Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 17 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Gebet Davids. David würde nicht ein Mann nach dem Herzen Gottes gewesen sein, wäre er nicht ein Mann des Gebets gewesen. Er war ein Meister in der heiligen Kunst des Flehens. Zum Gebet nahm er allezeit, in jeder Not, seine Zuflucht, wie der Steuermann im Ungestüm des Sturmes nach dem Hafen ein. So häufig waren Davids Gebete, dass sie nicht alle nach Zeit und Umständen bezeichnet werden konnten. So trägt dieser Psalm einfach den Namen des Verfassers als Überschrift, ohne weitere Bemerkungen. Die Feuersglut der Anfechtung durchzittert den Psalm, aber der letzte Vers beweist, dass der, der ihn schrieb, unversehrt aus den Flammen hervorging. Wir haben in diesem Klagelied eine Berufung auf den Himmel in den Verfolgungen der Erde.

Einteilung. Wir halten uns an die Einteilung des trefflichen alten Bibelforschers David Dickson († 1662); In V. 1-4 fleht David um richterliche Entscheidung in dem Streit zwischen ihm und seinen Unterdrückern. V. 5.6 bittet er den Herrn um Gnade und Kraft, in der Anfechtung recht zu handeln. V. 7-12 sucht er Schutz wider seine Feinde, die er anschaulich schildert. V. 13.14 fleht er, dass es ihnen nicht gelingen möge, und V. 15 schließt er mit der freudigen Zuversicht, dass sich ihm zuletzt noch alles zum Besten wenden werde.


Auslegung

1. Herr, erhöre die Gerechtigkeit, merke auf mein Schreien;
vernimm mein Gebet, das nicht aus falschem Munde geht.
2. Sprich du in meiner Sache, und schaue du aufs Recht.
3. Du prüfest mein Herz, und siehst nach ihm des Nachts
und läuterst mich und findest nichts.
Ich habe mir vorgesetzt, dass mein Mund nicht soll übertreten.
4. Ich bewahre mich in dem Wort deiner Lippen vor Menschenwerk,
vor dem Wege des Mörders.


1. Herr, erhöre die Gerechtigkeit, oder: Höre, Herr, (die) gerechte Sache. Wer die schlechteste Sache hat, der macht den meisten Lärm. Da fürchtet die bedrängte Seele, ihre Stimme möchte übertäubt werden, und fleht nicht weniger als dreimal in diesem einen Vers um Gehör. Das geängstigte Herz ruft mit Ungestüm den großen Richter an, in der Überzeugung, dass Hören bei ihm so viel wie Helfen ist. Könnte oder wollte unser Gott uns nicht hören, so wäre unsre Lage in der Tat beklagenswert. Und dennoch liegt so manchen, die sich Christen nennen, das Gebet so wenig am Herzen, dass Gott sie nicht hört aus dem einzigen Grunde, weil sie es unterlassen, ihn anzurufen. Es mag einer ebenso gut gar kein Haus haben, wenn er doch wie die Zigeuner stets auf der Landstraße leben will; es ist schließlich ebenso gut, keinen Gnadenthron zu haben, wenn man doch seine Sache immer selbst führen will und nie zu Gott geht. Die Sorge ist mehr berechtigt, dass wir den Herrn nicht hören wollen, als dass der Herr uns nicht hören wolle. - Wohl uns, wenn unsere Sache in sich gut ist und wir sie als eine gerechte geltend machen können; denn der gerechte Richter wird nie das Recht in Unrecht kehren. Aber wie oft wird unsere Sache durch unsere Schwachheiten geschädigt!
  Merke auf mein Schreien. Dies zeigt, wie es dem Bittenden so dringlich und ernst ist. Er redet nicht nur, er weint und klagt; ein gellender Schrei um Hilfe entringt sich seinem gepressten Herzen. Wer kann dem widerstehen? Ein wirklich von Herzen kommender kläglicher Hilfeschrei könnte fast einen Felsen erweichen; da ist nicht zu fürchten, dass er bei unserm himmlischen Vater nichts ausrichte. Ein Schrei ist das erste, was aus unserm Munde kommt, und in mancher Beziehung der natürlichste aller menschlichen Töne. Sollte unser Gebet gleich dem Schreien des Kindes mehr natürlich als verständlich sein und mehr dringlich als gewählt, so wird es dadurch nichts an Beredsamkeit vor Gott einbüßen. Vernimm mein Gebet. Nicht immer sind Wiederholungen inhaltleer. Dies erneuerte "Vernimm" ist weder Aberglaube noch Plappern, sondern gleicht dem Schlag des Hammers, der denselben Nagel einmal ums andere auf den Kopf trifft, um ihn desto fester einzutreiben, oder dem anhaltenden Pochen des Bettlers an der Tür, dem man ein Almosen nicht versagen kann. Das nicht aus falschem Munde geht. Aufrichtigkeit ist die unerlässliche Voraussetzung des Gebets. Trügerische Lippen (wörtl.) sind schon bei Menschen verhasst; wie viel mehr muss Gott sie verabscheuen! In so heiligem Verkehr wie dem des Gebets ist die Heuchelei schon in ihrem geringsten Grad eben so verhängnisvoll wie töricht. Heuchlerische Frömmigkeit ist zweifache Schlechtigkeit. Wer scheinen und schmeicheln möchte, täte besser, seinen Zauber an einem Toren, wie er selbst einer ist, zu versuchen. Den allsehenden Gott zu täuschen ist eben so unmöglich, wie den Mond mit einem Netz zu fangen oder die Sonne in eine Schlinge zu bringen. Wer Gott betrügen will, der ist selbst schon aufs Gröbste betrogen. Unsere Aufrichtigkeit beim Gebet hat kein Verdienst in sich, so wenig wie der Bettler aus der Straße sich die Ernsthaftigkeit seines Begehrens als Tugend anrechnen kann. Doch achtet der Herr darauf und wird ehrlichem und dringendem Flehen sein Ohr nicht lange verschließen.

2. Sprich du in meiner Sache. Wörtlicher Luther 1519: Lass mein Urteil von deinem Angesichte ausgehen. Der Psalmist ist kühn geworden durch die stärkende Macht des Gebets; darum fleht er jetzt den Richter der ganzen Erde an, seine Sache zu entscheiden. Er war verleumdet, niedrig und boshaft verleumdet worden, und da er nun seine Sache vor den höchsten Gerichtshof gebracht hat, begehrt er, als ein Mann von gutem Gewissen, in keiner Weise der Untersuchung auszuweichen, sondern fleht dringend um ein Urteil. Er bittet nicht um Geheimhaltung, sondern möchte, dass sein Recht von Jahwes Angesicht aus öffentlich vor aller Welt bekannt und zur Geltung gebracht werde. Er wünscht den Spruch gefällt und sogleich vollstreckt zu sehen. In manchen Dingen dürfen wir wagen, eben so kühn zu sein. Wenn wir uns aber nicht auf etwas Besseres berufen könnten als auf die eigne vermeintliche Unschuld, so wäre es schreckliche Anmaßung, das Urteil Gottes herauszufordern, der die Sünde hasst. Aber auch bei David dürfen wir solche Worte nicht als Sprache eingebildeter Selbstgerechtigkeit ansehen. Wohl ist die Sündenerkenntnis im alten Bunde noch nicht so vertieft, wie es kraft der Erleuchtung des Pfingstgeistes und angesichts der überschwänglichen Offenbarung der Liebe Gottes in der Dahingabe des Sohnes bei dem Christen der Fall sein soll. Doch sehen wir ja auch bei Paulus, dem vornehmsten Zeugen unsrer gänzlichen Verderbtheit, sehr starke Beteuerungen seines guten Gewissens und lauteren Wandels gegenüber den Verdächtigungen und anderseits schon bei David und andern alttestamentlichen Frommen die Erkenntnis, dass ihre Gerechtigkeit in der Gnade Gottes, des Erlösers, gegen den sündigen, in sich der Gerechtigkeit vor Gott ermangelnden Menschen (z. B. Ps. 143, 2) wurzele. Ist Jesus unsere vollkommene und vollgültige Gerechtigkeit, so brauchen wir nichts zu fürchten; ob auch der Tag des Gerichts sogleich beginnen und die Hölle ihren Rachen zu unseren Füßen aufsperren würde, bleibt es doch dabei:

  Kühn will ich stehlt an jenem Tage.
  Wer ist, der mich vor Gott verklage?
  Mich zu befrei’n, ist mir dein Blut genug,
  Von aller Sünden grausem Bann und Fluch.

  Schaue du aufs Recht, oder: Deine Augen sehen rechtschaffen, d. i. unparteiisch. Die Gläubigen wünschen sich keinen andern Richter als Gott, auch begehren sie nicht, dem Urteilsspruch entnommen zu sein oder gar nach Grundsätzen der Parteilichkeit gerichtet zu werden. Nein, unsere Hoffnung liegt nicht in der Aussicht auf parteiische Begünstigung durch Gott und dementsprechende Aufhebung seines Gesetzes. Wir erwarten, nach denselben Grundsätzen gerichtet zu werden wie andere Menschen, und durch das Blut und die Gerechtigkeit unsers Erlösers werden wir ohne Schaden aus der Feuerprobe des Gerichts hervorgehen. Der Herr wird uns auf der Schale des Rechts ehrlich wägen; er wird nicht falsches Gewicht brauchen, um uns frei ausgehen zu lassen. Doch um unseres Herrn Jesu willen erbeben wir nicht; es wird an uns kein Mangel erfunden werden. David an seinem Teil fühlte sich seiner guten Sache so gewiss, dass er einfach wünschte, die Augen Gottes möchten darauf ruhen, und er war der festen Zuversicht, dass die Gerechtigkeit Gottes ihm alles geben werde, was er bedürfe.

