sein Gift ist tödlich wie Schlangengift. Und zwar kann die Natter mit ihren Giftzähnen nur den Leib ihres Opfers töten, der unwiedergeborene Mensch aber trägt ein Gift auf der Zunge, das die Seele zerstört. Wie eine taube Otter, die ihr Ohr zustopft. Da der Dichter von den Schlangen redet, gedenkt er des, dass sich so viele dieser Tiere durch die Kunst der Beschwörer zähmen lassen, dass aber Menschen wie die, mit welchen er es zu tun hat, keine Kunst und Mühe zähmen oder bezwingen könne. Darum vergleicht er diese verstockten Frevler mit einer Schlange, die nicht wie andere ihres Geschlechts für die Musik des Zauberers empfänglich ist. Sie weigern sich, auf vernünftige Gründe zu hören, wie eine taube, d. i. eine nicht hören wollende Otter, die ihr Ohr vor den Zaubersprüchen verschließt, von denen sich andere ihresgleichen hinreißen lassen. Es ist, als habe der Mensch in seiner angeborenen Verderbnis alle bösen Eigenschaften der Schlange ohne ihre Vorzüge an sich. O Sünde, was hast du angerichtet!

6. Dass sie nicht höre die Stimme des Zauberers, des Beschwörers, der wohl beschwören kann. Menschen, die nichts von Gott und der Wahrheit wissen wollen, lassen sich nicht für das Gute gewinnen, weder durch die stärksten Vernunftgründe noch durch die herzbeweglichsten Worte mahnender und lockender Liebe. Wendet alle eure Kunst auf, ihr Verkündiger des göttlichen Worts! Müht euch aufs äußerste, den Vorurteilen der Gottlosen entgegenzukommen und eure Worte so anziehend wie möglich zu machen! Ihr werdet dennoch klagen müssen: Wer glaubt unserer Predigt? Eure Musik ist wohl süß; nicht an ihr, sondern an dem Ohr des Sünders liegt der Fehler, dass all euer Locken und Laden erfolglos ist, und nur Gottes Macht kann diese Taubheit des geistlichen Ohres hinwegtun. Wir rufen und rufen, und rufen ganz vergeblich, bis sich des HERRN Arm offenbart. Diese Taubheit ist zugleich des Sünders Schuld und seine große Gefahr. Er sollte hören, aber er will nicht, und weil er nicht hören will, kann er der höllischen Verdammnis nicht entfliehen.


7. Gott, zerbrich ihre Zähne in ihrem Maul;
zerstoße, HERR, das Gebiss der jungen Löwen!
8. Sie werden zergehen wie Wasser, das dahinfleußt.
Sie zielen mit ihren Pfeilen; aber dieselben zerbrechen.
9. Sie vergehen, wie eine Schnecke verschmachtet;
wie eine unzeitige Geburt eines Weibes sehen sie die Sonne nicht.


7. Gott, zerbrich ihre Zähne in ihrem Maul. Haben sie keine Fähigkeit zum Guten, so nimm ihnen wenigstens das Vermögen Unheil zu stiften. Mache es mit ihnen wie die Schlangenbeschwörer mit den Schlangen: brich ihnen die Giftzähne aus. Der HERR kann das tun und wird es tun. Er wird die Bosheit der Gottlosen nicht triumphieren lassen, sondern ihnen einen Schlag versetzen, der ihnen alle Macht raubt Böses anzurichten. Zerstoße, HERR, das Gebiss der jungen Löwen. Als ob ein wildes Tier nicht Böses genug an sich hätte, um das Bild der Gottlosen darzustellen, zieht der Dichter noch ein anderes zur Vervollständigung des Bildes herbei. An blutdürstiger Grausamkeit gleichen die Ruchlosen einem in voller Jugendkraft stehenden Löwen, dem Bild der ungeheuerlichen Stärke und der wildesten Raubgier, und die Bitte geht dahin, dass die Beißer, ihre schrecklichen Zähne, ihnen zertrümmert oder herausgeschlagen werden möchten, damit sie fortan harmlose Geschöpfe seien. Man kann es gut verstehen, dass der in die Acht erklärte Sohn Isais unter den Leiden und Mühsalen, welche ihm die Verleumdung und Gewalttätigkeit seiner Feinde bereitete, Gott dringend bat, ihn doch schnell und völlig von seinen Feinden zu befreien.

