Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 39 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Psalm Davids, wie ihn ein so wechselvolles Leben hervorrufen musste; ein Herzenserguss, wohl würdig eines Mannes, der so schwer geprüft wurde, ein so lebhaft und tief empfindendes Gemüt hatte und doch so fest im Glauben stand. Vorzusingen, für Jeduthun. Der Name Jeduthun bedeutet: der da lobt, war für einen Leiter des heiligen Psalmengesanges sehr angemessen. Es ist wohl ein Ehrenname, der dem eigentlich Ethan genannten Manne verliehen worden war. Jeduthun war einer der drei Sangmeister, die der König dazu verordnet hatte, im Haus des Herrn unter Begleitung von Saitenspiel, Psaltern, Harfen und hellen Zimbeln zu singen (1. Chr. 16,42) und seine Nachkommen scheinen sogar noch zu den Zeiten Nehemias in diesem heiligen Dienst gestanden zu haben. In Zion einen Platz und Namen zu haben, ist keine geringe Ehre und diesen Platz in einer langen, durch Gottes Gnade gewährten Erbfolge zu behaupten, ein ganz besonderer Segen. O dass es auch unseren Familien niemals an einem Mann fehlen möge, der vor dem Herrn, dem Gott Israels, stehe, ihm zu dienen.

Einteilung. Der Psalmdichter ist von Krankheit und Kummer niedergebeugt und wird in solcher Lage von ungläubigen Gedanken geplagt, die er aber zu unterdrücken sich fest vornimmt, damit nicht durch deren Aussprechen Unheil entstehe, V. 2. 3. Sein Stillschweigen erzeugt jedoch unerträgliche Leiden, die gebieterisch Aussprache verlangen, V. 4. So schüttet er denn sein Herz im Gebet vor Gott aus, V. 5-7. Dies Gebet ist unseres Erachtens eine Klage voller Todessehnsucht oder doch zumindest ein sehr düsteres Gemälde des menschlichen Lebens. V. 8-14 fährt David im Gebet fort, aber seine Stimmung ist ruhiger, gottergebener; er hat eine klarere Einsicht in Gottes Walten gewonnen. Die dunkle Wolke ist vorübergezogen und der schwer angefochtene Gottesknecht kann wieder freier zu Gott aufblicken.


Auslegung

2. Ich habe mir vorgesetzt: Ich will mich hüten, dass ich nicht
sündige mit meiner Zunge.
Ich will meinen Mund zäumen,
weil ich den Gottlosen so vor mir sehen muss.
3. Ich bin verstummet und still,
und schweige der Freuden,
und muss mein Leid in mich fressen.
4. Mein Herz ist entbrannt in meinem Leibe
und wenn ich dran gedenke, werde ich entzündet;
ich rede mit meiner Zunge.


2. Ich setzte mir vor1, buchstäblich: Ich sprach; Ich will usw. David hatte den bestimmten Vorsatz gefasst, zu schweigen, und hatte sich diesen Entschluss fest ins Herz eingeprägt. In seiner großen Verwirrung war es seine vornehmste Sorge, er möchte sich versündigen; so fragte er sich denn, wie er dem am besten vorbeugen könne, und kam zu dem Entschluss zu schweigen. Es ist trefflich, wenn wir uns beim Verfolgen eines guten Zweckes dadurch stärken können, dass wir uns einen wohl überlegten, weisen Entschluss immer wieder ins Gedächtnis rufen. Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben, oder, was ich einmal gesagt habe, das will ich auch durchführen; dieser Grundsatz wird sich uns beim Nachjagen des Guten stets hilfreich erweisen. Ich will mich hüten, dass ich nicht sündige, buchstäblich: Ich will meine Wege hüten vor dem Sündigen usw. Wollen wir von der Sünde nicht überfallen werden, so gilt es, äußerst wachsam zu sein und unsere ganze Denk- und Handlungsweise wie mit Schildwachen zu umstellen. Unbewachte Wege sind meist unheilige Wege. Unbedachtsam wandeln heißt, nicht in der Gnade bleiben. In Krankheits- oder anderen Trübsalszeiten müssen wir hauptsächlich gegen diejenigen Sünden auf der Hut sein, zu denen wir in solchen Prüfungszeiten besonders geneigt sind, so namentlich gegen das Murren. Dass ich nicht sündige mit meiner Zunge. Zungensünden werden nicht selten gering geachtet; aber sie bringen schwere Verschuldung auf uns. Böse Worte sind wie Feuerfunken, die weit umherfliegen und oft großes Unheil anrichten. Wenn Gläubige sich in Zeiten der Niedergeschlagenheit harte Worte über Gottes Walten entschlüpfen lassen, sind die Gottlosen gleich bei der Hand, diese aufzufangen und zur Rechtfertigung ihres sündigen Tuns zu gebrauchen. Wird ein Mann von seinen eigenen Kindern geschmäht, so brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn seine Feinde ihn mit frechem Munde lästern. Unsere Zunge bedarf unaufhörlich der Bewachung, denn sie ist unbändig wie ein widerspenstiges Pferd; besonders scharf müssen wir sie aber im Zaum halten, wenn die züchtigende Geißel des Herrn sie zum Widerstreben reizt. Ich will meinen Mund zäumen. Nach dem Grundtext (vergl. 5. Mose 25,1) ist hier nicht sowohl an das Anlegen eines Zaumes zum Zweck des Leitens und Zurückhaltens als auch vielmehr an das eines Maulkorbes zum Verbinden und Verschließen des Mundes gedacht. Das war nicht ganz so weise, wie es den Anschein hat. Hätte David nur den Entschluss gefasst, in seinem Reden sehr vorsichtig zu sein, so wäre sein Vorsatz in jeder Hinsicht löblich gewesen; da er aber so weit ging, sich zu gänzlichem Schweigen, sogar zum Schweigen vom Guten (siehe die Auslegung von V. 3), zu verurteilen, so muss er, um das Mindeste zu sagen, in einer finsteren, verdrießlichen Stimmung gewesen sein. Indem er einen Fehler zu vermeiden suchte, fiel er in einen anderen. Die Zunge gegen Gott zu gebrauchen, ist eine Begehungssünde, aber sie gar nicht gebrauchen, das schließt offenbar eine Unterlassungssünde in sich. Man kann eine löbliche Tugend so einseitig befolgen, dass sie zum Laster wird. Wir suchen einer Klippe zu entgehen und geraten dabei auf eine andere. Die folgenden Worte: solange der Gottlose in meiner Gegenwart ist (wörtl.), schränken jedoch das Schweigen Davids ein und schützen es fast vor dem obigen Urteil. Da schlechte Menschen sicher selbst mit unseren heiligsten Worten Missbrauch treiben, ist es geraten, unsre Perlen nicht vor solche Schweine zu werfen. Doch es waren nicht nur heilige Worte, die David in Gegenwart der Ruchlosen bei sich behielt, sondern sein Herz war offenbar von Gedanken der Unzufriedenheit und Ungeduld bewegt. Sein Blick war dabei wohl nicht hauptsächlich, wie Luthers Übersetzung es auffasst, auf das Glück der Gottlosen gerichtet; er beschäftigte sich vor allem mit seiner eignen Lage, mit seinen schweren Leiden. Aber dies genügte, ihn in die Versuchung zu bringen, sich durch Murren gegen Gott zu versündigen, und so weist sein zugebundener Mund auf vieles hin, das in seinem Innern vorging und keine Nachahmung verdient. Doch wenn wir tadeln, wollen wir auch loben, was zu loben ist. Stand es innerlich so mit ihm, so war es höchst klug, dass er in Gegenwart der Gottlosen stumm war wie ein Grab. Die Weisheit verlangt es, dass Gutgesinnte, wenn sie von Gedanken des Zweifels verwirrt gemacht werden, diese nicht hastig vor anderer Ohren aussprechen, sondern den inneren Streit auf dem gewiesenen Kampfplatz ausfechten. Auch der standhafteste Gläubige wird je und dann vom Unglauben angefochten und es hieße dem Teufel beim Säen helfen, wenn wir alle unsere Gedanken des Zweifels und Argwohns ausstreuen wollten. Habe ich selber das Fieber, so ist kein Grund, warum ich auch meine Nachbarn damit anstecken sollte. Befinden sich auf dem Schiff meiner Seele verseuchte Gedanken, so will ich mein Herz in Quarantäne legen und keinem der verdächtigen Passagiere erlauben, im Boot der Rede ans Land zu gehen, bis ich wieder einen vollgültigen Gesundheits-Pass habe.

3. Ich verstummte in Schweigen. (Grundtext) Er war so schweigsam, als ob er keine Zunge hätte; nicht ein Wort kam über seine Lippen. Er war still wie ein Stummer. Und schwieg des Guten.2 Weder Gutes noch Böses kam über seine Lippen. Vielleicht befürchtete er, Verkehrtes zu reden, wenn er überhaupt den Mund auftäte, und beschloss darum, sich des Sprechens völlig zu enthalten. Das war ein leichtes, sicheres und wirksames Mittel, die Sünde zu vermeiden, wenn es nicht eine Vernachlässigung der Pflicht, von Gott Gutes zu reden, in sich schloss. Auch unser göttlicher Meister war den Gottlosen gegenüber still; doch nicht immer, denn vor Pontius Pilatus hat er ein gutes Bekenntnis abgelegt und seine königliche Würde bezeugt. Aber mein Schmerz wurde (dadurch nur) aufgeregt. (Grundtext) Sein Schweigen brachte den inneren Kummer nicht zum Schweigen; dieser kam vielmehr, da er sich nicht Luft machen konnte, in desto stärkere Gärung und Wallung. Die eingedämmten Fluten schwollen an und tobten. Indem wir unsere Herzensangst absprechen, öffnen wir gleichsam die Schleusen, dass die Fluten sich verlaufen können. Durch das Stillschweigen, da wir, wie Luther übersetzt, unser Leid in uns fressen, verschlimmern wir das Übel und verhindern zugleich dessen Heilung. In solcher Lage in Schweigen zu verharren, dazu bedarf es großer Festigkeit, und auch diese wird schwerlich standhalten, wenn der Kummer mit ganzer Heftigkeit auf die Seele einstürmt. Vor dem übermächtigen Aufprall der tosenden Flut weichen auch die stärksten Dämme. Unsere natürliche Kraft mag ihr Bestes tun, die Äußerungen der Unzufriedenheit zu unterdrücken; wenn ihr die Gnade nicht zu Hilfe kommt, muss sie unterliegen.