3. Du prüfest mein Herz, wie das Gold im Feuer erprobt wird. Wie Petrus, so beruft sich David darauf: Du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe (Joh. 21,17). Es ist ein herrliches Ding, wenn man sich geradezu auf den Herrn berufen kann und wir den Richter selber auffordern können, zu unserer Verteidigung Zeuge zu sein. "Ihr Lieben, so uns unser Herz nicht verdammt, so haben nur eine Freudigkeit zu Gott." (1. Joh. 3,21.) Du stehest nach ihm (oder suchst es heim) des Nachts. Es ist, als wollte er sagen: Herr, du bist ja zu allen Stunden in mein Haus getreten. Du hast mich gesehen, wenn niemand sonst in der Nähe war. Du kommst unversehens und merkst auf alle, auch auf die durch keine Rücksicht auf Menschen gezügelten Handlungen, und du weißt, ob ich der Verbrechen, die man mir zum Vorwurf macht, schuldig bin oder nicht. Wohl dem, der so des allwissenden Auges, der Nähe des Allgegenwärtigen gedenken und in diesem Gedanken seinen Trost finden kann. Wir glauben sagen zu dürfen, dass auch wir solche mitternächtlichen Heimsuchungen erlebt haben, und sie waren köstlich, so köstlich, dass die Erinnerung daran unsere Sehnsucht erweckt nach der Wiederkehr solcher Gnadenstunden. Herr, vor dir sagen wir’s: Würden wir, wenn wir wirklich Heuchler gewesen wären, solch trauten Umgang mit dir gehabt haben, oder könnten nur ein so glühendes Verlangen nach Erneuerung desselben empfinden? Du läuterst (oder schmelzest) mich und findest nicht ... (Grundtext) Sicherlich meint der Psalmist: irgendetwas Heuchlerisches oder Böses in dem Sinne, in welchem die Lästerer ihn anklagten. Denn wenn der Herr unser ganzes Wesen zur Prüfung in den Schmelztiegel werfen würde, so würden auch bei den Besten die Schlacken schrecklich anzusehen sein, und die Reue würde ihre Schleusen weit auftun müssen. Münzprüfer entdecken schlechte Legierungen schnell, und wenn der Oberste aller Prüfer zuletzt von uns sagen wird, dass er nichts gefunden, so wird das wahrlich eine glorreiche Stunde sein. "Sie sind unsträflich vor dem Stuhl Gottes" (Off. 14, 5). Sogar jetzt schon kann der alles enthüllende Blick der Allwissenheit da keinen Flecken sehen, wo der große Mittler alles mit Schönheit und Vollkommenheit bedeckt.
  Ich habe mir vorgesetzt, dass mein Mund nicht soll übertreten.1 O dieser böse Mund! Ein Vorsatz um den andern wäre nötig, ihn in Schranken zu halten. Die Zahl der Zungenübel ist größer, als die aller andern Übel zusammen, und sie sind tiefer gewurzelt. Hände und Füße kann man binden; selbst einen Tobsüchtigen mag man mit der Zwangsjacke bändigen; aber wer fesselt die Zunge? Mehr als ein Vorsatz tut Not, sie, die im Sündigen so flink ist, zu beherrschen. Löwen zu zähmen und Schlangen zu beschwören ist ein Kinderspiel gegen dieses Vornehmen, denn "die Zunge kann kein Mensch zähmen" (Jak. 3,8). Wer unter den Lügen anderer zu leiden hat, sollte umso wachsamer sein über sich selbst. Eben das hat den Psalmisten wohl bewogen, den heiligen Vorsatz aufzuzeichnen, um ihn sich desto besser ins Herz zu prägen. Auch wollte er damit vielleicht beteuern, dass, wenn er etwa in seiner Selbstverteidigung zu viel gesagt hätte, dies nicht mit Absicht geschehen sei; denn er wünschte in jeder Hinsicht seine Lippen auf den lieblichen und schlichten Ton der Wahrheit zu stimmen. Trotz alledem wurde David verleumdet, als sollte gezeigt werden, dass auch die reinste Unschuld sich von der Bosheit mit Schmutz bewerfen lassen muss. Es gibt hienieden keinen Sonnenschein ohne Schatten, keine reife Frucht, an der nicht die Vögel picken.

4. Beim Tun der Menschen. (Wörtl.) Solange wir mitten unter den Menschen sind, wird uns ihr Tun und Treiben unter die Augen kommen, und wir werden genötigt sein, in unserm Tagebuch eine Rubrik "Menschenwerk" offen zu halten. Völlig frei zu sein von den toten Werken der fleischlich gesinnten Menschheit, das ist das demütige Verlangen der Seelen, die durch den heiligen Geist lebendig geworden sind. Bei dem Tun der Menschen habe ich durch das Wort deiner Lippen gemieden die Wege der Gewalttätigen. (Wörtl.) Er hatte sich auf der Heerstraße der Schrift gehalten und nicht die Nebenpfade der Bosheit erwählt. Wir würden bald dem Beispiel der Schlechtesten folgen, wenn Gottes Gnade nicht die Heilige Schrift als das rechte Mittel gebrauchte, um uns vor dem Argen zu bewahren. Die Wege der Gewalttätigen haben uns oft in Versuchung geführt. Wir wurden gereizt, Gewalttat mit Gewalttat abzuwehren oder zu vergelten; das Verlangen wurde in uns mächtig, unsere Feinde mit ihrer Münze zu bezahlen. Aber da erinnerten wir uns an das Vorbild unseres Heilands, der auf seine Feinde nicht Feuer vom Himmel herabrufen wollte, sondern sanftmütig betete: Vater, vergib ihnen! Jenes göttliche Buch, das verstaubt auf so manchem Gesims steht, ist der einzige Führer für alle, welche die verführerischen und verwirrenden Irrgärten der Sünde meiden wollen, und es ist das beste Mittel, den jugendlichen Pilger davor zu bewahren, dass er je diese gefahrvollen Wege betritt. Wer dem Buche des Lebens nicht folgt, wird ein Spielball in der Hand der Menschen, wird von ihrem gottlosen Tun und Treiben fortgerissen. David konnte als Beweis seiner Aufrichtigkeit geltend machen, dass er mit den Gottlosen auf deren verderblichen Wegen keinerlei Gemeinschaft habe. Wie dürfen wir es wagen, unsere Sache vor Gott zu bringen, wenn wir unsere Hände nicht in Unschuld waschen können bezüglich aller Verbindung mit den Feinden des erhabenen Königs?


5. Erhalte meinen Gang auf deinen Fußsteigen,
dass meine Tritte nicht gleiten.
6. Ich rufe zu dir, dass du, Gott, wollest mich erhören;
neige deine Ohren zu mir, höre meine Rede.


5. In der Anfechtung ist es nicht leicht, die rechte Haltung zu bewahren. Es ist schwer, ein Licht brennend zu erhalten, wenn viele Neider es auszublasen suchen. In schlimmen Zeiten ist das Gebet besonders notwendig; darum nehmen weise Leute dazu sogleich ihre Zuflucht. Der heidnische Philosoph Plato († 384 v. Chr.) sagte zu einem seiner Schüler; "Wenn die Menschen von dir übel reden, so lebe derart, dass ihnen niemand glaubt." Der Rat ist gut; nur hat Plato uns nicht gesagt, wie man ihn ausführen soll. Hier dagegen haben wir eine Lehre in einem Vorbild verkörpert: Wenn wir behütet sein möchten, so müssen wir zu dem Hüter Israels rufen und um den göttlichen Beistand für unsere Sache werben. Erhalte meinen Gang2: halte meine Schritte fest, wie ein vorsichtiger Wagenlenker seine Pferde fest am Zügel hält, wenn es bergab geht. Wir schreiten bald schnell, bald langsam, und auch der Weg ist nie lang der gleiche; aber ist Gott bei uns, unseren Gang zu erhalten, so kann uns nichts in der Beschaffenheit des Weges oder unserer Schritte zu Fall bringen. Wer schon einmal gestrauchelt ist und sich die Knie arg verletzt hat, der sollte wohl mit zweifacher Inbrunst so beten. Und wir alle, die wir infolge von Adams Fall auf so schwachen Füßen stehen, sollten jede Stunde des Tages genauso beten. Wenn ein sündloser Vater solchen Fall getan, wie sollte ein sündiger Sohn sich brüsten dürfen? Auf deinen Fußsteigen. Wir können uns des Bösen nicht enthalten, ohne uns zum Guten zu halten. Wird der Scheffel nicht mit Weizen gefüllt, so mag er bald wieder voll Spreu sein. Wolle der Herr uns tüchtig machen, in allen Regeln und Pflichten unseres allerheiligsten Glaubens festen Schrittes zu wandeln, vermöge seiner bewahrenden Gnade! Dass meine Tritte nicht gleiten. Wie? Gleiten auf Gottes Wegen? Ja, der Weg ist freilich gut, aber unsere Füße sind schlecht; darum gleiten sie leicht, selbst auf des Königs Heerstraße. Wen wundert’s, wenn fleischlich gesinnte Menschen gleiten und fallen auf ihren selbst erwählten Wegen, die gleich dem Tal Siddim voll verderblicher Gruben sind (1. Mose 14,10)? Straucheln kann man über ein Gebot sowohl als über eine Anfechtung. Jesus Christus selbst ist vielen ein Stein des Anstoßens (Jes. 8,14), und die Lehre von der Gnade ist schon manchem ein Ärgernis geworden. Der Herr allein kann unseren Gang in den Fußsteigen der Wahrheit bewahren.

6. Ich nun, dem nach dem Vorhergehenden das Gewissen ein gutes Zeugnis gibt, rufe zu dir; denn die Not treibt mich. Ich habe dich angerufen (V. 1) und nahe jetzt deinem Altar aufs Neue mit derselben Bitte in größter Zuversicht; denn du wirst mich erhören (wörtl.), wie du, o Gott, es allezeit tust denen, die auf dich trauen. Die Erfahrung ist eine treffliche Lehrmeisterin. Wer in Stunden der Not die Treue Gottes erfahren hat, der kommt mit großer Freudigkeit, sein Anliegen vor Gottes Thron zu bringen. Nach dem Quell von Bethlehem, aus dem wir in vergangenen Jahren so manchen erfrischenden Trunk tun durften, verlangt es unsere Seelen immer wieder (2. Samuel 23,15); auch wollen wir von ihm nicht den löcherigen Zisternen der Erde zuliebe lassen. Neige deine Ohren zu mir, höre meine Rede. Du Hoher und Erhabener, der du auf das Niedrige siehst, beuge dich vom Himmel hernieder und lege dein Ohr an meinen Mund. Gewähre mir dein volles Gehör, wie es Menschen tun, wenn sie sich hinüberlehnen, um jedes Wort des Freundes aufzufangen. Der Psalmist kommt hier zu seiner ersten Bitte zurück und gibt uns damit das Beispiel, wie wir unsere Sache wieder und wieder treiben sollen, bis wir volle Gewissheit haben, dass unser Ziel erreicht ist.