8. Sie müssen zergehen wie Wasser, die sich verlaufen. (Grundtext4 Lass sie zerrinnen und verschwinden wie Gebirgsbäche, die von Regengüssen anschwellen, aber bald wieder vertrocknen vor der Sommerhitze und sich im Sande verlaufen. Weg mit euch, ihr schmutzigen Wasser; je eher ihr verschwindet und vergessen werdet, desto besser! Spannt er seine Pfeile, so seien sie (die Frevler) als wie zerschnitten. So fasst die engl. Bibel nach alten Übersetzern die Stelle auf.5 Wenn der HERR wider die Verfolger der Seinen in den Kampf zieht, so mögen seine Gerichte sich an ihnen so schrecklich erweisen, dass sie von seinen Pfeilen wie zerschnitten dahinsinken. Andere Ausleger meinen mit Luther, es sei hier von den Pfeilen der Frevler die Rede, dass diesen die Spitze abgebrochen werden solle, so dass die prahlerischen Widersacher des Volkes Gottes es mit Wut innewerden müssen, dass sie nichts haben, womit sie die Frommen verletzen und vertilgen können. In beiderlei Sinn ist der Vers oft zur Tatsache geworden, und er wird sich je und je wieder erfüllen, sooft die Notwendigkeit eintritt.

9. (Sie müssen sein) wie eine Schnecke, die zerfließend dahingeht. (Grundtext) Wie die Erdschnecke sich mit ihrem eigenen Schleim den Weg macht, auf dem sie dahingleitet, und sich so im Kriechen gleichsam auflöst, so müssen die Gottlosen ihre eigene Kraft verzehren, während sie ihre boshaften Pläne verfolgen, und werden, statt die Auserwählten Gottes vertilgen zu können, sich selber vernichten. Sich selber aufzureiben durch Neid und Grimm über die Vereitlung ihrer Pläne ist das Los derer, die auf Schlechtes sinnen. Wie eine frühzeitige Geburt eines Weibes, die die Sonne nicht siehet.6 Diese Verwünschung ist sehr ernster Art; aber wie offenkundig geht sie an so manchen verworfenen Menschen in Erfüllung! Sie sind, als wären sie nie gewesen. Ihr Charakter ist missgestaltet, abscheulich, ekelhaft. Es schickt sich nicht, sie zu den Menschen zu rechnen; das Beste, was mit ihnen geschehen kann, ist, dass sie an irgendeinem unbekannten, ungenannten Ort verscharrt werden. Ihr Leben kommt nie zur Reife, ihre sämtlichen Pläne sind, wie sie selber, Fehlgeburten; das einzige, was sie wirklich zustande bringen, ist, dass sie andern Unheil und sich selber ein schreckliches Ende bereiten. Wäre es für Männer wie Herodes, Judas, den Herzog Alba oder den Bischof Bonner7 nicht besser gewesen, sie wären nie geboren worden, nicht besser auch für die Mütter, die sie getragen haben, besser für die Länder, die sie gepeinigt haben, besser für die Erde, die ihre verwesten Leichname vor der Sonne birgt? Jeder ohne Gott dahinlebende Mensch ist eine Fehlgeburt. Es fehlt ihm das wahre, Gott ebenbildliche Menschenwesen. Er verdirbt in der Finsternis der Sünde. Er sieht das Licht Gottes nicht und wird es nie sehen; denn um das Licht zu sehen, muss man Lichtesnatur in sich haben.


10. Ehe eure Dornen reif werden am Dornstrauch,.
wird sie ein Zorn so frisch wegreißen.
11. Der Gerechte wird sich freuen, wenn er solche Rache siehet,
und wird seine Füße baden in des Gottlosen Blut,
12. dass die Leute werden sagen: Der Gerechte wird ja seiner Frucht genießen;
es ist ja noch Gott Richter auf Erden.