4. Mein Herz entbrannte in meinem Innern. (Grundtext) Seine Gedanken rieben sich gleichsam aneinander und erzeugten so einen heftigen Brand. Die Tür seines Herzens war verriegelt und da solch ein Feuer des Unmuts und Grams darin brannte, wurde die Hitze in dieser verschlossenen Kammer seiner Seele bald unerträglich. Stillschweigen ist für Leidende eine solche Pein, dass es unfehlbar zum Wahnsinn führt, wenn es nicht gebrochen wird. Drum, bekümmerte Seele, schütte dein Herzeleid aus! Tu das zuerst und gründlich vor Gott; dann magst du auch einem weisen, gottesfürchtigen Freund deinen Kummer klagen, es wird dir gesegnet sein. Durch mein Nachsinnen entzündete sich in mir ein Feuer. (Grundtext) Er sann darüber nach, wie die Gottlosen solch ein bequemes Leben hatten, während er täglich mit Anfechtungen und Trübsalen zu ringen hatte, und da er die Rätsel der Vorsehung nicht lösen konnte, wurde seine innere Erregung immer stärker. Je eifriger er das Knäuel zu entwirren suchte, desto mehr verwickelte es sich. Durch sein Grübeln stocherte er nur die glühenden Kohlen auf, dass sie in heller Flamme aufloderten. Mit jedem Augenblick wurde es ihm schwerer, ruhig zu bleiben. Sein Inneres glich einem Vulkan; ein Meer von Feuer wütete darin und wurde wie durch ein Erdbeben aufgewühlt. Ein Ausbruch war unvermeidlich; die glühende Lava musste sich in feurigem Strom ergießen. Ich redete mit meiner Zunge. Der Ausdruck ist von lakonischer Kürze. Die gefesselte Zunge sprengte ihre Bande. Der Knebel wurde mit Gewalt aus dem Munde geschleudert. Der Kummer lässt sich so wenig totschweigen wie ein Mord. Das Lob Gottes mögen wir unterdrücken, aber nicht den Aufschrei der Herzensangst. Entschluss hin, Entschluss her, Vorsicht hin, Vorsicht her, Sünde hin, Sünde her, - der ungestüme Wildbach bricht sich Bahn und fegt jedes Hindernis hinweg.


5. Aber Herr, lehre doch mich, dass es ein Ende mit mir haben muss,
und mein Leben ein Ziel hat,
und ich davon muss.
6. Siehe, meine Tage sind eine Hand breit bei dir,
und mein Leben ist wie nichts vor dir.
Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher
leben! Sela.
7. Sie gehen daher wie ein Schatten,
und machen sich viel vergebliche Unruhe;
sie sammeln, und wissen nicht, wer es einnehmen wird.


5. Herr. Es war gut, dass sich Davids Seele gegen Gott und nicht gegen Menschen ergoss.3 Kann ich mein überwallendes Herz nicht länger eindämmen, so will ich’s gegen dich, Herr, ausschütten. Wenn in meinen Worten auch zu viel natürliches Feuer ist, so wirst du doch mehr Geduld mit mir haben als die Menschen und deine Reinheit bleibt davon unbefleckt, während meine Mitmenschen, wenn ich vor ihnen ausspräche, was in meinem Herzen ist, mit scharfem Tadel über mich herfallen würden oder aber durch die Aufregung meiner Rede zu böser Nachahmung verführt werden könnten. Tue mir mein Ende kund. (Wörtl.) Meinte er damit dasselbe, was sich Elia in seinem Zagen erbat; "So nimm nun, Herr, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter?" (1. Könige 19,4) Oder wollte er in heftiger Aufwallung der Ungeduld erfahren, wann sein elendes Leben zu Ende sein werde, damit er die Tage zählen könne, bis der Tod seinem Jammer ein Ziel setze? Die Ungeduld versucht in den unaufgeschnittenen Blättern des Buchs der Zukunft zu lesen. Der Unglaube möchte sich, als ob es keinen anderen Trost gäbe, vor dem Ungemach des Lebens ins Grab verstecken und mit dem Betäubungstrank des Vergessens einschläfern. David ist weder der erste noch der letzte gewesen, der sich beim Beten durch unbedachtes Reden verfehlt hat. Doch ist auch eine günstigere Auffassung der Worte möglich, die uns durch Luthers Übersetzung nahe gelegt wird: Der Psalmist begehrt tieferen und klareren Einblick in die Kürze des Lebens, damit er die vorübergehenden Übel desselben besser ertragen lerne, und wenn wir seine Bitte so verstehen, können wir ruhig an seiner Seite niederknien und sein Gebet zu dem unsrigen machen. Das ist ja die Hölle der Hölle, dass ihr Elend kein Ende nimmt, - und dass es für des Lebens Weh ein Ende gibt, der Trost aller, deren Hoffnung über das Grab hinausreicht. Gott ist der beste Lehrer der wahren Lebensweisheit, die aufs Ende schaut. Dem von Gott erleuchteten Auge enthüllt sich beim Blick auf den Tod eine herrliche Fernsicht, die uns die Übel des Lebens vergessen lässt, eben indem sie uns das herrliche Ende sehen lässt. Und das Maß meiner Tage, welches es sei. (Wörtl.) David wollte gern darüber eine stärkere innere Einsicht haben, dass sein Leben samt seinen Prüfungen bald vorüber sein werde, und wollte einen neuen Einblick in die alte Wahrheit bekommen, dass unseres Lebens Maß durch Gottes Weisheit und nicht durch den Zufall bestimmt ist. Wie der Kaufmann sein Tuch nach Vierteln und Ellen ausmisst, so ist uns das Leben genau zugemessen. Ich möchte erkennen, wann ich (zu leben) aufhören werde.4 (Grundtext) Ach, was ist doch das Herz für ein trotziges und verzagtes Ding! Von so unersetzlichem Wert das Leben ist, hadert der Mensch doch so mit Gott, dass er lieber zu existieren aufhören, als das von Gott bestimmte Los tragen möchte! Und dass wir ein solch unzufriedenes Wesen bei einem Gottesmann antreffen! Aber warten wir nur, bis wir in ähnlicher Lage sind; ob wir es dann wohl besser machen? Das Schiff auf der Werft wundert sich über die Barke, die ein Leck bekommen hat; aber nach dem ersten Sturm auf hoher See wundert es sich vielmehr darüber, dass es selber nicht aus allen Fugen gegangen ist. Davids Erfahrung ist uns nicht zur Nachahmung, sondern zur Belehrung berichtet.

6. Siehe, etliche Hand breit hast du meine Tage gemacht. (Wörtl.) Bei näherer Erwägung findet der Psalmist im Grunde wenig Anlass, die Länge des Lebens zu betrauern, sondern eher, dessen Kürze zu beklagen. Was für unbeständige Geschöpfe wir doch sind! Im einen Augenblick möchten wir von dem jämmerlichen Dasein erlöst werden und im nächsten ist uns das Leben zu kurz. Die Handbreite ist eins der kürzesten Maße, nämlich die Breite von vier Fingern. So gering ist auch, nach Gottes weiser Bestimmung, das Maß unseres Lebens. Das Siehe will unsere Aufmerksamkeit wecken. Beim einen verursacht diese Mahnung an die Flucht unserer Tage großes Weh, andere werden dadurch zu feierlichem Ernst gestimmt. Wie bedachtsam sollten wir mit unseren Tagen haushalten, da uns ihrer so wenige zur Verfügung stehen. Ist meine Erdenwallfahrt wirklich so kurz? Dann will ich auf jeden Schritt Acht haben, dass die Kürze der Zeit durch den Reichtum der Gnade, der sich in meinem Leben offenbare, ausgewogen werde. Und mein Leben ist wie nichts vor dir. Meine Lebensdauer ist so gering, dass sie nicht zu einem Etwas hinanreicht, sondern ein Nichts ist. Denken wir an die Ewigkeit, so ist ein Engel ein eben geborenes Kindlein, die Welt eine eben entstandene Wasserblase, die Sonne ein eben den Feuer entsprühter Funke und der Mensch ein Garnichts. Vor dem Ewigen sind die Jahrtausende der Geschichte des sterblichen Geschlechts weniger als ein Ticken der Uhr; geschweige denn ein Menschenalter. Ja, nichts als ein Hauch ist jeglicher Mensch, wie fest er stehe. (Grundtext5 Das ist die zuverlässigste Wahrheit, dass nichts am Menschen zuverlässig und wahr ist. Mag ein Mensch noch so fest stehen, er ist doch nur ein Mensch und der Mensch ist ein bloßer Hauch, ohne Kern und Wesen wie der Wind. Und dieser Mensch lebt so sicher dahin, wie Luther treffend übersetzt, während nach Gottes Bestimmung sein Leben so unsicher ist! Beständig ist er nur in der Unbeständigkeit. Seine Vergänglichkeit ist die einzige bleibende Wahrheit an ihm. Sein Bestes, worauf er so eitel ist, ist selbst eitel, - alles, was er ist und hat, Eitelkeit der Eitelkeiten. Das ist allerdings traurige Botschaft für solche, deren Schätze sich unter dem Mond befinden. Wer sich seiner Kraft rühmt, hat wohl Grund, die Flagge auf Halbmast zu hängen; wer sich aber von der Kraft des Ewiglebendigen getragen weiß, der freue sich, dass seine Hoffnung nicht eitel ist.

