Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 66 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Psalmlied, vorzusingen, wörtl.: dem Musikmeister. Es gehörte ein Mann von hervorragenden Fähigkeiten dazu, einen Psalm wie diesen würdig zu singen. Die beste Musik in der Welt müsste es sich zur Ehre rechnen, solchen Worten ihre Töne zu leihen. Der Psalm ist ein wunderbares Gedicht, wenn man ihn bloß liest; aber in eine edle Singweise gesetzt, muss er eins der erhabensten Musikwerke gewesen sein, welchem das jüdische Volk hat lauschen dürfen.

Der Inhalt des Psalms ist Lobpreis, und der Gegenstand dieses Lobpreises sind die großen Taten des HERRN, sein gnädiges Wohltun, sein treues Erretten, überhaupt sein wunderbares Walten gegen sein Volk. Den Schluss bildet ein persönliches Zeugnis des prophetischen Sängers von den besonderen Wohltaten, die er selbst erfahren hat.

Einteilung. Die Vers 1-4 fordern alle Völker auf Gott zu preisen und legen ihnen die Worte zu einem passenden Liede in den Mund; sie bilden somit eine Art einleitenden Lobgesangs. V. 5-7 laden die Völker ein: "Kommt her und sehet die Werke des HERRN." Von diesen Gottestaten wird besonders die Teilung des Roten Meers und vielleicht auch die des Jordans herausgehoben. Die Erinnerung an Ägypten legt den Gedanken an die ähnliche Lage des Volkes Gottes in der Gegenwart nahe, dessen Prüfungen nebst deren fröhlichem Ausgang in V. 8-12 zur Schilderung kommen. Nun redet der Sänger in V. 13-15 persönlich, bekennt seine Verpflichtungen gegen den HERRN und verkündigt V. 16-20, in ein kräftiges "Kommet und höret" ausbrechend, unter Danksagung die besonderen Gnadenerweisungen, die der HERR ihm erwiesen hat.


Auslegung

1. Jauchzet Gott, alle Lande!
2. Lobsinget zu Ehren seinem Namen;
rühmet ihn herrlich!
3. Sprecht zu Gott: Wie wunderbar sind deine Werke!
Es wird deinen Feinden fehlen vor deiner großen Macht.
4. Alles Land bete dich an und lobsinge dir,
lobsinge deinem Namen. Sela.


1. Jauchzet Gott. "Zu Zion," wo sich die geförderteren Heiligen in tiefe Betrachtungen zu versenken pflegten, lobte man Gott in der Stille (Ps. 65,2), und dieser stille Lobpreis fand bei Gott gnädige Annahme; aber in den großen Volksversammlungen waren rauschende Freudenbezeugungen natürlicher und angemessener, und auch diese Art der Anbetung ist Gott angenehm. Soll sich unser Lobpreisen andern mitteilen, so dürfen wir es nicht im Schrein des Herzens verschließen, sondern müssen Gott laut loben; frohlockende Lobgesänge ergreifen die Gemüter mächtig und tragen die heilige Dankesstimmung auf andere über. Unsere Tonsetzer sollten darauf bedacht sein, dass die Weisen, welche sie für den Gemeindegesang dichten, fröhlicher Art seien: wir sollen und wollen dem HERRN jauchzen. Unsre Stimme soll den HERRN loben, und unser Herz soll mit dem Munde übereinstimmen. Aller Lobpreis aller Völker sollte Gott geweiht sein. Gesegneter Tag, da nicht mehr Dschagannatha und Buddha und keinem andern Götzen mehr ein Jauchzen erklingen, sondern die ganze Erde ihren Schöpfer anbeten wird! Alle Lande, ihr Heidenvölker alle, die ihr Jehova bisher nicht kanntet. Sind der Nationen und Sprachen auch viele, so mögen doch die Lobgesänge aus allen Landen in einem Akkord dem einigen und alleinigen Gott erschallen.