10. Ehe noch eure Kochtöpfe den Dorn (d. h. das Dornfeuer) merken, stürmt er es, wie das Rohe so die Glut, hinweg. (Grundtext) So plötzlich kommt die Vernichtung über die Gottlosen, so verfehlt ist ihr ganzes Leben, dass sie nie Freude genießen. Ihr Topf, in dem sie sich eine leckere Speise bereiten, ist an den Feuerhaken gehängt, und das Feuer ist darunter angemacht; aber ehe noch die Dornen dem Topf Hitze mitteilen können, ja ehe noch das Feuer zum Kessel aufflammen kann, fährt ein Sturmwind daher und fegt alles hinweg. Der Topf wird umgestürzt und das noch rohe Fleisch wird verschüttet und die Feuersglut weit und breit zerstreut. Die Stelle ist schwierig; aber wenn die Übersetzungen im Einzelnen auch weit auseinandergehen, ist der allgemeine Sinn doch wohl der, dass die Gottlosen ihre Anschläge wider die Gerechten zwar mit allem Eifer betreiben, aber plötzlich damit zuschanden werden, indem Gott eingreift, unsichtbar, aber wirksam wie ein Sturmwind.

11. Der Gerechte wird sich freuen, wenn er solche Rache siehet. Er selber wird seine Hand nicht dabei im Spiel haben; nicht er, sondern ein anderer wird Rache üben. So wird der Gerechte sich auch nicht im Geist der Rachsucht, nicht mit hämischer Schadenfreude über das Verderben der Gottlosen freuen; wohl aber wird seine gerechte Seele zu Gottes Gerichten Amen sagen und über den Sieg der Gerechtigkeit frohlocken. Wir finden in der Schrift nichts von jener Sympathie mit Gottes Feinden, mit welcher in unseren Tagen so manche prunken, als wäre sie die höchste Stufe der Tugend, während sie damit doch an der Sache der Wahrheit Verrat üben. Und wird seine Füße baden in des Gottlosen Blut. Das Blut der Erschlagenen des HERRN wird in Strömen fließen, ein schreckliches Gericht wird über die Gottlosen hereinbrechen; denn nicht anders können die Gerechten zur vollen Freiheit kommen. Und eben darum, weil das Gericht über die Gottlosen die Kehrseite der glorreichen Erlösung des Volkes Gottes ist, wird es die Seligkeit der Heiligen nicht hindern und stören können, sondern diese werden darüber frohlocken.

12. So dass die Leute werden sagen. Jedermann, auch der einfältigste und unwissendste Mensch, wird innerlich genötigt sein, zu bekennen: Ja, wahrhaftig, Frucht, d. h. Lohn, wird dem Gerechten zuteil. (Wörtl.) Wenn eins gewiss ist, dann dies. Die Frommen sind doch nicht, wie es einst schien, verlassen und ihren Feinden preisgegeben; die Gottlosen ziehen doch zuletzt den Kürzeren, und Wahrhaftigkeit und Biederkeit bekommen doch auf die Dauer ihren Lohn. Ja, es gibt einen Gott, der auf Erden richtet. Alle Menschen werden angesichts des Gerichts, das über die Verfolger der Heiligen ergeht, genötigt sein zu erkennen, dass es einen Gott gibt und dass er der gerechte Lenker der Geschicke ist. Es wird sich am Ende klar herausstellen, dass Gott gerecht ist und dass die Gerechten die Frucht ihrer Gerechtigkeit genießen werden. Die Zeit wird alle Zweifel zerstreuen und alle Rätsel lösen; das helle, weit hinaussehende Auge des Glaubens aber erkennt die Wahrheit schon jetzt und freut sich ihrer.


Erläuterungen und Kernworte

V. 2. Daraus sehen und lernen wir, dass die verfolgten Christen bei weltlichen und geistlichen Gerichten, da falsche Lehre im Schwange geht, kein Gehör und keine Hilfe haben. Wenn man da erkennen und sprechen soll, so ist man stumm; wenn die Sache auch noch so gut ist, so will doch niemand das Maul auftun und ein gutes Wort dazu verleihen. Darüber fragt sie der Heilige Geist durch den Mund Davids, ob das recht sei, nämlich wider die Gerechtigkeit und Wahrheit reden. Johann Arnd † 1621.