7. Beweise deine wunderbare Güte, du Heiland derer, die dir vertrauen,
wider die, so sich wider deine rechte Hand setzen.
8. Behüte mich wie einen Augapfel im Auge,
beschirme mich unter dem Schatten deiner Flügel
9. vor den Gottlosen, die mich verstören,
vor meinen Feinden, die um und um nach meiner Seele stehen.
10. Ihr Herz schließen sie zu,
mit ihrem Munde reden sie stolz.
11. Wo wir gehen, so umgeben sie uns;
ihre Augen richten sie dahin, dass sie uns zur Erde stürzen;
12. gleichwie ein Löwe, der des Raubs begehrt,
wie ein junger Löwe, der in der Höhle sitzt.


7. Beweise deine wunderbare Güte. Wunderbar ist Gottes Gnade, weil sie einzigartig, uralt und unwandelbar ist, und zumal wegen der Wunder, die sie wirkt. Der Grundtext spricht von den Gnaden Gottes in der Mehrzahl. Sie sind in der Tat sehr mannigfach; wer könnte sie zählen? Die Krone aller ist unsere Erlösung durch das teure Blut des Eingebornen. Gottes Gnade ist aber manchmal verborgen. Der Psalmist bittet: Erweise sie! Erweisungen der göttlichen Liebe sind unvergleichliche Herzstärkungen für die Ermattenden. Welch köstliche Bitte! Lasst uns sie recht im Herzen bewegen. Nach dem Grundtext gehört das "wunderbar" eigentlich zu dem Zeitwort; es steht hier das gleiche Zeitwort, das wir Ps. 4,4 übertragen haben; "Der Herr hat sich einen Frommen wundersam ausgesondert." So hier: Erweise wunderbar deine (vielfache) Gnade, erzeige sie mir auf besondere Weise in dieser Stunde schwerer Trübsal und mache sie dadurch auch vor andern herrlich.
  Überaus tröstlich ist der Name, der hier unserm gnadenreichen Gott beigelegt wird: Du Heiland derer, die dir vertrauen. Er ist der Gott des Heils. Es ist jetzt und immer seine Gewohnheit, die Gläubigen zu retten. Manche ziehen die Worte "durch deine rechte Hand" zu dem Wort "Heiland", also: Der du durch deine rechte Hand rettest, die sich bei dir bergen oder bei dir Zuflucht suchen, von (ihren) Widersachern.3 Jahwe setzt seine beste und herrlichste Kraft ein, indem er seine rechte Hand der Weisheit und Macht dazu gebraucht, um alle die zu retten, die bei ihm Zuflucht suchen, wer immer sie sein mögen. Welch seliger Glaube, der uns den allmächtigen Schutz des Himmels sichert! Gepriesen seist du, Gott, der du dich gegen unwürdige Sterbliche so gnadenreich erweisest, wenn ihnen nur die Gnade geworden ist, auf dich zu trauen. Die rechte Hand Gottes streckt sich aus, um allen Schaden von den Heiligen fern zu halten. Gott ist um Mittel nie verlegen. Seine Hand genügt. Er wirkt ohne Mittel und Werkzeuge so gut wie mit denselben.

8. Behüte mich wie einen Augapfel im Auge (wörtl.: wie das Männchen, die Tochter des Auges - zwei bildliche Bezeichnungen des Augensterns). Kein Teil des Leibes ist kostbarer und empfindlicher und wird sorgsamer gehütet als das Auge. Und wieder ist kein Teil des Auges so besonders des Schutzes bedürftig wie der Augenstern, die Pupille. Der Allweise hat dem Auge eine wohl beschützte Stellung gegeben; es ist von vorstehenden Knochen umringt, wie Jerusalem von Bergen. Dazu hat sein erhabener Schöpfer es mit mancherlei Hüllen innerer Bedeckung versehen, außer dem Wall der Augenbrauen, dem Vorhang der Augenlider und dem Zaun der Wimpern. Und über das alles ist jedem Menschenkind eine so große Wertschätzung für sein Auge eingegeben und eine so rasche Empfindung jeglicher Gefahr, dass für kein Glied des Leibes treuer gesorgt ist als für das Sehorgan. Eben so sorgsam, Herr, behüte du mich; denn dein Wort (5. Mose 32,10) gibt mir zu der kühnen Bitte ein Recht. Wie viel mehr noch dürfen wir, die Glieder des mystischen Leibes Jesu, so beten! Beschirme mich unter dem Schatten deiner Flügel. Wie die Vogelmutter (es ist hier zunächst an den Adler zu denken, vergl. 5. Mose 32,11) ihre Brut völlig vor Schaden beschirmt und sie unterdessen an ihrem warmen Herzen hegt und pflegt, indem sie sie mit ihren Flügeln deckt, so mache du es mit mir, du treuer Gott; denn ich bin dein Küken und deine Liebe übertrifft an Wärme und Zärtlichkeit alle andere.

9. Vor den Gottlosen usw. Die Feinde, von denen David errettet zu werden trachtete, waren gottlose Menschen. Es ist für uns hoffnungsvoll, wenn unsere Feinde Gottes Feinde sind. Sie waren ihm in innerster Seele Feind4, waren seine Todfeinde, denen nichts als sein Tod genügen wollte. Die Feinde unserer Seele sind im höchsten Sinne unsere Todfeinde; denn die wider unseren Glauben Krieg führen, trachten uns nach dem Leben unsers Lebens. Auch die Todsünden sind unsere Todfeinde, und welche Sünde trüge nicht den Tod in sich? Die Feinde verstörten David: Sie gingen darauf aus (perf. conatus), Leben und Besitz ihm gewaltsam zu zerstören; noch mehr, sie suchten sein geistliches Leben zu verheeren, wie fremde Heere eine Landschaft plündern oder wilde Tiere ein Land verwüsten. Er vergleicht sich selbst mit einer belagerten Stadt (vergl. 2. Könige 6,14, Grundtext) und klagt, dass seine Feinde um und um wider ihn stehen. Es mag uns wohl drängen, um so angelegentlicher unseren Trost über uns zu suchen, wenn rings um uns her alles von Todfeinden starrt. Dies ist unsere tägliche Lage, denn ringsum lauern Gefahren und Sünden. O Gott, behüte Du uns vor ihnen allen!

10. Ihr Fettherz verschließen sie. (Nach dem Grundtext) Üppigkeit und Wohlleben erzeugen eine Verfettung des Herzens in Hochmut und prahlerischem Eigendünkel, so dass es seine Tore gegen jede Regung des Mitleids und alles vernünftige Urteil verschließt. Das alte Sprichwort sagt; "Volle Bäuche machen leere Schädel", und es ist noch mehr wahr, dass sie häufig leere Herzen machen. Das üppigste Unkraut wächst auf dem fettesten Boden. Reichtum und Selbstgenügsamkeit sind der Brennstoff, mit dem manche Sünden ihre Flammen unterhalten. Hoffart und alles vollauf, das waren Sodoms Zwillingssünden (Hes. 16,49). Wenn die Falken satt sind, vergessen sie ihren Herrn und der volle Mond ist von der Sonne am weitesten entfernt. Mit ihrem Munde reden sie stolz. Wer sich selbst anbetet, wird keinen Trieb haben, den Herrn anzubeten. Eben weil der Gottlose in seinem Herzen voller Selbstgefälligkeit ist, füllt er seinen Mund mit prahlerischen und anmaßenden Worten. Glück und Eitelkeit wohnen oft beieinander. Wehe dem fetten Ochsen, wenn er gegen seinen Herrn brüllt: Das Beil ist nicht weit.

11. Wo wir gehen, so umgeben sie uns.5 Der Grimm der Gottlosen ist nicht gegen einen Gläubigen allein gerichtet, sondern gegen die ganze Gemeinschaft. Das ganze Judenvolk war nur ein Bissen für Hamans Rachgier, und das alles wegen des einen Mardochai (Esther 3,6). Der Fürst der Finsternis hasst alle Heiligen um ihres Meisters willen. Der Herr Jesus ist in dem uns mit enthalten und darin steht unsere Hoffnung. Er ist der Durchbrecher (Micha 2, 13) und wird für uns einen Weg bahnen durch die uns umringenden Feinde. Der Hass der Mächte des Bösen ist beständig und nachdrücklich. Sie bewachen jeden unserer Schritte, in der Hoffnung, dass der Augenblick komme, da sie sich auf uns stürzen können. Wenn unsere geistlichen Feinde uns so auf Schritt und Tritt bewachen, wie ängstlich sollten wir da alle unsere Bewegungen hüten, damit wir nicht zum Bösen verführt werden. Ihre Augen richten sie dahin, dass sie uns zur Erde stürzen. Wie würden sie frohlocken, wenn es ihnen gelänge!

12. Er gleicht (so Luther 1519) einem Löwen, der des Raubs begehrt, und einem jungen Löwen, der in der Höhle sitzt. Aus der Schar der Feinde wird jetzt (wie 7,3) einer hervorgehoben, der ihr Haupt ist. Löwen sind nicht gieriger oder listiger, als Satan und seine Helfer es sind, wo sie gegen die Kinder Gottes etwas vorhaben. Es dürstet den Feind nach dem Blut der Seelen, und er spannt alle seine Macht und List aufs Äußerste an, um seine scheußliche Begierde zu stillen. Wir sind schwach und töricht wie Schafe; aber wir haben einen Hirten, der weise und stark ist, der die Schliche des alten Löwen kennt und seiner Stärke mehr als gewachsen ist. Darum wollen wir uns nicht fürchten, sondern sicher in der Hürde ruhen. Hüten wir uns indes vor dem lauernden Feind, und gerade dann, wenn wir uns am sichersten fühlen, lasst uns Umschau halten, damit sich der Feind nicht etwa unversehens auf uns stürze.