7. Als ein Schatten (ein wesenloses Schatten - oder Traumbild) nur wandelt der Mensch einher. (Wörtl.) Das Leben ist nur ein vorübergehendes Trugbild. Das allein ist sicher, dass nichts sicher ist. Schatten spotten uns rings um uns her; wir wandeln unter ihnen und nur zu viele Menschen vergeuden ihr ganzes Leben mit diesen Schatten, als ob die lächerlichen Bilder wesenhaft wären, und so werden sie selber zu nichtigen Schattenbildern, die ihre erborgten Rollen mit einem Eifer spielen, der des Lobes wert wäre, wenn er auf die realen Dinge gewendet würde, aber an die Phantome des schnell vorübergehenden diesseitigen Lebens umsonst verschwendet ist. Die Weltmenschen sind arme verdurstende Wanderer, die eine Fata Morgana verführt, um sie bald in Enttäuschung und Verzweiflung zu stürzen. Und machen sich viel vergebliche Unruhe, wörtl.: um einen Hauch, um ein Nichts, lärmen sie. Die Menschen schaffen, sorgen und schinden sich ab und das alles rein für nichts. Selber nur Schatten, jagen sie Schatten nach, während doch der Tod ihnen auf den Fersen ist. Sie mühen und plagen und quälen sich, um Reichtum, Ehre oder Genuss zu erhaschen, und wenn sie das Ersehnte erreicht haben, finden sie am Ende all ihre Mühe verloren; denn es geht ihnen wie dem Geizhals, der von einem großen Schatz träumt: -Alles ist zerronnen, wenn er beim Erwachen in die Welt der Wirklichkeit zurückkehrt. Lies diese Psalmworte aufmerksam und horche dann auf den Lärm des Marktes, auf das Gesumm der Börse, auf das Getöse der Straßen, und erinnere dich, dass alle diese Unruhe ein Lärmen um nichts, um unwesentliche, vergängliche, eitle Dinge ist. Ruhelose Ruhe, schlaflose Nächte, nagende Sorgen, ein überarbeitetes Gehirn, Nachlass der Geisteskräfte, Wahnsinn - das sind die Stufen der Unruhe, die viele ersteigen; und doch will alles reich werden oder, mit einem anderen Bilde, sich ein Bleigewicht an die Füße hängen, das einen in den Strudel zieht. Sie sammeln, und wissen nicht, wer es einnehmen (einheimsen) wird. Wie mancher kommt um den Genuss all seiner Mühen und Wagnisse; denn "zwischen Lipp’ und Kelchesrand schwebt der finstern Mächte Hand." Schon ist der Weizen in Bündel gebunden; da schleppt ihn plötzlich ein Räuber hinweg, - wie es dem armen Landmann im Morgenland so oft ergeht. Oder das Getreide ist schon im Speicher wohl verwahrt; aber anstatt dass der Ackersmann die Frucht seiner Arbeit genießt, nähren sich feindliche Banden davon. Ach, wie viele mühen sich für andere, die sie nicht kennen. Die Ironie dieses Verses trifft besonders den schmutzigen Geizhals, der gleich einem Rechen oder Stallbesen allen Mist zusammenrafft, dem aber zu seiner Zeit die Mistgabeln folgen, die das Gesammelte eben so eifrig ausstreuen, wie es der Vorfahr aufgehäuft hat. Wir kennen die Erben dessen, was wir setzt unser Eigentum nennen, nicht; denn unsre Kinder sterben und Fremde werden einst in den Hallen unserer Ahnen wandeln. Selbst der Großgrundbesitz wechselt seinen Herrn, ob auch die Erbfolge (wie besonders in Großbritannien) durch noch so feste Bestimmungen gesichert ist. Wie viele stehen früh auf und legen sich erst spät zur Ruhe, um sich ein Haus zu bauen, - und dann ist’s ein anderer, der in des Hauses Gängen wandelt, sich’s in den Gemächern wohl sein lässt und, ohne je an den Erbauer zu denken, alles sein Eigen nennt. Das ist eins der Übel unter der Sonne, gegen die es kein Mittel gibt.


8. Nun, Herr, womit soll ich mich trösten?
Ich hoffe auf dich.
9. Errette mich von aller meiner Sünde,
und lass mich nicht den Narren ein Spott werden.
10. Ich will schweigen, und meinen Mund nicht auftun;
denn Du hast’s getan.
11. Wende deine Plage von mir;
denn ich bin verschmachtet von der Strafe deiner Hand.
12. Wenn du einen züchtigest um der Sünde willen,
so wird seine Schöne verzehrt wie von Motten.
Ach, wie gar nichts sind doch alle Menschen. Sela.
13. Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien.
Und schweige nicht über meinen Tränen;
denn ich bin dein Pilgrim
und dein Bürger, wie alle meine Väter.
14. Lass von mir, dass ich mich erquicke,
ehe denn ich hinfahre und nicht mehr hier sei.


8. Nun, Herr, womit soll ich mich trösten? Wörtl.: wes soll ich harren, d. h.; worauf soll ich meine Hoffnung setzen?6 Was ist an all den Trugbildern des Lebens, das mich bezaubern könnte? Ich hoffe auf dich. Der Psalmist hat über die Welt und alles, was darin ist, nachgedacht und hat in allem dem nichts gefunden, was sein Herz stillen und seiner Hoffnung einen festen Ankergrund bieten könnte. Darum wendet er sich von allem Sichtbaren, das doch vergänglich ist, ab, seinem Gott zu. Der Herr hat allein das Leben in sich, und er allein ist treu aus beiden Gründen ist er allein des Vertrauens wert. Er lebt, wenn alle Geschöpfe in den Tod dahinsinken, und seine Allmachtsfülle bleibt, wenn alle kreatürlichen Kräfte mit ihrer Macht zu Ende sind; darum zu ihm den Hoffnungsblick gerichtet! Wer nicht als Narr erfunden werden will, der baue sein Haus nicht auf den Flugsand dieser Welt, sondern auf den ewigen Felsen; denn wenn nicht heute, so doch bald wird sich ein Sturm erheben, vor dem kein Bau standzuhalten vermag, der nicht aus diesem Grunde errichtet und mit dem festen Mörtel echten Glaubens erbaut ist. David hatte nur einen Hoffnungsanker, aber der war sicher und fest und reichte hinein in das Inwendige des Vorhangs (Hebr. 6,19); darum brachte er sein Schiff sicher vor Anker. Noch ein wenig wurde es hin und her geschaukelt, dann aber war tiefe Ruhe.

9. Errette mich von aller meiner Sünde. Welch günstiges Zeichen ist es, wenn ein Leidender, wie der Psalmsänger hier, nicht mehr das alte Klagelied seiner Leiden singt, sondern um Befreiung von seinen Übertretungen fleht. Was will aller Kummer bedeuten, verglichen mit der Sünde! Ist aus dem Kelch, den wir zu trinken haben, nur das Gift der Sünde entfernt, so brauchen wir den Wermuttrank nicht zu scheuen; denn seine Bitterkeit dient zur Arznei. Niemand ist im Stande, einen Menschen von seinen Übertretungen zu erretten, als der Eine, dessen Name Jesus ist, eben weil er sein Volk selig macht, d. h. errettet, von seinen Sünden. Hat er aber erst einmal dies große Werk der Erlösung von der Ursache alles Kummers an einem Menschen durchgeführt, so schwinden sicher auch bald die Folgen dieser Ursache. Es ist beachtenswert, dass David von allen seinen Sünden errettet zu werden fleht; nur von einigen befreit zu werden, wäre von geringem Wert, wir bedürfen eine umfassende und völlige Erlösung. Und lass mich nicht den Narren ein Spott werden. Mit den Narren sind die Gottlosen gemeint. Die lauern ja stets auf Fehler der Heiligen und machen dieselben sofort zum Gegenstand ihres Gespöttes. Es ist ein jammervolles Ding, wenn es einem Menschen zugelassen wird, durch Abweichen vom rechten Wege sich selber zur Zielscheibe des Spottes der Gottlosen zu machen. Aber wie viele haben sich schon auf diese Weise wohlverdientem Tadel und Hohn ausgesetzt! Sünde und Schande gehen Hand in Hand und vor beiden möchte David um jeden Preis bewahrt bleiben.

10. Ich bin verstummt (wörtl.), will meinen Mund nicht auftun; denn Du hast’s getan. Das ist ein edleres Stillschweigen als jenes, das wir in V. 3 fanden. Dies Verstummen hat nichts von mürrischem, verdrießlichem Wesen an sich; es ist das Schweigen gottergebenen Glaubens. Was alle natürlichen Anstrengungen Davids nicht hatten bewirken können, nämlich, seinen Mund zu verschließen, das erreichte die Gnade in der würdigsten Weise. Wie ähnlich erscheinen oft nach außen zwei grundverschiedene Dinge! Schweigen ist Schweigen - aber im einen Fall ist es sündiges, im anderen heiliges Schweigen. Welch mächtiger Beweggrund, jeden Gedanken des Murrens zum Verstummen zu bringen, liegt doch in der Erwägung; Du hast’s getan! Es ist ja Gottes Recht zu tun, was er will, und sein Wille ist stets das Weiseste und Beste; was sollte ich denn in sein Tun dreinreden wollen? Nein, ist’s wirklich der Herr, so tue er, was ihm wohlgefällt!