V. 3. Vielmehr bereitet ihr im Herzen Freveltaten usw. (Grundtext) Der Psalmdichter sagt nicht nur, dass sie Frevel im Herzen haben, sondern dass sie sie da bereiten. Das Herz ist eine geheime Werkstatt, in der schmieden und hämmern und feilen sie ihre gottlosen Anschläge zurecht. Das nächste: Ihr wäget im Lande Gewalttat eurer Hände dar (Grundtext) lässt uns an Handelsleute denken, die ihre Ware nach dem Gewicht verkaufen. Sie schlagen ihre Ware nicht in Bausch und Bogen los, sondern messen sie in Lot und Quäntchen aus, nach genauem Gewicht; sie üben die Unterdrückung nicht in grober Weise, sondern mit Überlegung und Gewandtheit; sie setzen sich hin und überlegen sorgfältig, welcherlei Gewalttätigkeit und wieviel sie in jedem einzelnen Falle anwenden dürfen, wieviel die betreffende Person oder die betreffende Zeit ertragen möge. Sie sind zu klug, als dass sie alle ihre Frevel auf einmal oder an einer Person auslassen würden; sie könnten dadurch alle ihre Pläne verderben. Sie wägen alles, was sie tun, wiewohl es alles so schlecht ist, dass es weniger denn nichts wiegen wird, wenn Gott es auf eine Waagschale legen wird. Zu solcher Geschicklichkeit kommen sie nicht alsbald, sondern erst, nachdem sie eine Lehre darin durchgemacht haben; aber sie gehen sehr früh dahinter, wie der folgende Vers sagt. Sie fangen in frühester Jugend an - von Mutterschoß an sind sie abtrünnig und üben sich im Lügen und Freveln und Unterdrücken. Joseph Caryl † 1673.
  Die Grundsätze der Gottlosen sind noch schlechter als ihre Handlungen: vorbedachte Frevel sind doppelt strafbar. George Rogers 1870.


V. 4. Wie früh fangen die Menschen zu sündigen an, wie spät tun sie Buße! Sie sind abtrünnig und irren von Mutterschoß an; aber wenn sie sich selber überlassen blieben, würden sie nicht umkehren bis zum Tode, ja niemals. Ehe die Kinder zu sprechen und zu gehen vermögen, können sie doch schon irregehen und täuschen. Joseph Caryl 1673.


V. 4.5. Die jüngste Schlange kann schon Gift spritzen, und wenn der Biss eines erst wenige Tage alten Tieres auch selten tödlich ist, so verursacht er doch auf alle Fälle heftige Schmerzen. Halt einen Stock in die Nähe einer solchen winzigen Schlange, sie wird sofort danach schießen. Die Nachkommen des Tigers und des Alligators zeigen ebenfalls schon von ihren ersten Tagen an ihre mordgierige Art. Joseph Roberts 1844.