13. Herr, mache dich auf, überwältige ihn und demütige ihn;
errette meine Seele von dem Gottlosen mit deinem Schwert,
14. von den Leuten mit deiner Hand, Herr,
von den Leuten dieser Welt, welche ihr Teil haben in ihrem Leben,
welchen du den Bauch füllest mit deinem Schatz,
die da Söhne die Fülle haben, und lassen ihr Übriges ihren Kindern.


13. Herr, mache dich auf. Je wütender der Angriff ist, desto inbrünstiger wird des Psalmisten Gebet. Sein Auge ist allein auf den Allmächtigen gerichtet, und er fühlt: Gott braucht sich nur zu erheben von dem Sitz, da er geduldig wartet, so wird alle Macht des Feindes alsbald gebunden sein. Mag der Löwe auf uns losspringen: Wenn Jahwe dazwischen tritt, brauchen wir keinen besseren Schutz. Wenn Gott unserm Feinde Auge in Auge in der Schlacht begegnet, so wird der Kampf bald vorüber sein. Tritt ihm entgegen, komm ihm zuvor, überliste und überwältige ihn, wirf ihn nieder! (Wörtl.) Zwinge ihn nieder, den starken Löwen, dass er mit gebeugten Knien (vergl. den Grundtext hier und 1. Mose 49, 9; 4. Mose 24, 9) am Boden liegt. Lass den Feind sich beugen, wie der Besiegte sich vor dem Sieger duckt. Was für ein glorreicher Anblick wird es sein, den Satan zu den Füßen unseres großen Herrn niedergeworfen zu sehen! Komm bald, du Tag des Triumphes! - Errette meine Seele von dem Gottlosen mit deinem Schwert. David vertraut auf das Schwert des Herrn, im Gegensatz gegen alle Menschenhilfe. Er ist gewiss, dass er unter Gottes Schutz sicher genug ist.

14. Fast jedes Wort dieses Verses hat den Gelehrten Anlass zu weitläufigen Untersuchungen gegeben, denn er ist sehr dunkel. 6 Von den Leuten - mit deiner Hand, Herr (nämlich: rette mein Leben, V. 13), von den Leuten dieser Welt, diesen Erdenwürmern, die keine andere Heimat haben als dieses enge Gebiet der Sterblichkeit und keine Hoffnungen und Wünsche kennen, die über dieses zeitliche, sichtbare Leben hinausgehen. Ihre Seele klebt an dem Staube, auf den ihre Füße treten. Welche ihr Teil haben in ihrem Leben. Gleich dem verlorenen Sohne haben sie ihr Teil und haben keine Geduld, des Vaters Zeit abzuwarten. Luther war stets in Sorge, er möchte sein Teil hienieden haben, und gab darum häufig Summen Geldes weg, die man ihm schenkte. Wir können nicht die Erde haben und den Himmel dazu als unsre Wahl und unser Teil. Weise Menschen wählen, was am längsten währt. Welchen du den Bauch füllest mit deinem Schatz. Ihre sinnliche Begierde erlangt, was sie fordert, und zwar reichlich. Gott gibt diesen Säuen die Treber, nach denen sie hungern. Ein freigebiger Mann weigert den Hunden ihre Knochen nicht und unser großmütiger Gott gibt selbst seinen Feinden genug, sie zu sättigen - wären sie nicht so unvernünftig, nimmer satt zu sein. Gold und Silber, die in den dunkeln Schatzkammern der Erde verschlossen liegen, werden den Gottlosen reichlich zuteil, und so wälzen sie sich denn in fleischlichen Genüssen allerart. Jeder Hund hat seinen guten Tag, so haben sie den ihrigen; und er erscheint als ein heiterer Sommertag voll Glanz und Pracht. Doch ach, wie bald endet er in Nacht und Grauen! Sie haben Söhne die Fülle. Das ist ihre liebste Hoffnung, dass eine zahlreiche Nachkommenschaft ihren Namen hinaustragen werde in ferne Zeiten. Auch dies gewährt ihnen Gott; so haben sie denn alles, was das Herz sich wünschen kann. Was für beneidenswerte Kreaturen scheinen sie zu sein! Aber es ist nur Schein. Sie lassen ihr Übriges ihren Kindern. Sie haben ein flottes Haus gehalten und hinterlassen dennoch kein ärmliches Erbgut. Im Leben und im Sterben mangelt ihnen nichts - als Gottes Gnade. Ach, der Mangel verdirbt alles. Sie hatten ein schönes Teil in der kurzen Erdenzeit, aber die Ewigkeit haben sie in ihre Berechnungen nicht aufgenommen. Im Kleinen waren sie klug, im Großen töricht. Sie dachten an die Gegenwart und vergaßen die Zukunft. Sie stritten um die Schale und verloren den Kern. Wie fein passt diese Schilderung auf so manchen glücklichen Kaufmann oder beliebten Staatsmann, und sie ist auf den ersten Blick sehr einleuchtend und verführerisch; aber was sind diese armseligen Maulwurfsfreuden gegen die Seligkeiten der Ewigkeit! Selbst, selbst, selbst, - alle diese Freuden beginnen und enden in der niedrigsten Selbstsucht. Doch wie reich, Herr, sind, die in dir beginnen und enden! Erlöse du uns von aller Befleckung und allem Schaden, die uns die Gemeinschaft mit weltlich gesinnten Menschen bringen müsste!


15. Ich aber will schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit;
ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde.

Ich aber. Ich beneide diese Menschen nicht um ihr Glück, noch begehre ich es, sondern ich habe und erhoffe ein weit besseres. Gottes Angesicht zu schauen und durch dieses Anschauen verwandelt zu werden in sein Bild7, so dass ich teilhabe an seiner Gerechtigkeit: das ist mein hoher Ehrgeiz. Und im Blick darauf lasse ich alle gegenwärtigen Freuden willig fahren. Meine Befriedigung liegt in der Zukunft; ich erwarte sie nicht in der Gegenwart. Ich will eine Weile schlafen, aber einst werde ich erwachen, erwachen zu ewiger Freude, weil ich in deinem Bilde, mein Gott und König, aufstehen werde. Lichtblicke in die ewige Herrlichkeit werden hienieden den Frommen zuteil, ihren heiligen Hunger zu stillen; aber das Fest erwartet sie in der oberen Heimat. Dieser tiefen, unaussprechlichen, ewigen Fülle der Seligkeit gegenüber sind die Freuden der Weltmenschen, wie der Glühwurm, mit der Sonne oder wie der Tropfen am Eimer, mit dem Ozean verglichen.


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Psalm 17 schließt ebenso wie Psalm 16 mit der Hoffnung auf das selige, genussreiche Anschauen Gottes, und auch sonst haben beide Psalmen hervorstechend Gemeinsames, aber bei übrigens sehr ungleichem Ton. Denn Ps. 17 ist in der Reihe der Davidischen Psalmen der erste derer, die wir Psalmen in grollendem Stil nennen. Die sonst so geflügelte und durchsichtige Sprache der Psalmen Davids wird da, wo er das wüste Treiben seiner Feinde und überhaupt der Gottlosen schildert, härter und in Gemäßheit des Gegenstandes und der Stimmung gleichsam voll unaufgelöster Dissonanzen (Ps. 17; 140; 58; 36,2 f., vergl. Ps. 10,2-11); sie ist da rauer, unförmiger und ermangelt ihrer sonstigen Klarheit und Verklärung. Auch der Ton der Sprache wird dunkler und wie in dumpfem Gemurmel; sie rollt, indem sie die Suffixe mo, āmo und ēmo häuft, donnerartig dahin, wie Ps. 17,10; 35,16; 64,6.9, wo David schilderungsweise von seinen Feinden spricht, oder Ps. 59,12-14; 56,8; 21,10-13; 140,10; 58,7, wo er ihnen wie prophetisch das Gericht Gottes verkündigt. Die heftigere, regellosere Bewegung der Sprache ist hier die Folge innerer stürmischer Erregung. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 1. Das Wort qdece bezeichnet hier nicht eine subjektive Eigenschaft (Gerechtigkeit), sondern einen objektiven Tatbestand, eine gerechte Sache, wie 35,27 u. ö. Der Sänger sagt absichtlich nicht yqid:ci (meine ...), weil er nicht die Person, sondern die Gerechtigkeit der Sache in den Vordergrund stellen will. Prof. Friedrich Baethgen 1904.
  Höre - merke - vernimm. Die dreifach wiederholte und verdoppelte Bitte zeiget einen großen Affekt und viel Tränen an; weil in der Tat die geistlichen Menschen mehr die List als die Gewalt dieser Gottlosen schmerzt. Denn offenbare Gewalt kann man doch sehen und wenn man die Gefahr weiß, dieser auf einige Maße begegnen; allein die List verderbet eher, als man’s inne wird. Martin Luther 1519.
  Das nicht aus falschem Munde geht. Dergleichen gibt’s - einen Widerspruch zwischen dem Herzen und der Zunge, ein Rufen mit der Stimme und Spotten mit der Seele, ein Schreien zu Gott: "Lieber Vater, du Meister meiner Jugend", wobei man doch Böses tut (Jer. 3,4 f.), - als ließe Gott sich durch gleißenden Schein täuschen, als nähme er, wie der alternde Isaak, einen Jakob für einen Esau und ließe er sich durch den Geruch der Kleider betrügen, als könnte er das schwarze Herz unter dem Engelsgewand nicht erkennen. Das ist eine unwürdige Vorstellung von Gott, wenn wir uns einbilden, wir könnten für innere Sünden genugtun und nahende Gerichte abwenden durch äußere Opfer, durch eine laute Stimme aus falschem Herzen, als ob Gott sich (gleich den Kindern) an dem Glänzen einer leeren Schale, an dem Gerassel von Steinen oder dem Klingen des Geldes ergötzte, - an der bloßen Stimme ohne Stimmung und Absicht der Anbetung. Stephen Charnock † 1680.
  Der Adler schwingt sich wohl hoch in die Lüfte, aber er hat dabei durchaus nicht die Absicht, zum Himmel zu fliegen; er will vielmehr seine Beute erhaschen. Ebenso zeigen viele einen guten Teil scheinbare Frömmigkeit, indem sie ihre Augen gen Himmel erheben, tun das aber nur, um mit mehr Leichtigkeit, Sicherheit und Beifall ihre bösen Pläne hier auf Erden auszuführen, - Leute, die außen einem Cato, innen einem Nero gleichen. Hört man sie, so ist keiner besser; erforscht und erprobt man sie, so ist keiner schlechter. Sie haben Jakobs Stimme, aber Esaus Hände. Sie sprechen wie Heilige, handeln jedoch wie Teufel. Sie haben lange Gebete, aber wenig Gebet. Ihre heuchlerische Heiligkeit ist ihnen nur der Deckmantel für Schlechtigkeiten allerart und die Hebamme, die ihren teuflischen Absichten zur Geburt verhelfen soll. Peter Bales † 1610.