2. Lobsinget zu Ehren seinem Namen, wörtl.: Besinget die Ehre oder Herrlichkeit seines Namens. Es handelt sich bei dem Jauchzen nicht um ein Lärm Machen in unverständlichen Tönen, sondern um ein Singen Geist begabter Geschöpfe, dem Höchsten zu Ehren. Da es der Gott der Ordnung und Harmonie ist, den wir anbeten, muss der Ausdruck unserer Freude auch in Melodie und Takt lieblich und fein sein. Die Ehre oder Herrlichkeit Gottes sollte der Gegenstand, seine Verherrlichung der Zweck unseres Singens sein. Gott Ruhm darbringen heißt ja nur, ihm geben, was ihm gehört. Unsere Ehre ist es, dass wir Gott ehren können, und alle wirkliche Ehre, die uns wird, sollten wir Gott zuschreiben, denn es ist seine Ehre. Soli Deo gloria, das sei der Wahlspruch aller wahrhaft Gläubigen. Der Name, d. i. die Offenbarung Gottes von seinem Wesen und von seinen Gedanken gegen die Menschenkinder, ist der höchsten Verherrlichung würdig. Rühmet ihn herrlich.1 Euer Lobpreisen sei nicht niedrig und kriechend; feierlich und herrlich steige das Lobgetöne empor. Das Gepränge der israelitischen Feste haben wir, die wir in dem neutestamentlichen Zeitalter der Anbetung im Geist und in der Wahrheit leben, nicht nachzuahmen; dafür sollen wir aber so viel Herz und heilige Andacht ganz in unseren Gottesdienst legen, dass er der Beste ist, den wir darbringen können. Herzenshingebung und geistliche Freude machen das Lob Gottes herrlicher, als es Pracht der Gewänder, Weihrauchduft und rauschende Musik je vermögen.

3. Sprecht zu Gott. Richtet all euer Lobpreisen auf ihn. Ist unser Singen nicht von Herzen Gott zugewendet, so hat es nicht mehr Wert und Nutzen, als wenn jemand in den Wind pfeift. Wie wunderbar, Grundtext: wie furchtbar, d. i. Ehrfurcht erregend, sind deine Werke! Das menschliche Gemüt wird zunächst meist von denjenigen Eigenschaften und Taten Gottes gefesselt, welche Furcht und Zittern erregen; ja auch wenn das Herz angefangen hat, Gott zu lieben und in ihm zu ruhen, so wird doch die Andacht gesteigert, wenn eine außerordentliche Entfaltung der furchterregenden göttlichen Eigenschaften die Seele in besonderer Weise mit heiliger Scheu erfüllt. Im Blick auf Erdbeben, welche ganze Erdteile erschüttert haben, auf Orkane, welche weite Länder verwüstet, auf Seuchen, welche volkreiche Städte verödet haben, und auf andere staunenerregende Entfaltungen der göttlichen Macht mag der Mensch wohl ausrufen: Wie furchtbar sind deine Werke! Das Furchtbare wiegt in allen unseren Vorstellungen von Gott so lange vor, bis wir ihn in Christus sehen. Es wird deinen Feinden fehlen vor deiner großen Macht. Deine Feinde müssen sich vor dir beugen. Jedoch ist hier, wie das Hebräische klar anzeigt, von einer erzwungenen, heuchlerischen Unterwerfung die Rede: Ob der Größe deiner Macht heucheln dir deine Feinde (Ergebenheit). Gewalt kann Menschen auf die Knie bringen, aber die Liebe allein gewinnt die Herzen. Pharao sagte, er wollte Israel ziehen lassen, aber er log Gott; er unterwarf sich mit Worten, aber nicht mit der Tat. Zehntausende, sowohl auf Erden wie in der Hölle, bringen dem Allmächtigen solche erzwungene Huldigung dar. Sie bücken sich, weil sie nicht anders können. Nicht ihre Anhänglichkeit, sondern seine Macht ist es, was sie als Untertanen seines unbegrenzten Reiches festhält.

4. Alles Land (wörtl.: die ganze Erde) bete dich an und lobsinge dir. Alle Menschen müssen sich schon jetzt vor dir niederwerfen; aber es kommt die Zeit, wo sie dieses mit Freuden tun werden. Dann wird sich zu der Anbetung aus Furcht das Lobsingen aus Liebe gesellen. Was für eine Veränderung wird das sein, wenn in allen Landen statt des Seufzens Singen erschallt und Musik die Mühsal verdrängt! Lobsinge deinem Namen. Der Gegenstand des allgemeinen Lobliedes der ganzen Erdenwelt werden das Wesen und die Werke Gottes sein, er selbst der Gegenstand der freudigen Anbetung unseres befreiten Geschlechts. Die rechte Anbetung preist Gott nicht bloß als den geheimnisvollen, unwiderstehlichen Allherrn, sondern ist durchduftet von der Erkenntnis seines Namens oder seines geoffenbarten Wesens. Jehova wünscht nicht als ein unbekannter Gott angebetet zu werden; er will nicht, dass von seinem Volk gesagt werden könne: Ihr wisset nicht, was ihr anbetet (Joh. 4,22). Möchte doch bald die Erkenntnis des HERRN die Erde bedecken (Jes. 11,9; Hab. 2,14), damit eine vernünftige, geistige Anbetung allgemein möglich werde! Eine derartige Vollendungszeit wurde augenscheinlich von dem Schreiber dieses Psalms erwartet oder doch ersehnt, und es finden sich auch wirklich durch alle alttestamentlichen Schriften hindurch Andeutungen davon, dass in der Zukunft die Anbetung Gottes allgemein verbreitet sein wird. Es war ein Zeichen von selbstverschuldeter Unwissenheit und von Scheinheiligkeit, wenn die Juden in der apostolischen Zeit dagegen wüteten, dass den Völkern das Evangelium verkündigt würde. Ein verdrehtes Judentum mag engherzig sein; die Religion eines Mose, eines David und Jesaja war es nicht.
  Sela. Nach einer so großen Weissagung wird mit Recht eine kleine Pause für heiliges, ausschauendes Erwarten eingeschoben, und auch der Wink, die Herzen zu erheben,2 ist passend. Keine sinnende Betrachtung kann ja mehr erfreuen als eine solche, die durch die Aussicht auf eine mit ihrem Schöpfer versöhnte Welt hervorgerufen wird.