11. Wende deine Plage von mir. Dass David seinen Mund zu keiner Klage auftat, hinderte ihn nicht, ihn zum Gebet zu öffnen. Mögen wir in allen anderen Beziehungen noch so beharrlich schweigen, die Stimme des Flehens soll nicht schweigen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der Herr des Psalmisten Bitte gewährt, denn Gott nimmt meist die Trübsal von uns, wenn wir uns in sie gefügt haben. Küssen wir die Rute, so verbrennt der Vater sie. David hatte sich ganz in Gottes Willen ergeben und doch gewann er Freimut, um Hinwegnahme des Leidens zu bitten. Beides verträgt sich wohl miteinander. Ja, tatsächlich war es so, dass es bei dem Psalmsänger, solange er sich wider Gottes Führungen auflehnte, zu keinem Flehen um Erledigung von dem Übel kam, und er erst dann bat, dass Gott nach seiner Gnade die wohlverdiente Züchtigung von ihm wende, als er sich rückhaltlos dem göttlichen Willen unterworfen hatte. Ich bin verschmachtet (ich vergehe) von der Strafe (eigentlich: der Anfeindung) deiner Hand. Gott unsere Schwachheit und Not klagen, ist ein treffliches Mittel, ihn zum Helfen zu bewegen. Wir dürfen unserm Vater wohl die Striemen zeigen, die seine Strafe hinterlassen hat; denn es ist vorauszusehen, dass ihm sein väterliches Mitleid die Hände binden und ihn bewegen wird, uns auf seinem Schoß zu trösten. Der Herr will ja durch seine Züchtigungen nicht uns, sondern unsere Sünde töten.

12. Wenn du einen mit Strafen (Grundtext) züchtigest um der Sünde willen. Gott spielt nicht mit seiner Rute; er gebraucht sie der Sünde wegen und mit der Absicht, uns durch sie von der Sünde wegzujagen. Darum will Gott, dass seine Streiche empfunden werden, und empfunden werden sie. So wird seine Schönheit verzehrt wie von Motten. Wie die Motten das köstlichste Gewand zernagen, dass all seine Schönheit verdirbt und nur ein wertloser Fetzen übrig bleibt, so decken uns die Züchtigungen Gottes unsere Torheit, Schwachheit und Nichtigkeit auf und erzeugen in uns das Gefühl, dass wir wertlos und nutzlos seien wie ein von Motten zerstörtes Kleid. Die Schönheit muss von armseliger Art sein, wenn eine Motte sie zerstören, ein Tadel sie verderben kann. Alles, was uns sonst begehrlich schien und uns beglückt hat, scheint uns wie von Motten zerfressen und erbärmlich, wenn der Herr uns in seinem Zorn heimsucht. Ja, ein Hauch ist jeder Mensch. Er ist, sagt John Trapp († 1669), ein lächerliches Bild eines Nichts. Er ist so wenig wesenhaft wie sein eigener Hauch, ein Dampf, der eine kleine Zeit überdauert, danach aber verschwindet (Jak. 4,14). Sela. Wohl dürfen wir bei dieser Wahrheit ein wenig sinnend verweilen, wie die Scharen Joabs vor dem Leichnam Amasas stehen blieben, der auf der Straße lag (2. Samuel 20,12).

13. Höre mein Gebet, Herr. Ersticke meine Bitten nicht durch die Wucht deiner Schläge. Du hast das Geschrei meiner Sünden vernommen, Herr, so höre auch die Stimme meines Flehens. Und vernimm mein Schreien. Der Psalmist wird in seinem Flehen inbrünstiger: Schreien ist heftiger und ergreifender als Bitten. Die Hauptsache war ihm, an Gottes Ohr und Herz zu gelangen. Und schweige nicht über (oder zu) meinen Tränen. Diese Bitte ist noch dringender. Wer vermag Tränen gegenüber standzuhalten, diesen unwiderstehlichen Waffen der Schwachen? Wie oft schon haben Frauen, Kinder, Bettler und Sünder ihre letzte Zuflucht zu den Tränen genommen und damit erreicht, was ihr Herz begehrte! Diese Schauer, die Ergüsse des im Innern tobenden Wetters, fallen nicht umsonst nieder. Tränen sind beredter als zehntausend Zungen. Sie wirken auf zarte Gemüter, wie der Schlüssel auf die Feder des Schlosses, und Gottes Erbarmen verweigert ihnen nichts, wenn der Weinende durch die Tränen hindurch auf die noch weit kostbareren Tropfen des Blutes Jesu schaut. Wenn der Kummer uns die Schleusen unsrer Augen öffnet, ist die Zeit nahe, in der Gott eingreift und unsere Trauer in Freude verwandelt. Er kann oft lange so ruhig zusehen, als ob er uns keine Beachtung schenkte; aber die Stunde der Befreiung muss doch schlagen. Sie wird, gleich der Morgenhelle, eben dann kommen, wenn die Tautropfen perlen. Denn ich bin dein Pilgrim, wörtlich; ein Gast bei dir. Welch hohes Vorrecht, die Gastfreundschaft Gottes zu genießen! Jeder Israelit wusste sich als Gast des Herrn, dem das Land gehörte (3. Mose 25,23). Mit diesen Worten macht David auf den Schutz Gottes Anspruch. Dass der Hauswirt mit Leib und Leben für seinen Gast einstehen müsse, galt dem Morgenländer als untrennbar mit seiner Ehre verkettet. Aber auch die Erkenntnis der Vergänglichkeit des Erdenlebens und das Gefühl der Fremdlingschaft in der Welt kommt in diesem und dem folgenden Wort: Und dein Beisasse (Grundtext) wie alle meine Väter, zum Ausdruck. (Man vergleiche die Grundstelle 1. Mose 23,4; ferner 1. Chr. 29,15; Hebr. 11,13 ff.; 1. Petr. 2,11) Und beides macht David vor dem Herrn geltend, um Gottes Barmherzigkeit zu bewegen. Die Glaubensväter wussten alle, dass hier auf Erden nicht ihr Ruheort sei. Sie wandelten auf Erden im Pilgerkleid und benutzten die Welt, wie Reisende eine Herberge. Wie sollten wir von Ruhe auf dieser Erde träumen, da unsrer Väter Gräber uns vor Augen sind? Und wie sollten wir uns hier auf Erden heimisch fühlen, da unser Herr und Meister selbst als Fremdling unter den Menschen wandelte, fremd seinen Brüdern und unbekannt seiner Mutter Kindern (Ps. 69,9)! Gott selber, der die Welt erschaffen hat und erhält, wird von den Menschen als ein fremder Eindringling behandelt. Ist’s zum Verwundern, dass es uns nicht anders geht? "Sie sind nicht von der Welt, wie auch Ich nicht von der Welt bin." (Joh. 17,14) Aber sind wir auch Fremdlinge, so doch nicht solche, die keine Heimat haben. Und schon solange wir pilgern, genießen wir die treue Fürsorge unseres Gottes, bei dem wir täglich zu Gast sein dürfen, bis wir zu der oberen Heimat kommen.

14. Blicke weg von mir. (Grundtext) Wende dein zürnendes Antlitz von mir. Lass mich Atem schöpfen. Töte mich nicht. Lege die Rute weg. Dass ich mich erquicke. Lass die Sonne durch die Wolken brechen. Lass mich noch einmal heiter werden. David erwartet seinen baldigen Tod, bittet aber um eine Zeit der Erleichterung, dass er seine Kräfte wieder sammeln könne und des Lebens noch einmal froh werde vor seinem Ende. Ehe denn ich hinfahre und nicht mehr bin. (Grundtext) Sofern diese Welt dabei in Betracht kommt, ist der Tod in der Tat ein Nichtmehrsein. Solch ein Zustand wartet unser, wir eilen demselben entgegen. Möge die kurze Frist, die uns noch davon trennt, von dem Sonnenschein der Liebe unseres himmlischen Vaters vergoldet sein. Es ist ein trauriges Los, wenn jemand von der Wiege bis zum Grabe ein Krüppel sein muss; noch schlimmer ist’s, monatelang unter Gottes Zuchtrute zu sein; aber was will das alles heißen im Vergleich zu dem Erleiden der endlosen Pein, die Gott denen androht, die in ihren Sünden sterben!


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Das schönste Klagelied im ganzen Psalter. Prof. G. H. Ewald † 1875.
  Gustav König malte zu diesem Psalm ein Bild: Ein Totenschädel, aus dem heraus ein Schmetterling sich in die Lüfte erhebt - die schnell verwehenden Laternenblumen (Pappus des Löwenzahn, Taraxacum officinale) - der Anfangsbuchstabe I, der zum Leichenstein umgebildet ist, drücken im Bild die Vergänglichkeit des Lebens aus. J. H. A. Ebrard 1870.