V. 3. Du prüfest mein Herz.

  Das Herz will Ich erproben, was es sei,
  Ob reines Silber das Metall, ob schnödes Blei,
  Ob Gold, ob tönend Erz; das Feuer macht es klar,
  Wo heil’ger Ernst, wo Trug dein Glaube war.

  Ein Herz, das eigne nur und krumme Wege liebt,
  In trotz’gem Eigensinn sich nimmer mir ergibt,
  Als nur zu leerem Schein: Solch Tun begehr ich nicht,
  Gleißt auch die Heuchelei wie ros’ges Morgenlicht.

  Wo selbst in Trübsalsgluten nicht der Trotz zerfließt,
  In heißen Tränen sich der Reue Schmerz ergießt:
  Da ist verloren all mein väterliches Mühn,
  Durch Züchtigung das Herz zu mir zurück zu ziehn.

  Ein Mensch, der stets im Leiden murrt und klagt,
  Bei jedem leichten Weh schon fassungslos verzagt:
  Der hüllt in Rauch und Nebel all sein Sinnen ein,
  Dass endlich ihm erlischt der Hoffnung letzter Schein.

  Doch wo ein Herz in Trübsal stille harrt und glaubt,
  Des Gottesfriedens voll, den keine Not ihm raubt;
  Da glänzt das reine Gold, vom Feuer nicht verzehrt,
  Das nur geläutert wird, verfeinert und geklärt.

   Frei nach Francis Quarles † 1644.


V. 4. Wollt ihr wissen, wie es zugeht, dass ich die gottlosen Worte und Handlungen vermeide, welche die Menschen sich gewöhnlich erlauben? Ich habe es dem teuren Gotteswort zu danken. Mit ihm pflege ich Rat zu nehmen. Dies Wort ist es, was mich vor den schlimmen Wegen bewahrt, auf welche andere, die das Wort Gottes nicht zu ihrem Schutz brauchen, durch Satan, den Räuber und Mörder, fortgerissen werden. Können wir der Sünde und dem Satan mit einer besseren Waffe entgegentreten als der, mit welcher Jesus den Versucher besiegte? Nicht durch einen Blitzstrahl seiner Gottheit wollte er den Feind niederschmettern, sondern ihn mit dem Schwert überwältigen, welches er den Seinen hinterlassen hat, mit dem Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes (Eph. 6,17). Wer diese Waffe recht zu führen weiß, an dem findet der Feind einen ihm gewachsenen Gegner. William Gurnall † 1679.
  Es ist eine große Hilfe in der Versuchung, das Wort Gottes allezeit bereit zu haben. Wer in gefährlichen Zeiten reisen muss, der hat sein Schwert gegürtet. Wir sind in Gefahr und es tut uns Not, das Schwert des Geistes zu handhaben. Es ist seinesgleichen nicht. Je mehr wir mit der Schrift vertraut sind, desto größer ist unser Vorteil in den Kämpfen und Versuchungen. Vergl. 1. Joh. 2,14. Die Tür unserer Herzen ist dann dem Satan verriegelt. Ein Mensch muss entweder das Wort vergessen oder seine Liebe zum Wort verloren haben, ehe er zur Sünde fortgerissen werden kann. Thomas Manton † 1677.


V. 5. Herr, wie immer Sauls Wut gegen mich sein mag, lass weder dies noch irgendetwas anderes mich von deinem Wege drängen, sondern halte mein Herz nahe bei dir und erhalte meinen Gang in deinen Fußsteigen, dass meine Tritte nicht gleiten. Denn, Herr, sie lauern darauf, dass ich straucheln möge. Können sie nur das geringste Ausgleiten an mir gewahren, so beuten sie dies bis zum Äußersten aus; und ich bin ein armes, schwaches Geschöpf. Darum hilf mir, Herr, dass meine Tritte nicht gleiten! Jeremiah Burroughs † 1646.
  Herr, stütze du meine Schritte, halte mich aufrecht, dass ich aushalten könne. Du hast an das Ziel des Laufes die Krone gesetzt; lass mich meinen Lauf wohl vollenden, dass ich die Krone davontragen möge. Es war das Gebet Theodor Bezas, des Nachfolgers Calvins, († 1605), und möge es auch das unsrige sein: "Herr, vollende, was du in mir angefangen hast, dass ich nicht nahe dem Hafen noch Schiffbruch leide." Thomas Watson † 1660.


V. 9. Vor den Gottlosen. Sie sind in gleicher Weise deine und meine Feinde; wie sie meine Widersacher sind vermöge ihrer Bosheit, ebenso sehr sind sie deine Widersacher vermöge ihrer Gottlosigkeit. So wollest du in einem dich rächen und mich erlösen. John Howe † 1705.


V. 10. Der Dichter schildert die allem Erbarmen unzugängliche Gefühllosigkeit der Feinde. blx bedeutet im Arabischen und Syrischen ursprünglich das die Eingeweide bedeckende Netz nebst dem zugehörigen Fett, vergl. 3. Mose 3,3, und gilt als Sitz der Gefühle. "Sie hat mein Herz umgekehrt und mein Herz zerrissen", sagt ein Araber von einem weiblichen Wesen, das er leidenschaftlich liebt (Rob. Smith). Ebenso ist blx im Psalm zu verstehen; also eigentlich: Sie haben ihr Fettnetz (dem Erbarmen) verschlossen, vergl. 1. Joh. 3,17: klei/ein ta` spla/gcna. Die zuerst von v. Ortenberg aufgestellte vermöge: "Sie haben ihr Herz mit Fett verschlossen" ist also abzuweisen. Prof. F. Bäthen 1904.
  Man sagt im Morgenland oft: "Der Mann ist fett", um ihn als sehr stolz zu bezeichnen. Von einem Großsprecher heißt es: "Was können wir tun? An dem Fett seines Fleisches erkennt man ihn." - "Seht, wie fett sein Mund ist! Wie voll er das Maul nimmt!" - "Nimm dich in Acht, Geselle oder ich schließe dir den fetten Mund!" J. Roberts, Morgenländische Bilder, 1844.


V. 11. Ein Mensch, dem die Leute auflauern, um einen Grund zur Anklage gegen ihn vor dem König oder vor den Großen auszuspüren, sagt: "Ja, sie sind rings um meine Füße her; ihre Augen stehen immer offen; sie bewachen beständig meine Schritte, d. h. sie spähen nach den Spuren oder Fußtritten auf der Erde." J. Roberts 1844.
  Sie umgeben uns wie Jäger, die das Wild durch eine Treibjagd ausrotten. Sie bilden einen Kreis, aus dem ihnen die Beute nicht entrinnen kann. C. H. Spurgeon 1869.


V. 12. Wie ein Löwe usw. Im vierten Buch des Verlorenen Paradieses von John Milton († 1674) haben wir eine dichterische Schilderung des Erzfeindes, wie er unsere ersten Eltern zur Beute suchte, da er ihre Glückseligkeit sah und sie zu verderben entschlossen war:

  Stolz schreitet wie ein Löwe
  Er um sie her, voll wilder Glut den Blick.
  Dann, wie der Tiger, der zwei Rehlein sah
  Am Waldesrande spielend, dicht heran sich schleicht,
  Dann sich erhebt - und wieder kriechend naht,
  Bis er den Augenblick gekommen sieht,
  Da er mit jähem Sprung sie beid’ erhascht
  In seinen Klau’n.