5. Kommt her und sehet an die Werke Gottes,
der so wunderbar ist mit seinem Tun unter den Menschenkindern.
6. Er verwandelte das Meer ins Trockne,
dass man zu Fuß über das Wasser ging;
dort freueten wir uns sein.
7. Er herrschet mit seiner Gewalt ewiglich;
seine Augen schauen auf die Völker.
Die Abtrünnigen werden sich nicht erhöhen können. Sela.


5. Kommt her und sehet an die Werke (die Großtaten) Gottes. So gewaltige Ereignisse wie die Teilung des Roten Meeres und die Niederlage Pharaos (V. 6) sind stehende Wunder, und über ihnen erschallt durch alle Zeiten eine Stimme: "Kommt her und sehet!" Ja, bis zum Ende aller Dinge werden die wunderbaren Taten Gottes am Schilfmeer Gegenstand anbetender Betrachtung sein; denn auch die triumphierenden Scharen, die droben an dem gläsernen, mit Feuer gemengten Meere stehen, singen das Lied Moses, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes. (Off. 15,2 f.) Jene Errettungstat ist stets ein Lieblingsthema der gottbegeisterten Dichter gewesen, und diese Wahl war sehr angemessen. Der so wunderbar (Grundtext: furchtbar, d. i. Ehrfurcht erregend) ist mit seinem Tun unter den Menschenkindern (wörtl.: über die Menschenkinder hin). Um seine Gemeinde zu verteidigen und ihre Feinde niederzuwerfen, teilt er niederschmetternde Streiche aus und schlägt die Mächtigen mit Furcht. O Feind, warum prahlst du so? Lass doch dein Rühmen und Trotzen und gedenke der Plagen, die den Willen Pharaos brachen, des Untergangs der ägyptischen Kriegswagen im Roten Meer, des Sieges über Og und Sihon, der Vertreibung der Kanaaniter vor den Stämmen Israels und all der andern Großtaten Jehovas. Auch heute noch lebt derselbe Gott, und ihm gebührt Anbetung in zitternder Ehrfurcht.

6. Er verwandelte3 das Meer ins Trockne. Es war kein geringes Wunder, einen Weg durchs Meer zu bahnen, und zwar so, dass eine ganze Nation hindurchziehen konnte. Der dieses zuwege brachte, vermag alles und muss Gott sein, der ewig Anbetungswürdige. Und was lernt der Christ daraus? Dass ihn kein Hindernis auf dem Wege zum Himmel zu hemmen braucht; denn auch das Meer konnte Israel nicht zurückhalten. Ja der Tod selbst soll sein wie das Leben (Röm. 8,38); der Jordan wird trockenes Land, wenn Gottes Gegenwart spürbar wird: zu Fuß gingen sie durch den Strom hinüber. (Wörtl.) Die Stämme zogen trockenen Fußes durch den Fluss; der Jordan fürchtete sich vor ihnen.

  Was war dir, o Meer, dass du flohest?
  Wer zähmte der Wogen Wut?
  Was war dir, o Jordan, dass stille
  Sich legte die wallende Flut?

  Vor Gott muss die Erde erbeben,
  Vor Gott muss sich beugen die Welt,
  Der Bäche lässt quellen vom Felsen
  Und alles in Händen hält.

  Dort freueten wir uns sein, und heute nehmen wir teil an jener alten Freude; wie lebendig steht das Ereignis vor unseren Augen! Es ist uns, als wären wir persönlich dabei gewesen, lobsingend dem HERRN, der dort so herrlich triumphierte. Der Glaube versetzt sich völlig in die Freuden, die das Volk Gottes in vergangenen Tagen erlebt hat, und macht sie sich ebenso zu eigen, wie er sich in die glorreiche Zukunft versetzt und dadurch eine gewisse Zuversicht wird des, das man hoffet (Hebr. 11,1). Man merke: Israel freute sich seines Gottes, und solcherart sei auch unsre Freude. Es ist nicht so sehr das, was er getan hat, als vielmehr das, was er ist, was in uns solch heiliges Frohlocken erweckt. Er ist mein Gott, ich will ihn preisen; er ist meines Vaters Gott, ich will ihn erheben (2. Mose 15,2).