V. 2. Ich sprach: Ich will meine Wege behüten, dass ich nicht sündige mit meiner Zunge. (Grundtext) Solches sprach er zu sich selbst: Und es ist niemandem möglich, sich als wahrhaft edel und weise zu bewähren, ohne dass er oft solcherart Zwiegespräche mit sich selbst führt. Das ist eine der hervorragendsten Fähigkeiten der vernünftigen Geschöpfe, die sogar noch höher zu schätzen ist als die Gabe der artikulierten Rede. Es zeugt von einer auffallenden Stumpfheit der meisten Menschen, dass sie so wenig diese Art von Selbstgesprächen führen, für die sie doch veranlagt und ausgerüstet sind und die nicht nur an sich so vortrefflich, sondern auch so fruchtbar sind. Es ist aber ein unter den Menschen weit verbreitetes Übel, dass sie so gern in die Ferne schweifen und aus sich herausgehen, statt im eigenen Innern Einkehr zu halten. Das beweist eine "Ver-rücktheit" des geistigen und geistlichen Lebens. Allerdings ist uns zu solchem Selbstgespräch ein gesunder Sinn nötig, damit wir nicht bei uns selbst in schlechtere Gesellschaft geraten als bei anderen. Deshalb müssen wir uns nach einer besseren Gesellschaft umsehen, als unser Ich ist: Lasst uns Gott anflehen, dass er in unserm Herzen Wohnung mache! Tun wir dies, wenden wir uns bei unserem Selbstgespräch jeweils betend zu Gott, so werden wir finden, wie köstlich solche Einkehr ins eigene Herz ist. Eben weil es daran fehlt, vergeuden die meisten nicht nur ihre Zeit mit nichtigen Dingen und im nichtigem Verkehr mit anderen, sondern sammeln auch Eitelkeit in Hausen im eignen Herzen an. Mit diesem innern Schatz pflegen sie nun im geheimen Umgang und das ist die vollendete Torheit der Welt. Erzbischof Robert Leighton † 1684.
  Ein frommer Christ in alter Zeit, Pambus, kam zu einem Gottesgelehrten und bat, ihn etwas Erbauliches aus den Psalmen zu lehren. Der Gottesgelehrte fing den 39. Psalm zu lesen an. Als Pambus diesen ersten Vers; "Ich habe mir vorgesetzt, ich will mich hüten, dass ich nicht sündige mit meiner Zunge " hörte, sagte er; "Es ist schon genug: das Weitere will ich hören, wenn ich diesen Vers gelernt habe." Nach einem halben Jahr traf ihn der Gottesgelehrte und fragte ihn, warum er denn nicht gekommen sei. Da sagte Pambus: "Weil ich ihn bis heute noch nicht recht kann; er ist gar schwer." - Einmal besuchte ihn der Bischof Theophilus († 412) und wollte von ihm etwas Erbauliches hören. Dem antwortete Pambus: "Wenn dich mein Stillschweigen nicht erbaut, so wirst du noch weniger durch mein Reden erbaut werden." Als er neunzehn Jahre nachher gefragt wurde, ob er nun jenen Vers endlich einmal gelernt habe, sprach er: "Ich habe kaum in neunzehn Jahren ihn wirklich zu erfüllen vermocht." Freimund, von Th. Zinck, 1886.

V. 2ff. Ein Kranker sollte aus Verordnung des Arztes Pillen einnehmen, schickte sich aber gar seltsam zum Handel, weil er denn die erste lange im Munde herumwälzte, so dass sie, fast ganz zermalmt, ihm Bitterkeit genug verursachte. Der Arzt sagte, das sollte er nicht tun; hier gilt’s nicht zu kauen und zu schmecken, sondern nur verschlucken; und wie endlich der Patient sie mit Mühe hatte hinuntergebracht, gab er ihm nachher etliche eingemachte Zitronenrinden. Darüber machte sich Gotthold diese Gedanken: Die Scheltworte eines schmähsüchtigen und feindseligen Menschen sind sehr bittere Pillen und es ist nicht jedermanns Ding, dieselben ungekaut zu verschlucken; sie sind aber einem gottseligen Christen sehr dienlich, weil sie ihn entweder an seine Schuld erinnern oder seine Geduld und Sanftmut bewähren oder ihm zeigen, wovor er sich zu hüten habe, und endlich bei Gott, um dessentwillen sie mit Geduld erlitten werden, ihm zur Ehre und zum Ruhm gedeihen. Hier will’s aber nicht ratsam sein, dass einer die Schmähpillen in seinen Gedanken stets hin und her wälze und sie achte nach seines Fleisches und der Welt Überlegungen. Denn so werden sie nur immer bitterer und füllen die Zunge und das Herz mit gleichmäßiger feindlicher Bitterkeit. Verschlucken, verschweigen und vergessen ist das Beste. Man muss sein Leid in sich fressen und sagen: Ich will schweigen und meinen Mund nicht auftun: Du, mein Gott, wirst’s wohl machen! Hingegen muss man sich der lieblichen Trostsprüche der Schrift gegen die Bitterkeit bedienen. Ach, mein Gott! wie schwer ist’s, die Schmachpillen verschlucken, segnen, die mir fluchen, wohl tun denen, die mich hassen, bitten für die, so mich beleidigen! Herr, du willst es so haben; so gib es, wie du es haben willst, denn ohne dich kann ich hierin nichts tun. Gottholds Zufällige Andachten, von Christian Scriver 1671.


V. 4. Ich wurde entzündet: meine Gedanken erregten meine Leidenschaften. Mt. Polus † 1679.


V. 5. Lehre doch mich, dass es ein Ende mit mir haben muss. Wusste David dies denn nicht? Wohl wusste er es; doch wünschte er, es gründlicher zu erkennen. Es schickt sich für uns, Gott zu bitten, dass er uns das, wovon wir nur eine äußerliche und dürftige Kenntnis haben, je mehr und mehr in fruchtbringender, geistlicher Weise erkennen lasse. Wir wissen ja, dass wir sterben müssen und keinen langen Lauf mehr vor uns haben, und doch ziehen wir aus dieser Erkenntnis so wenig Belehrung. Erzbischof Robert Leighton † 1684.
  Ein Teil der Feierlichkeiten am Krönungsfest der byzantinischen Kaiser bestand darin, dass ein Steinmetz auftrat und dem Neugekrönten verschiedene Marmorsteine vorlegte, unter denen er die Wahl zur Herstellung seines Grabmals treffen sollte. So lesen wir von Joseph von Arimathia, dass er sein Grab in seinem Garten hatte, - mitten unter den blühenden Blumen eine stete Erinnerung an den Tod. Christopher Love † 1651.
Dass mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss. In der englischen Grafschaft Cheshire ist an einem stattlichen im Jahre 1636 erbauten Wirtshaus über einem Fenster der Bierstube die ins Eichenholz geschnitzte Inschrift noch gut lesbar: Freles si scries unum tua tempora mensen; rides cum non scis si sit forsitan una dies, zu Deutsch: "Du würdest weinen, wenn du erführst, dass dein Leben nur einen Monat noch währt; du lachst, obwohl du nicht weißt, ob dir ein Tag noch gewährt (ist)." Wie betrüblich ist es, denken zu müssen, dass viele sich, diesen stillen Warner vor Augen, seelenverderblicher Unmäßigkeit hingegeben haben! Und doch ist dies nur ein Bild dessen, was wir beständig um uns her wahrnehmen. Aus einer englischen Monatsschrift.


V. 6. Meine Tage, so wird hier das Leben bezeichnet, weil es uns nicht en gros nach Monaten und Jahren, sondern en détail nach Tagen, Stunden, Minuten und Augenblicken zugemessen wird. Wir sollen uns gewöhnen, unser Leben von Gottes Großmut zu Lehen zu tragen, jeden Augenblick zu Gottes Ehre anzuwenden und uns Tag für Tag zum Empfang Jesu Christi, unseres Bräutigams, bereit zu halten. Edmund Layfielde 1630.
  Wir bedürfen keinen großen Maßstab, unser Leben damit zu messen; ein jeder trägt ihn bei sich an seiner Hand und diese ist noch zu groß dazu: vier Finger genügen. Erzbischof Robert Leighton † 1684.
Vor dir. David hätte mit Recht sagen können: Mein Leben ist kurz im Vergleich mit dem Alter Methusalahs, nicht viel über 70 gegen 969 Jahre, hat also nicht so viele Zehner wie Methusalah Hunderter. Oder: Es ist sehr kurz im Vergleich mit der Lebensdauer der Welt. Paulus sagt vom Makrokosmos (dem großen Weltgebäude), sein Wesen sei die Vergänglichkeit (1. Kor. 7,31); wie viel mehr gilt dies von dem Mikrokosmos, der kleinen Welt eines Menschen. Endlich hätte er sagen können: Mein Leben ist kaum etwas vor den Engeln, deren Lebensdauer mit dieser Welt anfing und mit der zukünftigen fortwähren wird, also von gleicher Dauer ist, wie beide Welten zusammen. Aber all diese Vergleiche lassen denjenigen weit zurück, den David hier macht, indem er sagt: Mein Leben ist wie nichts vor dir, Gott, der du ewig bist, a parte ante und a parte post, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Nathanael Hardy † 1670.
Ja, nichts als ein Hauch ist jeglicher Mensch. (Grundtext) An anderen Stellen wird dies etwas schonender ausgedrückt. So Ps. 144,4; Der Mensch gleicht einem Hauch, und Ps. 78,33: Er ließ ihre Tage wie einen Hauch dahinschwinden. Hier aber sagt er es gerade heraus und mit großem Nachdruck: Jeder Mensch ist geradezu ein Hauch, die Eitelkeit selbst. Und wie wenn das noch nicht genügte, fügt er bei: Er ist nichts als ein Hauch, lauter Eitelkeit, bloße Eitelkeit, jeder Art Eitelkeit, nichts als Eitelkeit; nichts anderes, nichts mehr. Oder doch etwas mehr? Sie wiegen weniger als ein Hauch, Ps. 62,10. Und um auch nicht den Schatten eines Zweifels zu lassen, prägt er diese Lehre mit einer starken Versicherung in unser Herz: Fürwahr, wahrlich, ohne allen Widerspruch, jeder Mensch ist nichts als ein Hauch. Edmund Layfielde 1630.
Vict. Bythner († 1670) legt dies so aus: Hoc est omni ex parte, ita ut vanitas et miseria quae per alias creaturas frustratim spargitur in uno homine aggregata videatur; sic homo evadit compendium omnium vanitatum quae in creaturis exant. Der Mensch ist der Sammelpunkt, in den sich alle Eitelkeit der Welt ergießt, er ist sozusagen die Universaleitelkeit. - Angeführt von William Reynolds 1657.
Nur ein Hauch ist jeder Mensch. Das war das Bekenntnis unseres ersten Vaters Adam selbst, daher er seinen zweiten Sohn Abel nannte, von eben dem Wort, das hier im Text stehet und Hauch, Eitelkeit bedeutet, welches Salomo in seinem Prediger weitläufig erklärt. I. Frisch 1719.