V. 14. Die Leute dieser Welt, welche ihr Teil haben in ihrem Leben. Die Zeit und diese niedere Welt schließen alle ihre Hoffnungen und Sorgen in sich. Sie haben keine Vorstellungen, an die sie ernstlich glauben, von irgendetwas jenseits dieses gegenwärtigen Lebens. Darum ist nichts, das sie von der rohesten Gewalttat zurückhalten könnte, wenn nicht Gott selbst sie zurückhält. Menschen, die nicht an eine andere Welt glauben, sind bereit, in dieser jedes erdenkliche Unheil anzustiften. John Howe † 1705.
  Welche ihr Teil haben. Gott gibt den gottlosen Menschen ihr Teil hier, um zu zeigen, wie wenig Gutes ist in allen Dingen, die hienieden in der Welt sind. Wäre viel Gutes darin, so würden jene sie gewiss nie bekommen. Es lässt sich leicht zeigen, dass in körperlicher Kraft kein großer Vorzug ist; ein Stier hat mehr davon als du. Beweglichkeit des Körpers ist auch kein großer Vorzug; ein Hund hat mehr davon als du. Prächtige Kleidung ist kein großer Vorzug; ein Pfau hat sie prächtiger als du. Gold und Silber sind kein großer Vorzug; denn die Inder, die Gott nicht kennen, haben sie reichlicher als du. Hätten diese Dinge irgendwelchen großen Wert in sich, so würde Gott sie den Gottlosen gewiss nie geben. Wie kein großes Übel sein kann in der Trübsal dieser Zeit, weil die Heiligen so oft betrübt werden, so kann es kein großes Gut in dieser Welt geben, weil die Gottlosen so viel davon genießen. Luther sagt einmal: Das ganze Türkenreich, so groß es ist, ist nur ein Brosame, den Gott, der Hausherr, den Hunden vorwirft. Das große türkische Reich - so gering schätzte es Luther ein, und es ist wirklich nicht mehr. Unterschiedslos streut Gott die Dinge dieser Welt hin, weil er sie als geringe Dinge ansieht. Er achtet nicht einmal darauf, ob die Menschen bereit sind, ihm dafür die Ehre zu geben. Ob ja oder nein, sie sollen sie haben; er wagt sie daran. Wo es aber an die auserwählten Gnaden in Christo geht, so sieht Gott darauf, Ehre davon zu haben. Er gibt sie niemals irgendjemanden, ohne ihn zuerst dafür zuzubereiten, dass er ihm die Ehre gebe. Du siehst etwa einen Mann Holzäpfel auflesen. Mögen auch Schweine unter dem Baum umherlaufen, es ist ihm nicht der Mühe wert, sie zu verjagen. Es sind ja nur Holzäpfel; mögen sie sie haben. Wäre er aber daran, irgendeine edle, kostbare Frucht zu sammeln, und es kämen Schweine dazu, so würde er sie schnell vertreiben. In äußern Dingen - Holzäpfeln - lässt Gott die Schweine der Welt kommen und sie grunzend nehmen. Aber wo es seine edelsten Gaben in Christus Jesus gilt, da macht er einen Unterschied. Das ist köstliche Frucht. Ein Schmied, der Eisen verarbeitet, achtet nicht darauf, ob auch viele Funken und Eisenstückchen umherfliegen; aber ein Goldschmied, der Gold bearbeitet, bewahrt jedes Stäublein des Goldes. So sind diese äußeren Dinge nur wie Späne, Asche und dergleichen; davon gibt Gott den Gottlosen ihr Teil. - Ich habe von Gregor († 390) gelesen, er habe, als er zu einem Ehrenamt befördert worden, bezeugt, es gehe ihm keine Schriftstelle so zu Herzen und erfülle seinen Geist so mit Zittern wie das Wort: Du hast dein Gutes in deinem Leben empfangen (Lk. 16,25). Wie Hieronymus († 420) sagt, das Wort von der Auferstehung und dem Gericht habe ihm Tag und Nacht in den Ohren geklungen, so erging es dem Gregor mit diesem Wort: Du hast dein Gutes empfangen. Tag und Nacht tönte es ihm in die Seele. Wollte Gott, ich könnte euch dieses Psalmwort so ins Herz predigen, dass es, wenn die Predigt vorüber ist und ihr auf eurem Lager liegt, noch in euren Ohren klänge: Leute dieser Welt, die ihr Teil haben in ihrem Leben! Jeremiah Burroughs † 1646.
  Die Erde und ihre Güter teilt Gott aus ohne Ansehen der Person, auch denen, die seine Kinder nur von der Schöpfung her sind, nicht nach der Erwählung. Und doch ist ein Unterschied zwischen dem Glück der einen und der andern. Denn das eine ist mit Herzensangst verbunden (selbst beim Lachen ist das Herz ihnen schwer); der andern Glück mit Frieden und Freude im heiligen Geist. Dieses Glück ist ein Pfand der höheren Beseligung in der zukünftigen Welt, das der andern ist ihr ganzes Teil, als ob Gott spräche: Mögen sie das nehmen, sie haben weiter nichts zu erwarten. Miles Smith † 1624.
  Der Mensch ist mit Vernunft begabt und weiß, dass dieses Leben einem Schatten gleich ist, einem Traum, einer Geschichte, die erzählt wird, einer Nachtwache, dem Rauch, der Spreu, die der Wind verweht, einer Wasserblase und dergleichen schnell verschwindenden Dingen, und dass das zukünftige Leben nie ein Ende haben wird. Und doch hängt er sein ganzes Herz und all sein Sorgen an dies Leben, das heute ist und morgen nicht mehr sein wird; aber an das Leben, das ewig währt, denkt er nicht. Ist dies nicht Unnatur, so weiß ich nicht, was widernatürlich genannt werden mag. Thomas Tymme 1634.
  Was gottlose Menschen von dieser Welt besitzen, ist alles, worauf sie je zu hoffen haben. Wie sollten wir sie um ihren gefüllten Beutel oder ihre hochklingenden Titel beneiden? Das ist ja ihr ganzes Teil. Sie empfangen jetzt ihr Gutes. Hast du Nahrung und Kleidung? Das ist das Teil der Kinder. Beneide die Gottlosen nicht, wenn sie mit der Herrlichkeit der Welt prahlen. Sie haben jetzt mehr als du, aber es ist alles, was sie zu bekommen Aussicht haben. Der Psalmist gibt uns eine Übersicht über ihr Vermögen. Sie sind Leute dieser Welt. Sie haben ihr Teil in dem eiteln, nichtigen Leben dieser Zeit. Und du, Christ, der du nichts besitzt, bist der sichere Erbe des Himmels, der Miterbe Jesu Christi, der der Erbe aller Dinge ist. Unermessliche Reichtümer werden für dich aufgehoben, so groß und unendlich, dass alle Sterne des Himmels zu wenig sind, sie danach zu schätzen. Du hast kein Recht zu klagen, als seiest du zu kurz gekommen; denn alles, was Gott hat, ist dein. Was Gott gibt, kommt dir zugute; was er versagt oder nimmt, dient dir zur Prüfung, zur Mehrung jener Gnadengüter, die weit köstlicher sind, als irgendeine zeitliche Ergötzung. Wenn du böse Menschen in Reichtum und Lebensgenus siehst, während du mit den Widerwärtigkeiten und Schwierigkeiten einer durstigen Lage zu kämpfen genötigt bist, und du hast eine heilige Verachtung der Welt gelernt, so glaube mir: Gott hat dir hierin mehr gegeben, als wenn er dir die Welt selbst gegeben hätte.
  Ezekiel Hopkins † 1690.
  Um zu zeigen, dass gottlose Menschen oft das größte Teil in diesem Leben haben, braucht es nicht vieler Worte. Die Erfahrung aller Zeiten von Anbeginn der Welt bestätigt es, und deine eigene Beobachtung kann es, denke ich, versiegeln. Jedenfalls hat die Schrift es reichlich bezeugt. Das Geschlecht Kains, des ersten Mörders, machte es sich wohl in der Welt. (1. Mose 4,17 ff.) Geh die ganze Reihe der Schriften durch. Da findest du Joseph von seinen Brüdern verfolgt, Esau für eine Zeit weit mächtiger als Jakob, die Israeliten, Gottes Volk, in der Knechtschaft und Pharao auf dem Thron, Saul als Herrscher und David in der Höhle oder in der Wüste, Hiob in der Asche, Jeremia im Kerker, Daniel in der Löwengrube und die drei Jünglinge im Feuerofen, Nebukadnezar aber auf dem Thron. Im Neuen Testament sehen wir Felix auf dem Richterstuhl, Paulus vor den Schranken, den Reichen im Palast, den Lazarus vor seiner Tür. Hiob belehrt uns, dass die Hütten der Verstörer oft die Fülle haben (12,6), welche Fülle er Kapitel 21,7-15 ausführlich beschreibt: Sie sind mit Gütern gesegnet, V. 7, reich all Nachkommenschaft, V. 8-11, im Frieden daheim, V. 9, draußen in zunehmendem Wohlstand, V. 10, sie haben Freude die Fülle, V. 12, und Reichtum nach Wunsch, V. 13. Der Psalmist redet davon aus eigener Erfahrung, Ps. 37,35; 73,7. So hier im Text. Sie erfreuen sich nicht nur der gewöhnlichen Erweisungen der göttlichen Huld, der Luft, die sie atmen, der Erde, darauf sie wandeln, - ihr Bauch ist gefüllt mit dem Besten, und dies nicht nur für sie selbst, sondern für ihre Nachkommenschaft. Sie lassen ihr Übriges ihren Kindern. Mit einem Wort: Sie haben ihr Teil in ihrem Leben. Ein Herr zahlt seinem Knecht baren Lohn, während er den Sohn im Einkommen kurz hält, solange seine Minderjährigkeit währt, damit er lerne, sich hinsichtlich seines Erbteils auf den Vater zu verlassen. So handelt Gott, der große Herr über alle, mit den Knechten, die ihm um den Lohn irgendeines zeitlichen Vorteils dienen: er gibt ihnen ihren baren Lohn und Sold. Für seine Kinder hat er ein besseres Teil bestimmt. Es gehört ihnen, aber sie müssen warten; jetzt gibt Gott ihnen wenig bar in die Hand, damit sie lernen, von der Verheißung zu leben und sich für ihr himmlisches Erbe gläubig auf die Güte und Treue ihres himmlischen Vaters zu verlassen, damit sie, nicht im Schauen, sondern im Glauben wandelnd (2. Kor. 5,7), nicht auf das Sichtbare sehen mögen (2. Kor. 4,18). Darin offenbart sich die Hinfälligkeit des Fundaments, worauf viele ihre Hoffnungen für den Himmel bauen. Manche sind geneigt zu folgern: "Wenn Gott mich nicht lieb hätte, so würde er mir gewiss nicht solch ein Teil in der Welt geben." Betrüge dich nicht in einer Sache von so großer Wichtigkeit. Ebenso gut dürftest du sagen: Gott liebte den Judas, weil er den Beutel trug, oder den reichen Mann, weil er in Freuden lebte, - und doch sind beide nun in der Qual. John Frost 1657.
  Das Wort Bauch mag durch den heiligen Geist gewählt worden sein, um die Tatsache anzudeuten, dass ein sehr großer Teil der Sünden weltlich gesinnter Menschen mit der Hinneigung zu gemeinen und erniedrigenden Lüsten verknüpft ist und dass sie die Güte des Himmels selbst missbrauchen, indem sie ihre unglücklichen Seelen in die Fesseln der Sinne schmieden. Mögen sie aber gedenken, dass ihrem Götzendienst der Sinne zuletzt die furchtbarste Heimsuchung des göttlichen Zornes folgen wird. John Morison 1829.
  Gottlose Menschen mögen die Erde haben und was sie erfüllt, die Erde und alles, was irdisch ist. Die Schätze der Erde füllen denen den Bauch, die des Himmels Schätze gering achten und deren Seelen nie auch nur einen Vorschmack himmlischer Schätze bekommen werden. Reichtum und Ehre sind das Los und Erbteil derer, die kein Erbteil haben unter den Erben der Herrlichkeit. Diejenigen haben die Erde in ihren Händen (Hiob 9,24), welche nichts vom Himmel in ihren Herzen haben. Die Gewalt über die Welt haben die, welche Sklaven der Welt sind. Sie beherrschen und regieren andere nach ihrem Gutdünken, sie, die der Satan gefangen führt nach seinem Gutdünken. Lass dich nicht kränken noch verwirren, wenn du die Zügel der Herrschaft in den Händen solcher siehst, die sich selbst nicht beherrschen können, oder wenn du diejenigen die Welt regieren siehst, welche nicht wert sind, in der Welt zu leben. Joseph Caryl † 1673.