7. Er herrschet mit seiner Gewalt ewiglich. Er ist nicht gestorben, hat nicht abgedankt, noch je eine Niederlage erlitten. Seine Kraft, die er einst am Roten Meer entfaltet hat, ist unverkürzt, und die göttliche Herrschaft dauert in die Ewigkeiten der Ewigkeiten. Seine Augen schauen auf die Völker. Wie er damals aus der Feuersäule und Wolke auf die Ägypter schaute und sie schreckte, so erspäht er auch jetzt seine Feinde, und ihre Anschläge entgehen ihm nicht. Seine Hand herrscht und sein Auge wacht; weder ist jene schwach noch dieses trüb geworden. Er sitzt über dem Kreis der Erde, und die darauf wohnen, sind vor ihm wie Heuschrecken. Er überschaut alle und übersieht niemand, und mit einem Blick erfasst er alle ihre Wege. Die Abtrünnigen werden sich nicht erheben können, oder, wie andere übersetzen: mögen sich nicht Erhebung erlauben. Die Stolzesten haben keine Ursache, stolz zu sein. Könnten die Widerspenstigen sich sehen, wie Gott sie sieht, so würden sie in ein Nichts zusammenschrumpfen. Wenn die Empörung wider Gott zu großer Macht anschwillt und sich des Erfolges sicher wähnt, genügt zur Dämpfung unserer Befürchtungen der Gedanke, dass der allmächtige Herrscher zugleich ein allwissender Beobachter ist. Ihr hochmütigen Empörer, bedenkt doch, dass der HERR die Pfeile seines Bogens auf die hoch kreisenden Adler richtet und sie von ihrem Sternennest zur Erde herunterbringt (Jer. 49,16; Obadja 1,4). Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen (Lk. 1,52). Wenn die Menschen, die sich wider den HERRN auflehnen, recht bei Sinnen wären, so würden sie nach einem Blick auf das Rote Meer alle Lust zum Kampfe verlieren, ja sie würden sich dem allgewaltigen Sieger zu Füßen werfen. Sela. Haltet einen Augenblick inne und beugt euch tief vor dem Thron des Ewigen.


8. Lobet, ihr Völker, unseren Gott;
lasst seinen Ruhm weit erschallen,
9. der unsre Seelen im Leben erhält
und lässt unsere Füße nicht gleiten.
10. Denn, Gott, du hast uns versucht und geläutert,
wie das Silber geläutert wird;
11. du hast uns lassen in den Turm werfen,
du hast auf unsere Lenden eine Last gelegt,
12. du hast Menschen lassen über unser Haupt fahren;
wir sind in Feuer und Wasser kommen;
aber du hast uns ausgeführt und erquicket.


8. Lobet (benedeiet), ihr Völker, unseren Gott; lasst seinen Ruhm weit erschallen. Abermals werden die Nationen der Heiden aufgefordert, den Gott zu preisen, der sich an dem auserwählten Samen so herrlich erweist. Wohl dem Volke, das diesen Wundergott seinen Gott nennen darf! Natürlich soll es den Nationen im Lobpreis seines Bundesgottes vorangehen; aber alle Völker sollen in das Gloria Israels einstimmen. Auch du, mein Volk, solltest nicht zurückbleiben!

9. Der unsre Seelen im Leben erhält.4 Zu jeder Zeit ist die Erhaltung des Lebens, und besonders des Lebens der Seele, Grund zu brünstigem Dank, sonderlich aber, wenn es uns auferlegt war, schwere Trübsale zu erleiden, die uns erdrückt hätten, wenn der HERR nicht unser Beistand gewesen wäre. Gebenedeit sei Gott, dem es gefallen hat, unseren Seelen das Leben zu geben und diese Himmelsgabe vor der zerstörenden Gewalt des Feindes zu bewahren. Und lässt unsere Füße nicht gleiten. Dies ist eine weitere kostbare Gabe. Wenn Gott uns in den Stand setzt, nicht nur unser Leben, sondern auch unsere Stellung zu bewahren, so sind wir verpflichtet, ihm zwiefachen Lobpreis zu zollen. Die Gläubigen leben nicht nur, sondern stehen auch fest, und beides durch Gottes Gnade. Unsterblich und unbeweglich sind diejenigen, welche Gott bewahrt. Satan steht beschämt da; denn er ist nicht einmal imstande, die Heiligen zum Straucheln zu bringen, geschweige denn sie umzubringen, wie er gehofft hatte. Gott vermag die Schwächsten so mit Stärke zu gürten, dass sie feststehen ohne Wanken; er will es auch an uns tun.