V. 7. Sie gehen daher wie ein Schatten. Ich sehe, dass wir Lebende nichts als Bilder sind und ein leerer Schatten. Sophokles † 406 v. Ehr.
  Sie sammeln. Dies ist die große Torheit und Krankheit in erster Linie des vorgeschrittenen Alters, dass man meint, umso mehr Vorrat sammeln zu müssen, je kürzer der Weg wird, den man noch zu machen hat. Sind die Hände auch stets und zu jeder anderen Arbeit untauglich, zum Zusammenraffen sind sie noch gelenkig genug! Erzbischof Robert Leighton † 1684.


V. 8. Ich hoffe auf dich. Welch ein herrliches Vorrecht, sich auf den Unerschütterlichen stützen zu dürfen, bei dem Unveränderlichen Zuflucht zu haben, sich an den ewigen Halt zu klammern, der allein unserer Seele völlig genügt, ja in den einzudringen, in dem wir leben und weben, in Ihn, der die Liebe ist. E. B. Pusey, 1853.


V. 9. Lass mich nicht den Narren ein Spott werden. Gib nicht zu, dass sie in ihrem Glück mich in meinem Unglück verspotten und mir vorwerfen, man vertraue dir umsonst und diene dir um nichts. Mt. Polus † 1679.


V. 10. Ich bin verstummt, tue meinen Mund nicht auf, denn Du hast’s getan. I. 1) Dieses Verstummen Davids ist nicht so zu fassen, als ob der Prophet Gott nichts mehr vorzubringen gehabt hätte in Gebet und Flehen. Er war nicht so stumm, dass er nicht mehr hätte beten, ja zu Gott schreien können, V. 9.11.13. 2) Auch war er nicht so stumm, dass er seine Sünden nicht beweint und bekannt hätte. 3) Auch war es nicht ein Verstummen aus Stumpfsinn und Gefühllosigkeit. Es ist nicht so gemeint, dass er nach und nach dem harten Geschick ein hartes Herz entgegengestellt hätte. Nein, er ließ seine Klage vor Gott kommen; mit dem Leiden wuchs auch seine Klage über die hart empfundene göttliche Hand. 4) Noch viel weniger schwieg er in der Art derjenigen, von den es Amos 6,10 heißt, dass sie in ihrem Elend den Entschluss gefasst hätten, an den Namens Gottes, den sie früher gerühmt hatten, nicht mehr zu denken. II. Dagegen war er 1) so stumm, dass er sich weder über Gottes Vorsehung beklagte noch mit ihm haderte noch auch irgendwelche harten Gedanken über Gott hegte. Er brachte wohl seine Klage vor ihn, aber Gott anzuklagen erlaubte er sich nicht. 2) Er verstummte so, dass er sich auch nicht verteidigte oder seine eignen Wege vor Gott rechtfertigte, als ob sie gerecht wären und er sein Leiden nicht verdient hätte. 3) Er war so still, dass er vernahm, was Gott ihm durch die Züchtigungen zu sagen hatte. Niemand kann auf einen anderen hören, solang er immer selber das Wort führen will. 4) Endlich war der Prophet in dem Sinne still, dass er sich Gottes Wege gefallen ließ, sich ganz bei dem beruhigte, was Gott über ihn verfügte, in der Gewissheit, dass Gottes Wille nicht nur gut, sondern das Beste für ihn sei. Thomas Burroughs 1657.
  Ein stiller Christ erwiderte auf die Frage, was für Nutzen er von Christus habe: "Ist das kein Nutzen, dass ich von euren Vorwürfen nicht aufgeregt werde?" Si tu tacueris, Deus loquitur: Wenn du schweigst, redet Gott für dich - und er tut’s weit besser, als wir es selber könnten. Christopher Sutton 1692.
Du hast’s getan. Dem Vater Richard Camerons wurde von seinen gefühllosen Verfolgern das noch blutende Haupt seines Sohnes ins Gefängnis gebracht und er spöttisch gefragt, ob er es kenne. Er bejahte dies, indem er die bleiche Stirne küsste, und setzte bei: "Es ist der Herr! Und sein Wille ist gut, er kann mir und den Meinen kein Unrecht tun, sondern hat Gutes und Barmherzigkeit uns folgen lassen unser Leben lang!" Horatius Bonar 1847.
Denn Du hast’s getan. Leib und Seele dieses Heiligen lagen sehr danieder zu der Zeit. Aber in Krankheit und Trauern denkt er daran, wessen Hand ihn schlägt. Du! Du, den ich herzlich liebe - so kann ich es kindlich aufnehmen; Du, den ich vielfach beleidigt habe - so kann ich es geduldig tragen; ja Du, der mich hätte in ein Flammenbett werfen können, statt auf mein Krankenlager - so will ich deine Zurechtweisung dankbar annehmen. William Gurnall † 1679.
  Ich will schweigen, denn Du, Herr, hast’s getan - ich gurre, wie eine Taube - Herr, Du zermalmest mich zu Staub, aber ich lass es mir gefallen, denn es kommt von deiner Hand. - Letzte Worte Jean Calvins † 1564.
  Ein Besucher einer Taubstummenanstalt fragte eines der Mädchen u. a.: "Warum bist du von Geburt an taubstumm?" Ein tiefer Schmerz zuckte einen Augenblick über ihr Gesicht, verlor sich aber, indem sie antwortete: "Ja, Vater, denn es ist also wohlgefällig gewesen vor dir." Frau Rogers 1856.


V. 12. Du machst, dass sein Köstlichstes vergeht wie eine Motte. (Übersetzung von Kautzsch und anderen.) Wie eine Motte bei dem leisesten Druck in Staub zerfällt, so leicht sinkt auch der Mensch hin unter dem Finger des Allmächtigen. George Paxton † 1837.
  Die Motten des Ostens sind sehr groß und schön, aber kurzlebig. Nach den ersten Regenschauern kann man diese glänzenden Insekten, vom Hauch des Windes getragen, umherflattern sehen; aber Trockenheit und ihre zahlreichen Feinde machen ihrem Leben bald ein Ende. So schwindet auch des Menschen Schönheit dahin, wie dieser muntere Schwärmer, der doch mit seinem Gewand voll Purpur, Scharlach und Grün so herrlich geschmückt ist. John Kitto † 1854.
Verzehrt wie von Motten. Der Körper ist das Kleid der Seele. Darin hat sich die Sünde wie eine Motte eingenistet; nach und nach zerfrisst sie denselben, zuerst die Schönheit, dann die Kraft und endlich den Zusammenhang der einzelnen Teile. Bischof George Horne † 1792.


V. 13. Höre mein Gebet, Herr. In diesem Gebet Davids finden wir die drei Haupteigenschaften eines vor Gott angenehmen Gebets. Zuerst Demut. Er bekennt demütig seine Sünden und seine eigne Schwäche und Wertlosigkeit. Wir sollen unter dem Druck der Trübsal nicht einen stoischen Geist, hart wie ein Kieselstein, in uns auskommen lassen, als solche, die weibisches Murren und Klagen hassen, damit wir nicht in das entgegengesetzte Übel verfallen, die Hand Gottes zu verachten, sondern wir müssen unser stolzes Herz beugen und unsere ungezügelten Leidenschaften brechen. Die zweite Eigenschaft dieses Gebets ist Innigkeit und Dringlichkeit, wie solche in der feinen Steigerung liegt: Höre mein Gebet, und wenn Worte nicht durchdringen, so vernimm mein Schreien, und wenn es dem nicht gelingt, so schweige nicht über meinen Tränen, dem Beweglichsten von allem. Die dritte Eigenschaft ist Glaube. Wer zu Gott kommen will, muss glauben, dass er sei und denen, die ihn suchen, ein Vergelter sein werde (Hebr. 11,6). Und wahrlich, ebenso wie derjenige, der zu Gott kommen will, dies glauben muss, so muss auch, wer es glaubt, zu Gott kommen; und wenn ihm nicht sofort Antwort wird, so fasse er seine Seele in Geduld, warte auf den Herrn und gehe zu keinem anderen. Erzbischof Robert Leighton † 1684.