V. 5. Tief bedeutsam ist die Vergleichung der Gottlosen und Lügner mit den Schlangen, deren Gestalt und Art das urälteste Symbol des Lügners von Anfang ist. Man vergleiche auch im Neuen Testament, im Munde dessen, der "wohl beschwören konnte", das o}feij, gennh/mata e)cidnw=n (Mt. 23,33) mit Stellen wie Joh. 8,44. Die Einheit solcher Symbolik zieht sich durch die ganze Schrift. Allgemeiner Sinn des Bildes: Auch gegen die geschickteste, kräftigste Lehre und Ermahnung verhärtet sich unempfindlich die Bosheit der Unverbesserlichen; am Widerstand gegen die Gnade, welche unsere Schlangennatur kräftig beschwört, vollendet sich das angeborene Verderben zum unheilbaren, das nur ins Gericht fällt. Rudolf Stier 1836.
  Gift. (Grundtext) Es gibt ja Gift in der Welt; aber wo es auch sein mag, wer wollte es im Menschen suchen? Gott hauchte dem Menschen seinen Geist ein, nicht Gift. Er nährt ihn mit Brot; darin ist kein Gift. Woher kommt denn das Gift in ihn? "Das hat der Feind getan." Die alte Schlange hat es ihm ins Herz gezaubert. Sünde ist Gift, und dies Gift entwickelt sich nach und nach zu immer stärkerer Macht im Menschen. Thomas Adams 1614.
  Wie eine taube Otter. Alle Schlangenarten haben ein mangelhaftes Gehör, weil sie keine Paukenhöhle und keine Ohrmuschel haben. Unter der tauben Otter ist nicht eine besondere Art zu verstehen (wie viele vermutet haben), sondern es ist von einer Schlange die Rede, die wohl in einem gewissen Grade hören könnte, aber nicht hören will; gerade wie die ungerechten Richter und Verfolger Davids solche Vorhaltungen wie die in V. 2.3 ausgesprochenen wohl mit dem äußeren Ohr hörten und doch nicht hörten. In der Regel kann der Schlangenbeschwörer die Schlange mit schrillen Tönen, sei es der menschlichen Stimme, sei es der Flöte, bezaubern; es kommt aber ausnahmsweise auch vor, dass eine Schlange aller Einwirkung der Musik widersteht. Vergl. Jer. 8,17; Pred. 10,11. A. R. Fausset 1866.
  So geschickt die Schlangenbeschwörer sind, gehen sie doch nicht immer ungestraft aus, sondern die Schaustellungen nehmen hie und da einen unglücklichen Ausgang; denn es gibt noch immer taube Ottern, die nicht hören auf die Stimme des Zauberers, ob er auch noch so geschickt beschwören kann. So erzählt Joseph Roberts (1844) von einem Manne, der in das Haus eines Europäers gekommen sei, um gezähmte Schlangen zu zeigen, und gefragt worden sei, ob er eine Brillenschlange, welche in einem Behälter gefangen gehalten wurde, beschwören könne. Auf seine bejahende Antwort sei die Schlange freigelassen worden. Der Mann habe seine Zeremonien begonnen und seine Zaubersprüche und -töne immer aufs Neue hören lassen; aber die Schlange, die offenbar sehr erregt gewesen, sei auf ihn losgefahren und habe sich an seinen Arm geheftet, und vor Abend sei der unglückliche Beschwörer eine Leiche gewesen. Ph. H. Gosse 1861.
  Eines Tages kam eine Klapperschlange in unser Lager. Es befand sich unter uns ein Kanadier, der die Flöte spielen konnte. Um uns zu unterhalten, ging er mit dieser seltsamen Waffe auf die Schlange zu. Wie das Tier seinen Gegner herankommen sieht, richtet es sich in einer Spirallinie in die Höhe, macht den Kopf breit, bläst die Backen auf, zieht die Lippen zusammen und zeigt die Giftzähne in dem weit geöffneten Rachen; die gespaltene Zunge züngelt wie zwei Feuerflammen, die Augen brennen wie glühende Kohlen, der vor Wut geschwollene Leib geht auf und nieder wie der Blasebalg einer Schmiede, die stark gespannte Haut nimmt ein mattes Aussehen an, die Schuppen werden einzeln sichtbar, und die Schwanzspitze, welche den todverkündenden Lärm hervorbringt, bewegt sich mit solcher Schnelligkeit, dass man die einzelnen Bewegungen nicht mehr unterscheiden kann. Der Kanadier fängt an, auf der Flöte zu spielen - die Schlange stutzt und zieht ihren Kopf zurück. Je mehr die Zaubertöne auf sie einwirken, verlieren die Augen ihre Wildheit, die Schwingungen des Schwanzes werden langsamer, das Klappern wird schwächer und hört allmählich ganz auf. Schon steht sie nicht mehr so senkrecht auf der Spirale, die Ringe werden nach und nach immer weiter und sinken einer nach dem andere in konzentrischen Kreisen auf die Erde. Die Schattierungen von Blau, Grün, Weiß und Gold treten wieder in ihrem ganzen Glanze auf der Haut hervor, und die Schlange verharrt nun unbeweglich in derselben Stellung, nur den Kopf ein wenig hin und her wendend; sie ist offenbar ganz durch die Musik gefesselt und hat an ihr Wohlgefallen. Nun geht der Kanadier einige Schritte vor, während er seiner Flöte einfache, aber einschmeichelnde Töne entlockt. Die. Schlange neigt ihren buntscheckigen Nacken, bahnt sich mit dem Kopf einen Weg durch das hohe Gras und fängt an, ihrem Beschwörer nachzukriechen; steht er still, so macht auch sie Halt, folgt ihm aber alsbald wieder nach, wenn er vorwärts geht. So führt er die Schlange allmählich aus dem Lager hinaus unter Begleitung einer großen Menge von Zuschauern, sowohl Eingeborenen als Europäern, die ihren Augen kaum trauen, da sie diese Wirkung melodischer Töne aus die Schlange wahrnehmen. François René Vicomte de Chateaubriand † 1848.