10. Denn, Gott, du hast uns versucht. Jehova versuchte sein Israel mit schmerzlichen Prüfungen. David selber kam in mancherlei Proben. Alle Heiligen müssen in den Schmelztiegel. Gott hatte einen Sohn ohne Sünde, aber nie einen ohne Prüfungen. Warum sollten wir uns denn beklagen, wenn wir der der ganzen Gottesfamilie gemeinsamen Regel unterworfen werden, die sich an allen Gliedern derselben so segensreich erwiesen hat? Ist es doch der HERR selbst, der uns prüft; wer wird dann zweifelnd fragen, ob Weisheit und Liebe sein Tun regieren? Es wird der Tag kommen, wo sich, wie hier bei Israel, unsere Betrübnisse in Loblieder verwandeln, die dann umso süßer erklingen werden, weil unser Mund durch den bitteren Trank gereinigt sein wird. Und geläutert, wie das Silber geläutert wird. Wiederholte scharfe und gründliche Herzensdurchforschung war das Läuterungsfeuer, und es hatte denselben Erfolg wie beim Edelmetall; denn Schlacken und Schmutz waren verzehrt worden und das lautere Gold aus dem Feuer hervorgegangen. Wenn die heiße Prüfung aber einem so begehrenswerten Zwecke dient, wollen wir uns ihr dann nicht mit völliger Gelassenheit unterwerfen?

11. Du hast uns lassen in den Turm werfen. So übersetzt Luther und ähnlich viele neuere Ausleger: Du hast uns ins Gefängnis gebracht. Andere aber, so auch die engl. Bibel, übersetzen nach den LXX: Du hast uns ins Netz gebracht. Das Volk Gottes war in der alten Zeit oft von der Macht seiner Feinde eingeschlossen worden wie Fische oder Vögel in einem Netz. Es schien für sie keinen Ausweg zu geben. Ihr einziger Hoffnungsschimmer war, dass Gott selbst sie dahingebracht hatte; aber auch dieser Trost tat nicht immer gleich seine Wirkung, weil sie wohl wussten, dass er sie in seinem Zorn, als Strafe für ihre Übertretungen, in solche Not geführt hatte. Israels Lage in Ägypten war sehr ähnlich der eines Vogels, der in dem Netz des Vogelstellers gefangen ist. Du hast auf unsere Lenden eine Last gelegt. Ihre Lasten und Leiden wurden durch den harten Druck, den sie auf sie ausübten, zu einer fast unerträglichen Qual. Die Bürde lag nicht allein auf ihrem Rücken, sondern auch ihre Lenden wurden durch die Wucht des Missgeschicks gepresst und gequetscht. Die Trübsal ist auf Erden ein fast unzertrennlicher Gefährte des Volkes Gottes. Wie jeder Israelit in Ägypten ein Lastträger war, geradeso ist es jeder Gläubige, solange er in diesem Land der Fremdlingsschaft weilt. Wie Israel ob der schmerzlichen Bedrückung zu Gott schrie, so tun das auch die Heiligen. Wir vergessen zu oft, dass Gott es ist, der die Trübsale auf uns legt; wenn wir das nicht aus den Augen ließen, würden wir uns ihrem Druck geduldiger unterwerfen. Jetzt schmerzt er uns; aber es kommt die Zeit, da wir für jedes Quäntchen unserer jetzigen Bürde ein, wie der Apostel sich ausdrückt, überschwengliches ewiges Gewicht von Herrlichkeit empfangen werden (2. Kor. 4,17).