V. 13b. Eigentlich sind ja alle Menschen Pilger. Auch die Bösen haben auf Erden keine bleibende Stätte, jedoch gegen ihre Neigungen; ihr Wünschen und Trachten geht darauf, dass sie doch für immer bleiben könnten. Sie sind wohl Fremdlinge, aber gegen ihren Willen. Gottes Kinder aber sind, mögen sie auch auf Erden Heimat und Bürgerrecht besitzen, ihrer innern Stellung nach doch stets Fremdlinge und Beisassen. Ein solcher Beisasse ist nicht Bürger an dem Ort, wo er lebt, weder durch Geburt noch Bürgerrecht, sondern hat seine Heimat in einem anderen Land. Im Gegensatz zu den Eingeborenen des Landes heißt er darum ein Fremder, wie z. B. ein Franzose, der sich bei uns niedergelassen hat. Ein Pilger aber hat gar nicht die Absicht, sich da niederzulassen, sondern er reist eben durch eine Stadt und ist immer unterwegs nach seiner Heimat. Redet man also von dem Heimatland der Kinder Gottes, so sind sie in einem anderen Land Bürger, in der Welt aber nur Beisassen; betrachtet man jedoch die Bewegung und Reise, so sind sie Pilgrime. Thomas Manton † 1677.
  Ein Fremdling ist 1) abwesend von Vaterland und Vaterhaus; so wir. 2) Er ist im fremden Lande nicht bekannt, er wird nicht nach seinem Stand und seiner Erziehung geachtet. Die Heiligen in der Welt gleichen Fürsten, die inkognito reisen. 3) Er ist manchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt. Die Frömmigkeit, sagt Tertullian, gleicht einer seltenen Pflanze aus einem fremden Land: Sie gedeiht in der Welt nicht. 4) Er hat Geduld, tritt schlechter Behandlung nicht entgegen und begnügt sich mit Pilgerkost und -wohnung. 5) Er ist vorsichtig, um keinen Anstoß zu geben. 6) Er ist dankbar für die kleinste Freundlichkeit. Ein Wenig ist in der Fremde viel. 7) Ein Fremder, der eine Reise vor sich hat, möchte sie so schnell als möglich zurücklegen. So wünschen wir, die wir nach dem Himmel reisen, bald am Ziele zu sein. 8) Er kauft nichts, was er nicht leicht mit sich tragen kann, keinen Baum, Haus, Geräte, sondern etwa Perlen, Edelsteine und andere solche Gegenstände, die ihn ans der Reise nicht beschweren. 9) Sein Herz ist in der Heimat. 10) Er fragt des Öftern nach dem rechten Weg, damit er sich nicht verirre. 11) Er trifft alle Vorkehrungen für seine Heimkehr, wie ein Kaufmann, damit er reich beladen heimkomme. So wollen auch wir vor Gott erscheinen in Zion! Thomas Manton † 1677.


V. 14. Lass ab von mir, dass ich mich erquicke. David war noch nicht wieder aufgerichtet von der Sünde, die ihn so sehr tief gebeugt hatte, V. 11 f. Darum kann er noch nicht willigen Herzens an den Tod denken, bis er wieder in heiligerer Verfassung ist. In solchem Grad stört die Sünde das innere Gleichgewicht, vollends den Frieden des neuen Bundes, das heitere Gewissen und die innere Freude. Alles Unheilige wirkt darauf, wie Gift aus Spirituosen, die damit augenblicklich ganz durchsetzt werden. William Gurnall † 1679.
  Wenn der Psalmist so den Herrn der Welt anruft, so zeigt er allerdings eine gewisse Anhänglichkeit an dieses Leben. Dieses Gefühl trägt aber einen sehr verschiedenen Charakter - je nach den begleitenden Umständen. 1) Es gibt eine sündhafte Anhänglichkeit an das Leben. Bei diesem gewöhnlichsten, aber überaus schlimmen Fall hat die Liebe zum Leben ihren Grund in der zeitlichen Ergötzung der Sünde. 2) Es gibt aber auch eine unschuldige Anhänglichkeit an das Leben, die unser Mitgefühl weckt. Auf unsrer Wanderung entdecken wir manchmal kleine Oasen, frische grüne Plätzchen voll Lebenslust, Harmonie und Freude. Wir kennen solche Ehen, da eins dem anderen durch allerlei kleine Aufmerksamkeiten Jahr um Jahr die Schwierigkeiten erleichtert und die Freuden erhöht. Wir kennen Eltern und Kinder, deren Zusammenleben sich auch in prüfungsvollen Zeiten zu einem täglichen Fest gestaltet. Da sind ferner gute Herrschaften und treue Dienstboten. Dort einzelne benachbarte Familien, die in voller Eintracht miteinander leben und manche Kreise, in denen zu verkehren eine Lust, deren Gesellschaft außerordentlich anziehend ist. Hin und wieder haben wir Berührung mit Personen, deren herrliche Charakterzüge bei allgemeinem Wohlergehen nur heller strahlen. - Du möchtest doch wohl keinen Tadel über einen Mann aussprechen, der, in so glücklicher Gemeinschaft lebend, beim Betreten des Weges alles Fleisches riefe: Lass ab von mir, dass ich mich erquicke? 3) Aber das menschliche Leben ist auch im Stande, eine löbliche Anhänglichkeit hervorzurufen, der wir unser Einverständnis so wenig vorenthalten können, dass wir uns vielmehr selbst unter ihren Einflug zu stellen beabsichtigen; und zwar können wir uns diesen Vers als Bitte eines Reumütigen, eines Heiligen oder eines Menschenfreundes denken. a) Ein Reumütiger mag so beten. Er ist vielleicht erst vor kurzem durch Gottes Geist von seiner Sünde überführt worden und setzt noch Zweifel in Ursprung, Wert und Wirkung der mächtigen Gefühle in seinem Innern. Er weiß, dass wir heilige Einflüsse verspüren können, ohne wahrhaft bekehrt zu sein. Solche Seelen, die noch keine Klarheit über ihren inneren Zustand erlangt haben, wünschen sehnlich, so lange zu leben, bis die Gnade sie von Sieg zu Sieg geführt habe und sie ihren Beruf und Erwählung haben fest machen können. Aber sie können auch ihre Standhaftigkeit verlieren und diese Worte als Gefallene stammeln, schamrot und zitternd noch einmal um Wiederaufrichtung bittend. b) Oder es ist ein Gottesmann, der so betet. Die Aufgabe, für Gottes Ehre unter den Menschen, sei es durch Reden und Handeln oder durch Leiden, einzutreten, ist den Heiligen auf Erden übertragen. So kann gerade dieser Auftrag, den Sündern zu widersprechen, die Anhänglichkeit eines Knechtes Gottes an dieses Leben erhöhen, obwohl er der Freuden Fülle erst vor Gottes Angesicht findet, - eine edle, gottgeweihte Gesinnung, die die Engel selbst ehren müssen. c) Es mag jemand als Menschenfreund um Verlängerung seines Lebens beten. Man denke an einen edelmütigen Gönner und Beschützer, einen Mann, der nur darauf sinnt, Gutes zu tun; man denke an zärtliche Eltern; endlich an einen Prediger der Gerechtigkeit, einen guten Diener Christi, wie der, den wir heute bestatten. (Vergl. Phil. 1,24.) Joseph Hughes 1822.