V. 8. Mögen sie zerfließen wie Wasser, die sich verlaufen. Auf Reisen in öden Gegenden Afrikas hat es uns stets hoch erfreut, wenn wir auf einen Bach stießen, zumal wenn dieser in der Richtung unserer Reise floss und wir somit hoffen konnten, er werde sich als ein schätzenswerter Begleiter erweisen. Aber vielleicht hatten wir sein Geleit noch kaum eine halbe Stunde genossen, als er schon wieder verschwand, indem sich das Wasser im Sand verlief. Eine halbe Stunde weiter kam er vielleicht wieder hervor und belebte die Hoffnung aufs Neue, dass wir uns dauernd sein erfreuen dürften; aber etliche hundert Schritt weiter verlor er sich wieder im Sand, und zwar nun endgültig, auf Nimmerwiedersehen. John Campbell † 1840.


V. 9. Wie eine Schnecke, die in Zerfließung (Auflösung) dahinkriecht (wörtl.), d. h. sich, während sie kriecht, auflöst. Es wird damit auf den schleimigen Pfad gedeutet, den die Schnecke hinter sich zurücklässt, so dass sie sich beim Kriechen aufzulösen scheint. Offenbar ist dies nur eine dichterische Hyperbel und braucht daher nicht als ein Volksglaube oder ein naturgeschichtlicher Irrtum erklärt zu werden. J. J. Stewart Perowne 1864.
  Wie eine unzeitige Geburt eines Weibes. Die Gottlosen sind samt und sonders sozusagen Fehlgeburten; sie sind und bleiben Wesen, denen ganz Wesentliches mangelt, die nie den eigentlichen Zweck ihres Daseins erreichen. Zu Gott ist der Mensch geschaffen, zum göttlichen, himmlischen Leben ist er berufen, und wer dies Ziel nicht erreicht, dessen ganzes Dasein ist verfehlt; er ist ewig eine Fehlgeburt. O. Prescott Hiller 1869.


V. 10. Noch ehe eure Kochtöpfe das Dornfeuer spüren usw. Der Vers bezieht sich wohl auf eine Sitte der Morgenländer, auf der Reise durch wüste Gegenden sich aus Dornreisern, welche sie sammeln und von denen die einen grün und saftig (wörtl.: lebendig, was andere auf das noch rohe Fleisch im Topf beziehen), die anderen dürr sind, sich ein schnell aufloderndes Feuer zu machen, um darüber ihr Essen zu bereiten. Da erhebt sich dann nicht selten plötzlich ein heftiger Wind, der alles, Feuer und Kochvorrichtung, hinwegfegt, ehe noch der Top heiß geworden ist. Ein treffendes Bild des die Gottlosen plötzlich überwältigenden Verderbens! Noch ehe das, was sie kochen wollen, das Feuer merkt, d. h. noch ehe die Gerechten etwas von den Anschlägen, welche die Gottlosen wider sie ins Werk setzen, zu fühlen bekommen, werden diese Anschläge zunichte gemacht. William Walford 1837.


V. 11. Der Gerechte wird sich freuen, wenn er solche Rache siehet. Ohne Zweifel sahen die Engel in dem Anblick der vernichteten Städte Sodom, Gomorrha, Adama und Zeboim einen Grund zu frohlocken und ein Halleluja anzustimmen. Die Gottlosen waren hinweggefegt worden, die Erde war einer schweren Bürde entledigt worden, die Gerechtigkeit Gottes hatte sich majestätisch geoffenbart und ebenso seine Liebe zu seinen anderen Geschöpfen, indem er diese von der Nachbarschaft solch satanischer Unreinigkeit befreite. Aus denselben Gründen werden der Herr Jesus selbst und jedes seiner Glieder über den Untergang des antichristlichen Heeres ein Halleluja anstimmen (Off. 19,3). Andrew A. Bonar 1859.
  Und wird seine Füße baden im Blut usw. So könnte man von jemand sagen, der als Sieger aus einer Schlacht hervorgegangen ist und nun über das Schlachtfeld schreitet. Anmerkungen der Londoner Traktat-Gesellschaft.