12. Du hast Menschen lassen über unser Haupt5 fahren. Menschen, die selber nur Staub von der Erde waren, elende Wichte (man vergl. das enosch des Grundtext6, ritten doch hoch zu Ross und behandelten in ihrer Anmaßung die Glieder des Volkes Gottes, als ob diese die allerverächtlichsten Kreaturen wären. Sie ritten über die im Staube Liegenden dahin, sogar über ihr Haupt, wie man über einen Wurm hinschreitet und ihn zertritt. Wenn Gottes Knechte hochmütigen Verfolgern in die Hände fallen, ist nichts zu schlecht für sie. Wir sind in Feuer und Wasser kommen, d. h. in Gefahren und Leiden allerart. Viele Prüfungen mannigfaltiger Art musste Israel in Ägypten erdulden, und das gleiche ist bis heute das Los der Gotteskinder in der Welt. Das Feuer der Ziegelöfen und die Wasser des Nils taten ihr Äußerstes, um das erwählte Volk zu vernichten; Fronarbeit und Kindesmord, beides versuchte der Tyrann - aber unverletzt ging Israel durch alle Proben, und ganz ebenso hat die Gemeinde Gottes alle Ränke und Grausamkeiten der Menschen überlebt und wird sie auch ferner überleben. Feuer und Wasser verschlingen alles ohne Erbarmen; aber ein Befehlswort aus dem Munde des Allmächtigen hemmt ihre Wut und verbietet diesen oder irgendwelchen anderen Mächten, den auserwählten Samen gänzlich zu vernichten. Mancher Himmelserbe hat entsetzliche Trübsale durchgemacht: das Feuer, in das er geriet, war schrecklicher als dasjenige, welches die Knochen verkohlt, denn es nährte sich an dem Mark seines Geistes und brannte in das Innerste des Herzens hinein, und die Wasserfluten der Trübsal, in denen er versinken zu müssen schien, waren mehr zu fürchten als die grausame See, denn sie drangen in die Seele selbst ein und rissen den inneren Menschen in Schreckenstiefen hinab, an die man nicht ohne Zittern denken kann. Und doch hat bisher noch jeder wahrhaft aus Gott Geborene in dem allen weit überwunden, und es wird auch ferner so sein. Noch niemand hat ein Feuer angezündet, das den Weibessamen verbrennen könnte, und auch selbst der Drache vermag keinen Strom auszuspeien, der jenen ersäufen könnte. (Off. 12,15 f.) Aber du hast uns ausgeführt und erquicket, oder wörtlicher: Aber du hast uns ausgeführt in die Fülle (Luther 1524), oder nach anderer Lesart: ins Weite.7 Ein gesegneter Ausgang einer traurigen Geschichte. Kanaan war in der Tat ein weiter, wahrhaft königlicher Besitz für die ehedem geknechteten Stämme. Gott, der sie nach Ägypten geführt hatte, brachte sie auch in das Land, darinnen Milch und Honig floss, und nach seinem Plan war Ägypten eine Station auf der Reise nach Kanaan. Der Weg zum Himmel führt auch heute durch das Elendstal. Doch nur mutig voran: der HERR führt aus der Enge in die Weite, aus der Knechtschaft in die Freiheit, aus der Drangsal zu reicher Erquickung. Wie frei und reich ist der Stand des Gläubigen! Und er empfindet dies doppelt gegenüber der früheren Knechtschaft. Welche Lieder könnten uns genügen, der Freude und dem Danke für solch herrliche Befreiung und solch reiche Erbschaft gebührend Ausdruck zu geben! Noch mehr aber wartet unser. Die Tiefen unserer Kummernisse stehen in keinem Verhältnis zu der Höhe der Wonne, die wir genießen sollen. Für unsere Schmach werden wir Zwiefältiges, ja mehr als das an Herrlichkeit empfangen. Wir sollen wie Joseph aus dem Kerker zum Königspalast steigen, wie Mardochai dem Galgen entgehen, den uns die Bosheit zugerichtet hat, und auf dem königlichen Leibross reiten und das königliche Gewand tragen, das uns überströmende Huld beschert. Statt des Netzes Freiheit, statt der Last auf den Lenden eine Krone auf unserm Haupt! Statt dass Menschen über uns reiten, sollen wir über die Völker herrschen. Kein Feuer soll uns mehr anfechten, denn unsere Natur wird so herrlich verändert sein, dass wir an dem gläsernen Meer stehen können, das mit Feuer gemengt ist (Off. 15,2), und das Wasser wird uns keinen Schaden mehr tun können, denn das Meer wird nicht mehr sein (Off. 21,1). O welch glanzvoller Abschluss der düsteren Geschichte des Volkes Gottes! Preis und Anbetung sei Ihm, der in dem, was uns als Übel erschien, den richtigen Weg zu dem wahren Guten erkannt hat! Wir wollen mit Geduld das gegenwärtige Dunkel ertragen, denn der Morgen kommt. Der Glaube schaut über den Hügeln den Anbruch des Tages, in dessen Licht wir in die Himmelsweite eingehen werden.


13. Darum will ich mit Brandopfern gehen in dein Haus
und dir meine Gelübde bezahlen;
14. wie ich meine Lippen habe aufgetan
und mein Mund geredet hat in meiner Not.
15. Ich will dir Brandopfer bringen von feisten Schafen
samt dem Rauch von Widdern, ich will opfern Rinder mit Böcken. Sela.