V. 14-15. Sie haben Söhne die Fülle. Er will sagen: Du hast diesen Leuten schon überflüssig ihren Willen getan; was brauchen sie noch mehr? Sie selbst haben aus deiner Güte, die sie nicht achten, volle Gewährung ihrer maßlos gesteigerten Wünsche, genug für ihre Lebenszeit. Und wenn sie persönlich nicht länger leben können, so dürfen sie in ihrer Nachkommenschaft fortleben. Nicht Fremde, sondern ihre zahlreichen Sprösslinge hinterlassen sie als Erben. Ist’s nun nicht genug, dass ihre Habgier befriedigt ist? Muss ihre Bosheit auch noch Sättigung finden? Müssen sie auch noch ins Werk setzen, was für Unheil immer sie gegen mich aussinnen können? Darum errette mich von ihnen. Dieser Schilderung seiner Feinde stellt er sich selber hier am Schluss des Psalms gegenüber: Ich aber. Hier ist er an seinem Wendepunkt, und nach einer anscheinenden Verwirrung kehrt sein Geist zu folgerichtigem Denken zurück, in Erwägung der eignen glücklicheren Lage, die er der ihrigen gegenüberstellt und der er den Vorzug gibt, und zwar aus folgenden Gründen. Sie sind gottlos, er gerecht: Ich aber will dein Antlitz schauen in Gerechtigkeit. Ihr Glück ist weltlich, irdisch, nur derart, wie es die Erde hervorbringen kann; das seinige ist göttlich, so wie es vom Antlitz und dem Wesen Gottes ausstrahlt. Das ihrige ist gegenwärtig, zeitlich, aus das schnell vergehende Leben beschränkt, das seinige zukünftig, immerwährend; es wartet seiner, wenn er erwachen wird. Das ihre ist nur halbes, mangelhaftes Glück, dazu angetan, die tierische Seite ihres Wesens zu befriedigen, ihren Bauch zu füllen; das seine ein würdiges, volles Glück, wie es den befriedigt, der den Namen Mensch verdient. John Howe † 1705.


V. 15. Mit dem (betonten) Ich hält er dem Glücke seiner Feinde sein unvergleichlich größeres entgegen. Er, der von Menschen Verkannte und Verachtete, wird in Gerechtigkeit, welche dann ihren Gnadenlohn finden wird (Mt. 5,8; Ebr. 12,14), Gottes Angesicht schauen, und will, wenn diese Hoffnung sich ihm erfüllt, sich recht erfreuen an Gottes Gestalt. Das Schauen des göttlichen Angesichts hier von Erfahrung der Gnadenwirkungen zu fassen, welche von dem wieder zugekehrten und enthüllten ausgehen, genügt nicht; das Parallelglied fordert ein wirkliches Anschauen wie 4. Mose 12,8, wonach Jahwe dem Mose in der Selbstgestalt seines Wesens ohne die Zwischenwand akkomodativer (sich anpassender) visionärer Selbstverbildlichung gegenüberstand, zugleich aber wie 2. Mose 33,20, wo dem Mose das Schatten des göttlichen Antlitzes versagt wird, wonach also die Selbstdarstellung Jahwes im Verkehr mit Mose nicht ohne Selbstverhüllung zu denken ist, die ihm das Schatten erträglich machte. Hier aber, wo David eine Hoffnung ausspricht, welche das letzte Ziel, der äußerste Gipfel alles seines Hoffens ist, hat man kein Recht, das Anschauen Gottes, des in Liebe sich ihm zu schauen gebenden, und die Ersättigung an der herrlichen Erscheinung seines heiligen Wesens (LXX: th`n do/xan sou) irgendwie zu beschränken. Ist dies richtig, so kann "beim Erwachen" nicht bedeuten; "wenn ich aus dem Schlafe dieser Nacht erwache" (Ewald, Hupfeld u. a.); denn gesetzt, dass der Psalm vor Schlafengehen gedichtet wäre, welchen Sinn hätte die Vertagung so überschwänglicher Hoffnung auf die Zeit nach verbrachtem natürlichem Schlafe? Aber auch das "Erwachen zu einem neuen Leben der Beseligung und Befriedigung durch das nach der Nacht und dem Dunkel des Elends, in dem der Dichter jetzt noch schwebt, über ihm wieder aufgehende Sonnenlicht der göttlichen Gnade" (Kurtz) kann nicht gemeint sein; denn aus Leidensnacht erwachen ist eine unpassende und ebendeshalb unbelegbare Vorstellung. So bleibt also nur das Erwachen aus dem Todesschlafe übrig. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Ich will schauen dein Antlitz. Das Antlitz eines Fremden kann ich sehen, ohne dass es mich irgendwie bewegt. Schaue ich aber einem Freund ins Angesicht, so geht von seinem Antlitz sofort ein belebter und freudiger Ausdruck in das meinige über. Die Seele, die Gott liebt, erschließt sich ihm, öffnet sich seinen Einflüssen und Eindrücken, wird leicht geformt und gebildet nach seinem Willen, gibt sich der umschaffenden Macht seiner sich offenbarenden Herrlichkeit hin. Da bleibt kein Widerstand zurück, wenn die Liebe Gottes in der Seele vollkommen geworden ist; und so überwältigend wirkt der erste Anblick seiner Herrlichkeit auf die erwachende Seele, dass er sie vollkommen und gottähnlich macht, beides in einem Augenblick. John Howe † 1705.
  In diesen Worten haben wir 1) die Zeit seiner vollen und vollendeten Glückseligkeit: wenn ich erwache; 2) was ihn beglückt: Gottes Antlitz und Wesensgestalt, und wie er dessen froh wird; ich will schauen; 3) seine innere und äußere Lage im Stande der Glückseligkeit: in Gerechtigkeit. Da wird mein Herz völlig dem Willen Gottes, der vollkommenen und genauen Richtschnur der Gerechtigkeit, angepasst sein. 4) Das Maß seiner Glückseligkeit: Ich will satt werden an deinem Bilde, d. h. deine Herrlichkeit wird sich mir offenbaren, und sie wird mich entschädigen für alle Trübsal, die ich um deines Namens willen erduldet habe, so dass meine Seele sagen wird: Ich habe genug. Jeremiah Burroughs † 1646.
  Habt ihr nie beobachtet, wie bei der Fertigstellung des Inneren eines Kunstbauwerkes die Gerüste alles verdecken? Als Michelangelo († 1564) das Innere jenes Prachtbaues, der Sixtinischen Kapelle, ausschmückte, konnte der Papst, der den Künstler mit dem Werke beauftragt hatte, die Zeit kaum erwarten, wo die Gerüste abgenommen werden würden; er brannte vor Verlangen, die glühenden Farben zu sehen, die dort mit unvergleichlicher Kunst ausgetragen wurden. Geduldig und beharrlich arbeitete der edle Künstler, Tag für Tag und fast bis in die Nacht sich mühend, und unter seinem Pinsel traten Propheten und Sibyllen und andere Gemälde hervor, wunderbar in ihrer Schönheit und sinnreichen Deutung, bis das Werk vollendet war. Wer nun am Tage vor der Fertigstellung in die Kapelle hätte gehen und emporblicken können, was hätte er gesehen? Pfosten, Bretter, Seile, Leim, Mörtel, Flecke und Schmutz. Als aber alles vollendet war, da kamen die Arbeiter, und das Gerüst wurde entfernt. Und wenn nun auch der Boden noch mit Schutt und Streu bedeckt war, war’s nicht, als hätte sich dem auswärts Blickenden der Himmel selbst geöffnet, und als schaute er hinein in die Vorhöfe Gottes und seiner Engel? Auch um die Menschen her bleibt das Gerüst noch lange erhalten, nachdem die Arbeit an dem Ebenbilde Gottes schon begonnen ist; und wunderbare Enthüllungen stehen bevor, wenn Gott das Gerüst, den Leib, wegnehmen und, was da gebildet worden ist, offenbaren wird. Durch Kummer und durch Freude, durch Freuden, welche lauter glättende Farben sind, und durch Trübsale, welche die Schatten jener glänzenden Farben sind, durch Gebete, durch die Eingebungen aus dem Heiligtum, durch deine Vergnügungen und durch dein Geschäft, durch Widerwärtigkeiten, durch Erfolge und Misslingen, durch das, was deine Zuversicht stärkt, und durch das, was sie prüft, durch die Dinge, über die du dich freust, und durch die, über die du trauerst: durch das alles hat Gott sein Werk in dir. Und du sollst vollendet werden nicht nach deinen Plänen, sondern nach dem göttlichen Modell. Dein Bild und das meinige werden ausgeführt, und durch wunderbare Fügungen und Einflüsse bildet uns Gott zu seinem Urbild hin. Weit über alles hinaus, was du selbst für dich tust, wirkt Gott, um dich in sein Bild zu gestalten. Und die wunderbare Deutung geht dahin, dass du, wenn du vor Gott stehst und siehst, was für dich geschehen ist, völlig befriedigt, satt sein wirst. Wie ist dies Wort Befriedigung, Sättigung einsam gewandert und hat nirgendwo eine Heimat gefunden seit den ersten Tagen der Welt! Gab es je eine menschliche Kreatur auf Erden, mit Fleisch umkleidet, die sagen konnte: Ich bin satt, durch und durch gesättigt, in jeder Hinsicht befriedigt? Wenn Gottes Werk vollendet ist, dann werden wir vor ihm stehen, und mit dem leuchtenden Ideal und der verklärten Vorstellung himmlischer Sehnsucht in uns werden wir ausblicken zu Gott und wieder zurück auf uns selbst und sagen: Ich bin satt. Denn "wir werden ihm gleich sein" (1. Joh. 3,2). Amen. Sollte uns das nicht genügen? Henry Ward Beecher 1862.
  Die Heiligen im Himmel sind noch nicht erwacht im Bilde Gottes. Die Leiber der Gerechten schlafen noch, aber ihnen wird volle Genüge werden am Auferstehungsmorgen, wenn sie erwachen. Wenn ein römischer Eroberer im Felde gewesen war und große Siege erstritten hatte, so pflegte er mit seinen Kriegern nach Rom heimzukehren, still in sein Haus zu gehen und sich auszuruhen bis zum nächsten Tage. Dann verließ er die Stadt, um in öffentlichem Triumph seinen Einzug zu halten. Auch die Heiligen treten gleichsam heimlich in den Himmel ein, ohne ihren Leib. Aber am Jüngsten Tage, wenn ihre Leiber erwachen, werden sie ihre Triumphwagen besteigen. Es ist mir, als sähe ich den großen Zug, da Jesus Christus als der erste von allen, das Haupt mit Kronen geschmückt, mit seinem leuchtenden, verklärten, unsterblichen Leibe vorangehen wird. Hinter ihm kommen die Heiligen. Sie schlagen in die Hände oder entlocken ihren goldenen Harfen süße Melodien; sie alle ziehen ein im Triumph. Und wie sie kommen zu den Toren des Himmels und die Türen weit aufgetan werden, den König der Ehren zu empfangen, wie werden die Engel sich drängen an den Fenstern und auf den Dächern der himmlischen Stadt, den prächtigen Zug zu erwarten und Rosen und Lilien auf sie hinabzustreuen und zu rufen; Halleluja, Halleluja, Halleluja, der Herr, der allmächtige Gott, ist König! - Ich werde satt sein an dem glorreichen Tage, da alle Engel Gottes kommen werden, die Triumphe Jesu zu schauen, und da sein Volk an seinem Siegeszuge teilhaben wird. C. H. Spurgeon 1869.
  Wenn ich erwache. Wie passend ist die Analogie zwischen unserm Erwachen aus dem natürlichen Schlafe und dem heiligen Erheben der Seele aus der Finsternis und der Erstarrung ihres gegenwärtigen Zustandes in das belebende Licht der Gegenwart Gottes! Es ist treffend gesagt, dass sie so erwache, wenn sie zuerst diese finstern Regionen verlässt, wenn sie ihre lästige Nachthülle zur Seite legt. Und dies wird sie vollkommen tun an dem frohen Morgen des Auferstehungstages, wenn die Sterblichkeit vom Leben verschlungen wird und alle noch schwebenden Schatten derselben hinschwinden und fliehen. Diese Deutung stimmt zu dem weiteren Inhalt des Verses. Denn zu welchem Zustand passt das Schauen des Angesichtes Gottes und die Sättigung an seinem Bilde so vollständig wie zu dem der künftigen Seligkeit in der andern Welt? John Howe † 1705.