V. 12. Dass die Leute werden sagen: Es ist ja noch Gott Richter auf Erden. Manche der Gerichte Gottes sind eine seichte Furt, welche ein Lamm durchwaten kann; jedes Kind kann sie verstehen. Joseph Caryl † 1673.


Homiletische Winke

V. 4. 1) Die körperlichen Wirkungen der Erbsünde zeigen sich im frühen Leiden und Sterben. 2) Die moralischen Wirkungen derselben zeigen sich in dem frühen Begehen von Tatsünden, namentlich in Verstellung und Lüge. George Rogers 1872.
V. 5. Die Schlangenbrut. Die Sünde als Gift. Gift kann an Ansehen und Geschmack verlockend sein, kann langsam oder schnell wirken, kann schmerzverursachend, auszehrend, einschläfernd oder wahnsinnig machend wirken. Das Ende aber ist in allen Fällen das gleiche: der Tod.
V. 6. Vergleichung zwischen dem Prediger und dem Schlangenbeschwörer. 1) Er beschwört mit moralischer Überredung, mit Verheißungen, Drohungen usw. 2) Er beschwört mit Klugheit, Eifer und Liebe. 3) Er beschwört vergeblich: der Wille widersetzt sich. Daher die Notwendigkeit der Gnade Gottes und des Evangeliums.
V. 9. Die Selbstzerstörung der Sünder.
V. 12. Merkwürdige Fälle göttlicher Gerichte und ihre Wirkungen.

Fußnoten

1. Engl. Bibel: O congregation, nach Kimchi, Calvin u. a., die von der Wurzelbedeutung binden (vergl. das piel mit figura etymol. 1. Mose 37,7 manipulos colligare) zu der Bedeutung manipulus, congregatio, conterva kommen, aber ganz willkürlich. Mle)"" kommt nur noch Ps. 56,1 vor, wo man es mit Verstummung übersetzt (oder aber Mli)"" Terebinthen Jes. 57,5 liest). Danach wäre der masoretische Text an unserer Stelle (als ironische Frage) zu deuten: Ob ihr wirklich in Verstummung Gerechtigkeit redet? oder: Wollt ihr wirklich mit Stillschweigen Recht sprechen? V. 5b legt diesen Sinn nahe. - Luther trennte die beiden ersten Worte von dem Folgenden. - Die meisten Neueren punktieren nach Houbigant Mli)"" (gleich Myli)"" wie 2. Mose 15,11) ihr Götter, unter denen Delitzsch und andere die das gottesbildliche obrigkeitliche Amt Führenden verstehen, vergl. Ps. 82,1. Andere: = Myliy)" = Starke, ihr Gewaltigen.

2. Die Meisten fassen jedoch das Wort "Menschenkinder" nicht als Vokativ, sondern als Objektsakkusativ auf: Richtet ihr die Menschenkinder richtig?

3. l(p wie Micha 2,1 fertig machen.

4. Da für das hitp. von Klh trotz seines häufigen Vorkommens die Bedeutung "sich verlaufen", welche die meisten Übersetzer nach den LXX hier annehmen, nicht belegbar ist, nimmt Keßler es in der besser bezeugten Bedeutung "einherschreiten", wozu dann das verstärkende ....... gut passt: die stolz einherfahren.

5. Der Sinn des Textes ist kaum mehr zu ermitteln. Die Fortsetzung V. 9 macht es wahrscheinlich, dass die Frevler und nicht die Pfeile Subjekt des Zeitworts seien.

6. Man bezieht den Plural des Grundtexts besser auf das kollektiv. gebrauchte Fehlgeburt als (mit Luther) auf die Frevler.

7. Zwei berüchtigte Feinde des Protestantismus. Der Herzog von Alba rühmte sich, als spanischer Statthalter der Niederlande binnen sechs Jahren 18.600 Menschen hingerichtet zu haben. Bischof Bonner († 1569) wütete als Vorsitzer des Ketzergerichts unter der blutigen Maria gegen die Bekenner des Evangeliums in England.