13. (Das Darum steht im Grundtext nicht.) Ich will. Das Gotteskind ist sich dessen so stark bewusst, wie sehr es persönlich der Gnade verpflichtet ist, dass es nicht anders kann als für sich selber Gott Dank darbringen. Wohl nimmt es an der allgemeinen Danksagung teil; weil aber auch die beste öffentliche Form nie jedem einzelnen Falle Rechnung tragen kann, so sorgt das Gotteskind dafür, dass auch die besonderen Erweise der Barmherzigkeit, die es empfangen hat, nicht vergessen werden, indem es sie mit der eigenen Feder niederschreibt und mit den eigenen Lippen besingt. Ich will mit Brandopfern gehen in dein Haus, wie es alle frommen Menschen tun. Auch das ganz von Dankesstimmung erfüllte Herz darf nicht ohne Opfer zu Gott nahen. Wir können sowohl von dieser wie von jeder anderen Form des Gottesdienstes sagen: Des Leibes Leben ist in seinem Blut (3. Mose 17,14). Lieber Leser, versuche nie vor Gott zu treten ohne Jesus, das von Gott verheißene, gegebene und angenommene Brandopfer. Und dir meine Gelübde bezahlen. Der Psalmist will nicht mit leeren Händen vor dem HERRN erscheinen; aber er will auch nicht mit dem, was er opfert, prahlen, da er weiß, dass er damit nur tut, was er infolge seiner Gelübde zu tun schuldig ist. Schließlich sind ja unsere größten Gaben bloß Zahlungen fälliger Schulden; geben wir noch so viel, so müssen wir doch bekennen: Von dir ist’s alles gekommen, und von deiner Hand haben wir dir’s gegeben (1. Chr. 29,14). Wir sollten langsam sein Gelübde zu übernehmen, aber eilfertig sie auszuführen. Wenn Gott uns aus der Not befreit hat und wir dann wieder zum Hause des HERRN hinaufgehen können, sollten wir sofort die Gelegenheit wahrnehmen, um unsere Versprechungen zu erfüllen. Wie können wir ein andermal Hilfe erwarten, wenn wir uns gegenüber den Gelübden treubrüchig erweisen, die wir aus eigenem Antrieb in Stunden der Not eingegangen sind?

14. Wie ich meine Lippen habe aufgetan, oder wörtlicher: wozu sich meine Lippen aufgetan haben. Heißt das vielleicht, wie man so in gemeiner Rede sagt: "womit meine Lippen herausgeplatzt sind"? (Vergl. den nämlichen Ausdruck Richter 11,35) Dann waren ihm seine Gelübde also abgerungen; die äußerste Not hatte die Tür der Lippen aufgebrochen, und das Gelübde war herausgeschossen wie ein lang eingedämmter Wildbach, der endlich einen Ausweg gefunden hat. Ebenso eifrig, wie wir im Geloben waren, sollten wir aber auch im Erfüllen sein; doch geht leider manches Gelübde in so raschem Wortschwall aus den Lippen hervor, dass damit die ganze Kraft erschöpft ist und keine mehr für die Ausführung übrigbleibt. Und mein Mund geredet hat. Er hatte das Versprechen öffentlich gegeben und denkt nicht daran, davon zurückzugehen; ein ehrlicher Mann ist immer bereit, eine Schuld anzuerkennen. In meiner Not. Die Bedrängnis hatte ihm das Gelübde ausgepresst, Gott hatte es angenommen und der Not ein Ende gemacht, und jetzt wünscht der Psalmist sein Versprechen einzulösen. Für jeden Menschen ist es nützlich, sich der einstigen Not zu erinnern. Stolze Geister sprechen gerne so, als ob ihr Weg immer glatt gewesen wäre und als ob kein Hund es sich herausnehmen dürfe, ihre hochwohledle Persönlichkeit anzubellen, ja kaum ein Regentropfen es wagen dürfe, ihren Glanz zu bespritzen; aber gerade diese Emporkömmlinge haben aller Wahrscheinlichkeit nach Zeiten hinter sich, wo es äußerlich und innerlich um sie so trostlos stand, dass sie herzlich gern die Hilfe jener, die ihnen jetzt so verächtlich sind, angenommen hätten. Ja sogar der große Cäsar, dessen Blick die Welt zum Zittern brachte, musste sein Teil Not haben und schwach werden wie andere Menschen, dass sein Feind die bittere Bemerkung machen konnte: "Ich merkte gut, wie er zitterte, wenn er seine Anfälle bekam." Von dem stärksten Mann könnte seine Amme eine Geschichte von der äußersten Hilflosigkeit erzählen, und vom Prahler könnte seine Frau sagen: "Ich hörte ihn da seufzen und stöhnen, alle Farbe war von seinen Lippen gewichen." Allen Menschen ist ihr Teil Trübsal zugemessen; aber ihr Verhalten in der Not ist verschieden: der Gottlose macht sich ans Fluchen und der Fromme ans Beten. Schlechte und Gute nehmen je und je ihre Zuflucht zu Gelübden; doch lügen die einen damit Gott etwas vor, während die andern ihr Wort gewissenhaft halten.