Homiletische Winke

V. 1. Die Stimme Jesu, unserer Gerechtigkeit, und unsere Stimme. Man führe den Gedanken aus, wie beide zum Himmel aufsteigen, und weise darauf hin, welche Eigenschaften der Psalmist für unser Gebet fordert, nämlich Ernst, Ausdauer, Aufrichtigkeit usw.
V. 2. Lass mein Urteil von deinem Angesichte ausgehen. (Grundtext) 1) Wann wird der Spruch erfolgen? 2) Wer darf schon jetzt ihm zuversichtlich entgegengehen? 3) Was müssen wir tun, um zu der Zahl dieser Glücklichen zu gehören?
V. 3. Du prüfest mein Herz. Das Metall, der Glutofen, der Schmelzer usw.
V. 3b. Du besuchest mein Herz des Nachts. 1) Hoher Besuch. 2) Selig, wer desselben gewürdigt wird. 3) Eine besondere Besuchstunde. 4) Eine wohltuende Erinnerung. (Grundtext Perf.) 5) Das praktische Ergebnis des Besuches (Gewinn für das Leben).
V. 3c. Zungensünden, und wie man sie meidet.
V. 4. Des Königs Heerstraße und die Nebenwege.
V. 5. Erhalte. 1) Wer soll erhalten? Gott. 2) Was? Meinen Gang. 3) Wann? Jetzt. 4) Wo? Auf deinen Fußsteigen. 5) Wozu? Dass meine Tritte nicht gleiten.
  Merken wir auf David, und lernen wir beten, wie er betete: Erhalte usw. 1) Wir sehen auf seinen Wandel. Er spricht von seinem Gang. Die Frömmigkeit erlaubt einem Menschen nicht, still zu sitzen. Er spricht von einem Gang in Gottes Fußsteigen. Deren gibt es dreierlei: a) der Pfad seiner Gebote, b) der Pfad seiner Verheißungen, c) der Pfad seiner Gnadenerweisungen. 2) Davids Augenmerk bei seinem Wandel: Dass meine Tritte nicht gleiten. Das ist die Sprache a) der Überzeugung, b) der Furcht, c) der Schwäche, d) der Zuversicht. William Jay † 1853.
V. 6. Zwei Worte, beide vollwichtig, ob auch klein: "Ich rufe" und "Höre". Zwei Personen, die eine klein, die andere groß: "Ich" und "Zu dir". Zwei Zeiten: "Ich habe gerufen" und "Du wirst hören". Zwei Wunder: Dass wir nicht mehr rufen, und dass Gott auf so unwürdige Gebete hört.
V. 7a. Siehe die Auslegung. Sehnsucht nach einem Lichtblick der göttlichen Güte.
V. 7b. Du Heiland usw. Gott der Heiland der Gläubigen.
V. 8. Zwei höchst sinnreiche Gleichnisse der Zärtlichkeit und Fürsorge. Das erste deutet auf lebendige Einheit, wie das Auge mit dem Leib untrennbar verwachsen ist; das andere auf liebende Gemeinschaft, wie die des Vogels und seiner Jungen.
V. 14. Weltmenschen. Wer sind sie? Was haben sie? Wo haben sie es? Was dann?
V. 15. Das ist die Sprache eines Mannes, der 1) mit sich selbst im Klaren ist, der seinen Entschluss gefasst hat, der sich nicht nach den Entscheidungen anderer richtet, 2) eines Mannes, der im Leben aufwärts strebt und große Aussichten vor sich hat; 3) die Sprache eines Israeliten.
  Das Schauen des Angesichtes Gottes bedeutet ein Zwiefaches: 1) dass man sich seiner Huld erfreut; 2) dass man vertrauten Umgang mit ihm pflegt. William Jay † 1853.
  Gott zu schauen und ihm ähnlich zu sein, das ist der Gläubigen Sehnsucht.

Fußnoten

1. Der Sinn des Satzes wird verschieden aufgefasst, etwa: Denke ich Arges, nicht überschreitet es (oder. nicht soll es überschreiten meinen Mund. Luthers Übersetzung, mit der Spurgeons Auslegung übereinstimmt, ist immerhin möglich.

2. Gegen diese Fassung als Bitte spricht das Perf. im 2. Glied. Es ist zu übersetzen: Meine Schritte hielten fest an deinen Geleisen - da wankten meine Füße nicht. Demnach gehört V. 5. noch zu dem I Abschnitt des Psalms.

3. So die engl. Bibel, Geier, Hupfeld, Moll u.a. Diese lassen also das "von (ihren) Widersachern" noch von "retten" abhängig sein. Zu der Wortstellung bemerkt Moll: "Die Angst der Stunde versetzt mit dem Atem auch die Worte." - Noch besser ist es aber wohl hsfxf mit Nmi und b:I zu verbinden: Du Retter derer die vor (ihren) Widersachern bei deiner Rechten Zuflucht suchen. So die meisten Neueren.

4. Nach den Akzenten gehört $peneb:I zu "Feinde": Feinde mit der Seele = Todfeinde. Man kann es aber auch zu dem Zeitwort ziehen. Sinn dann: die mich mit Gier umgeben.

5. Grundtext: Unsere Schritte - - (abgebrochene Redeweise, Baethgen ergänzt: beobachten sie, - nein,) schon haben sie mich umgeben. Andere fassen Wnr"W$I)a als Akk. = "auf Schritt und Tritt." Das Keri "umgeben sie uns" ist unnötige Korrektur. Der Wechsel der Zahl erklärt sich aus der Stellung Davids als Haupt seiner Getreuen.

6. Die revid. Übers. wird von Delitzsch, Lange-Moll u. a. bestätigt. - Moll sagt: Auch hier erscheinen Ton und Folge der Worte als Sprache der Angst und Hast.

7. Wie wohl die ihm vorliegende eng. Übersetzung mit der revidierten Lutherbibel übereinkommt, fasst Spurgeon doch den Schluss-Satz nach Hieronymus: "Ich werde satt werden, wenn ich erwache in deinem Bilde." Ebenso der gewöhnliche Luthertext. Vergl. 1. Joh. 3,2. Luther selbst schwankte, übersetzte aber schon 1519 richtig so, wie es jetzt in der revidierten Übersetzung steht.