Fußnoten

V. 2-4. Schweigen, Sinnen und Sprechen hat seine Zeit - aber auch seine Unzeit.
V. 3.10. Es gibt sieben Arten des Stillschweigens; 1) ein stoisches (gefühlloses), 2) ein berechnendes, 3) ein törichtes, 4) ein verdrießliches, 5) ein erzwungenes, 6) ein verzweifelndes, 7) ein kluges, heiliges und liebliches Schweigen. Th. Brooks † 1680.
V. 5. 1) Was dürfen wir von unserm Ende zu wissen wünschen? Nicht das Datum, den Ort und die näheren Umstände, sondern a) unseren Zustand bei unserem Ende: Wird es das Ende eines Heiligen oder eines Sünders sein? b) Die Gewissheit seines Eintreffens. c) Seine Nähe. d) Wohin es führt. e) Was es erfordert an Achtsamkeit, Zurüstungen und Pass. 2) Warum sollen wir Gott bitten, dass er uns unser Ende kundtue? Weil diese Erkenntnis so außerordentlich wichtig, aber auch so schwierig zu erlangen ist und in wirksamer Weise nur von dem Herrn verliehen werden kann. William Jackson 1870.
  David betet, 1) dass er in die Lage versetzt werde, sich beständig das Ende des Lebens vor Augen zu halten. Es muss ja alles nach seinem Ausgang beurteilt werden. "Und merkte auf ihr Ende." (Ps. 73,17) Was ist ein ehrbares, fröhliches, tugendhaftes Leben auf Erden im Angesicht der Ewigkeit? Das Ende! Was wird’s sein? 2) Dass er die Pflichten dieses Lebens treu erfüllen möge. Das Maß seiner Tage, wie kurz, wie viele Ausgaben, und wie wenig Zeit zur Erfüllung derselben! 3) Dass er aus den mancherlei Beschwerden des menschlichen Lebens viel Belehrung und Nutzen ziehe. Die Erkenntnis der Kürze und Gebrechlichkeit meines Lebens kann mich demütig machen und eifrig, solange ich zum Dienst tauglich bin; abhängiger von Gottes Kraft, geduldiger und ergebener unter Gottes Willen, reifer für den Himmel. George Rogers (Direktor von Spurgeons Predigerseminar) 1870.
V. 6c. Der Mensch ist ein Hauch, d. h. er ist vergänglich. Man beachte, mit welchem Nachdruck diese Wahrheit hier ausgesprochen ist. 1) Jeder Mensch, ohne Ausnahme, sei er hoch oder niedrig, arm oder reich, ist ein Hauch. Auch wenn er jung und stark, in gesunder Kraft, in Reichtum, Ehre usw. dasteht. 2) Er ist nichts als ein Hauch, ganz und gar eitel, so eitel wie man sich nur immer denken kann. 3) Ja, fürwahr, es ist so. 4) Sela ist beigefügt als Notabene. Matthew Henry † 1714.
V. 7. Die Eitelkeit des sterblichen Menschen ist hier nach drei Seiten dargestellt. 1) Eitel sind unsre Freuden und Ehren; Sie gehen daher wie ein Schatten. 2) Eitel unser Kummer und unsere Furcht; Sie machen sich viel vergebliche Unruhe. 3) Eitel unsre Sorgen und Mühen; Sie sammeln und wissen nicht, wer es einnehmen wird. Matthew Henry † 1714.
  Was kann die Welt uns bieten? 1) Nutzlose Ehren; was den Weltmenschen als wesentliche Ehre erscheint, ist nur Schatten - ein Schemen. 2) Unnütze Sorgen; eingebildete Sorgen verdrängen die Sorge um das eine, das Not ist. 3) Unbrauchbare Reichtümer, die weder den Besitzern dauernde Befriedigung gewähren noch denen sie sie hinterlassen. George Rogers 1870.
V. 8. Wes soll ich mich trösten? 1) Was für eines Heils als Sünder? Der Gerechtigkeit aus den Werken oder derjenigen aus Gnaden? 2) Was für eines Trostes als Leidender? Eines irdischen oder eines himmlischen.? 3) Was für einer Hilfe als Betender? Einer schwachen oder mächtigen, einer gegenwärtigen oder bloß fern zukünftigen? W. H. Jackson 1870.
  1) Ein dringender Anlass: Nun, Herr. Es gibt Zeiten, da wir es besonders nötig haben, zu Gott aufzuschauen und zu sagen; "Nun, Herr", "Vater, die Stunde ist gekommen." 2) Ein Ausruf frommer Ergebenheit: "Nun, Herr, wes soll ich mich trösten?" Wo ist meine Hoffnung, wo mein Vertrauen, auf wen soll ich schauen? Ich bin nichts, die Welt ist nichts, alle irdischen Quellen, aus denen Trost und Vertrauen quillt, versiegen: Wes soll ich mich trösten? Im Leben, im Sterben, in einer Welt des Todes, im Blick auf das kommende Gericht und die nahe Ewigkeit? Was bedarf ich da? George Rogers 1870.
V. 9. Unser Gebet sollte umfassend sein: Errette mich von aller meiner Sünde. Wir haben oft aufs Neue nötig, zu sagen: Gott, sei mir Sünder gnädig! Trübsale sollten uns all unsere Sünden erinnern. Wenn wir nun um Errettung von aller Sünde bitten, so können wir sicher sein, dass wir auch von derjenigen befreit werden, die unser Leiden verursacht hat. 2) Das Gebet sollte aber auch ganz speziell sein: Lass mich nicht den Narren ein Spott werden. Lass nicht zu, dass ich im Leiden mit Worten oder Gebärden Ungeduld zeige und dadurch auch nur einem Narren Anlass zum Lästern gebe. Der Gedanke, dass viele unser Verhalten misstrauisch beobachten, sollte uns vor der Sünde besonders auf der Hut sein lassen. George Rogers 1870.
V. 2-4.10. Das Schweigen des Unmuts und das Schweigen der Ergebung.
V. 11. 1) Trübsale kommen von Gott. Deine Plage, es sind Plagen seiner Hand. Nicht das Richtschwert des Gesetzes, sondern die Rute des Vaters. 2) Trübsale werden von Gott wieder abgewendet: Wende usw. Nicht um Wunder bittet er, sondern dass Gott, wie es ja seine Art ist, durch natürliche Mittel helfend eingreife. Zu den Mitteln, die wir oder andere zu unserer Rettung anwenden, wollen wir Gottes Segen erflehen. 3) Mit den Trübsalen verfolgt Gott einen besondern Zweck. Denn ich bin verschmachtet wegen der Anfeindung deiner Hand (wörtlich). Gott widersteht uns, wenn zwischen unserem und seinem Willen ein Gegensatz ist. Der Psalmist nun gibt sich selbst gefangen in dem Kampf. - Wir sollten ängstlicher darauf bedacht sein, dass dieser Zweck erreicht, als darauf, dass die Plage von uns gewendet werde; denn wenn jener erfüllt ist, weicht auch diese. George Rogers 1870.
V. 12. 1) Die Ursache unsrer Prüfungen; Um der Sünde willen. O dass diese Prüfung kommen musste, mir all meinen Trost, den Frieden meines Herzens und das göttliche Wohlgefallen zu rauben! Nein, nicht also! Der ganze Zweck ist, deine Sünde wegzunehmen; die Schlacken, nicht ein Körnchen Gold, die Sünde, einzig die Sünde! 2) Die Wirkung unsrer Prüfungen: Alles, was uns für dieses Leben begehrenswert scheint, aber nicht unserem wahren Wohl dient, wird verzehrt. Doch - die Gewänder, prächtig vor Menschenaugen, mögen mottenzerfressen werden, aber der Seele Gewand, das Kleid der Gerechtigkeit, kann nicht zernagt werden. 3) Die Absicht in unseren Prüfungen. Diese sind keine Verfügungen der göttlichen Strafgerechtigkeit, sondern wohl gemeinte Zurechtweisungen und väterliche Bestrafungen. Christus, unserm Bürgen, wurde das Strafgericht auferlegt, uns nur die väterlichen Züchtigungen. 4) Der gute Grund für unsere Prüfungen. (Ach wie gar nichts sind doch alle Menschen.) Der vernünftig denkende Mensch muss sich sagen: Wie könnte in einer Welt wie dieser irgendjemand erwarten, von Prüfungen befreit zu bleiben? Diese Erdenwelt bleibt ja für den Christen, was sie ihm in seinem unwiedergeborenen Zustande war, und ebenso sein Leib. Er trägt eine bekehrte Seele in einem unbekehrten Leib. Wie kann er daher den äußerlichen Übeln des Lebens entgehen? George Rogers 1870.
V. 13. David macht betend vor Gott geltend, welch guten Einfluss die Trübsal auf seine Seele gehabt hatte; 1) Sie hatte ihn zum Weinen gebracht. 2) Sie hatte ihn ins Gebet getrieben. 3) Sie hatte dazu beigetragen, ihn von der Welt zu entwöhnen. Matthew Henry † 1714.
V. 13b. Bin ich Gottes Pilgrim und Beisasse? Dann will ich 1) mich dieses hohen Vorrechts freuen; 2) mich mit dem Los, das Pilgrimen und Beisassen in der Welt gemeiniglich zuteil wird, begnügen. 3) Befinden sich von diesen meinen Stammverwandten welche in meiner Nähe, so will ich mit ihnen vertraute Gemeinschaft pflegen. 4) Ich möchte nicht in die Dinge dieser Welt verwickelt werden. 5) Meine Liebe wende sich vielmehr dem zu, was droben ist, und mein Wandel sei allezeit im Himmel. 6) Ich will zwar nicht ungeduldig nach der Heimat ausschauen, sie aber wahrhaft schätzen. William Jay † 1853.
V. 14. I. Der Gegenstand der Bitte Davids nicht: - dem Tod zu entrinnen und immer in diesem Leben zu bleiben, da er wohl weiß, dass wir von hinnen müssen; vielmehr 1) dass er sich wieder erhole voll seinen Trübsalen, und 2) noch etwas länger in diesem Leben weilen dürfe. So ein Gebet ist durchaus passend, wenn es in Unterordnung unter Gottes Willen dargebracht wird. II. Die Gründe für diese Bitte: 1) dass er die über ihn verbreiteten Verleumdungen durch seinen künftigen Wandel zunichte machen könne; 2) dass ihm klarere Beweise seines Anteils an der göttlichen Gnade gegeben werden mögen; 3) dass er ein Segen für andere, für seine Familie und sein Volk werde; 4) dass er völligen Frieden und wahren Trost im Sterben habe und 5) dass ihm reichlicher dargereicht werde der Eingang zu dem ewigen Reich unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi. George Rogers 1870.

1. Da der Psalmist, wie sich ergeben wird, in V. 4 den Bruch dieses Vorsatzes als Vergangenes erzählt, ist dieser ganze Psalmteil imperfektisch oder plusquamperfektisch zu übersetzen.

2. So die engl. Übers., sowie Luther 1524. Die schwierige Stelle wird sehr verschieden gedeutet. In der Ausl. kommt Spurgeon mit denen überein, die bO+Imi als Abkürzung der Redensart (z. B. 1. Mose 31,24) vom Guten wie vom Bösen = von altem ansehen. Da aber das, wovon jemand schweigt, nie mit Nm eingeführt wird, wird bO+Imi eher den Zustand beschreiben, worin sich der Dichter befand: fern von allem Glück. Keßler deutet: auf Glück verzichtend.

3. Uns scheint, Spurgeon fasse mit Unrecht V. 5 ff. als Inhalt dessen, was David in seiner Erregung geredet hatte. Diese Auffassung will auch Luther wohl durch die Einfügung des Aber verhindern. Wir können stattdessen nach V. 4 einen Gedankenstrich setzen. Wohlweislich teilt David die Worte, die seinem Munde entfahren waren, nicht mit, da er, seinen Vorsatz brechend, in sündiger Erregung geredet hatte. Von solcher Versündigung mit der Zunge findet sich in dem Gebet V. 5 ff. keine Spur. Dieses entspringt vielmehr der abgeklärten Stimmung Davids zu der Zeit, da er diesen Psalm verfasste. Der Sturm hat sich gelegt, David verurteilt sein früheres Reden und bittet Gott, ihm einen tieferen Einblick in die eigene Vergänglichkeit zu geben, damit er das kurze Leiden dieser Zeit auf seinen richtigen Wert herabsetze und sich umso fester an Gott, seine einige, ewige Hoffnung, anklammere. Ganz abwegig ist demzufolge die Deutung, die Spurgeon der Bitte: "Tue mir meine Ende kund" zuerst gibt, ebenfalls seine Auslegung der letzten Worte von V. 5. Die Probe darauf ist, dass Spurgeon dann bei V. 6 einen durch nichts angedeuteten plötzlichen Umschwung der Stimmung bei David annehmen muss.

4. Wörtl.: was ich (noch an Lebenstagen) ermangelnd bin. Die gewöhnl. Übers.: wie vergänglich ich bin, will Kautzsch nicht gelten lassen.

5. Diese Übers. beruht auf der partizipialen Fassung von bcfni:der Feststehende = wie fest er stehe. Andere: Als lauter Hauch steht alles, was, Mensch heißt, da.

6. Nach Delitzsch entspricht nämlich das Perf. im Fragesatz dem latein. Konjunktiv, vergl. Luthers Übers. Andere Übersetzen: Worauf harre ich?