15. Ich will dir Brandopfer bringen von feisten Schafen. Ein rechtschaffener Mann gibt Gott das Beste. Er schleppt kein halb verhungertes Tier zum Altar, sondern sucht die feistesten aus, die sich auf der Weide finden, und lässt ihren Duft auf dem heiligen Feuer im Rauch emporsteigen. Wer gegen Gott geizig ist, ist in der Tat ein Lump. Nicht viele von denen, die sich Kinder des großen Königs nennen, beweisen es auch im Geben, dass sie fürstliche Gedanken haben (Jes. 32,8); aber diese wenigen finden darin reichen Lohn. Samt dem Rauch von Widdern. Auch der Opferduft der brennenden Widder soll vom Altar emporsteigen; von allem, was er hat, will er das Beste dem HERRN darbringen. Gebührt es nicht auch uns, dem HERRN von allem, was wir haben, sein Teil zu geben, und muss dieses nicht das Auserlesenste sein? Das Verbrennen des Fettes auf Jehovas Altar war keine Verschwendung, ebenso wenig wie das Ausschütten der köstlichen Salbe auf Jesu Haupt (Mt. 26,7). Große Geschenke und reichliche Opfergaben an die Gemeinde Gottes bedeuten auch für niemand einen Vermögensverlust; denn solches Geld ist zu einem guten Zinsfuß angelegt und wird da aufbewahrt, wo die Diebe es nicht stehlen und Motten und Rost es nicht fressen können (Mt. 6,19). Ich will opfern Rinder mit Böcken. Ein besonders reiches Opfer sollte den Kreis der Gaben vervollständigen und die starke Liebe des Darbringers anzeigen. Wir sollten den HERRN durch Großes und Kleines zu verherrlichen suchen. Nichts von dem, was er verordnet hat, darf missachtet werden; wir sollen weder die Farren noch die Widder vergessen. Diese drei Vers führen uns eine Dankbarkeit vor Augen, die sich nicht mit Worten begnügt, sondern ihre Aufrichtigkeit durch Taten gehorsamen Opfers beweist.
  Sela. Auch wir wollen einen Augenblick innehalten und die Stille dazu benutzen, unsere Gelübde des Dankes vor dem HERRN zu erneuern.


16. Kommt her, höret zu, alle, die ihr Gott fürchtet;
ich will erzählen, was er an meiner Seele getan hat.
17. Zu ihm rief ich mit meinem Munde
und pries ihn mit meiner Zunge.
18. Wo ich Unrechtes vorhätte in meinem Herzen,
so würde der Herr nicht hören.
19. Aber Gott hat mich erhöret
und gemerkt auf mein Flehen.
20. Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft,
noch seine Güte von mir wendet.


16. Kommt her, höret zu. Vorher hieß die Aufforderung: "Kommt her und sehet." Das Gehör ist das Auge des Glaubens. Die Gnade kommt zu uns durch die Pforte des Ohrs. Höret, so wird eure Seele leben (Jes. 55,3). Sie sollten kommen und sehen, wie furchtbar Gott ist (V. 5), aber kommen und hören, wie gnädig er ist. Alle, die ihr Gott fürchtet: solche Leute sind die rechten Zuhörer, wenn ein Gottesmann sich anschickt, seine Erfahrungen zu erzählen. Wir tun wohl daran, in der Auswahl unserer Zuhörer wählerisch zu sein, wenn wir von den inneren Angelegenheiten der Seele reden wollen. Wir dürfen die Perlen nicht vor die Säue werfen. Wir begehren nicht, losen Leuten Stoff zu faulen Witzen an die Hand zu geben; darum ist es weise, wenn wir von unseren persönlichen geistlichen Erfahrungen nur da reden, wo man sie versteht, und nicht, wo man darüber Possen reißt. Alle gottesfürchtigen Menschen dürfen es hören; aber fort mit euch, die ihr das Heilige mit Füßen tretet! Ich will erzählen, was er an meiner Seele getan hat. Ich will immer aufs Neue die Barmherzigkeit rühmen, die Gott mir, meiner Seele, meinem besten Teil, meinem eigentlichsten Ich, erwiesen hat. Alle erfahrenen, gereiften Christen sollten treulich von dem Zeugnis ablegen, was Gott an ihnen getan hat, damit das jüngere, schwächere Geschlecht dadurch Mut gewinne, ebenfalls auf den HERRN zu trauen. Das Tun und Treiben der Menschen zu erzählen ist unnötig; dasselbe ist allzu kleinlich und nichtig, und überdies sind deren schon gerade genug, die das alles ausposaunen. Aber die gnadenreichen Taten Gottes verkündigen, das bringt Belehrung, Trost und Anfeuerung, ja es ist unabsehbar, welch wohltätige Folgen es haben kann. Jeder spreche dabei für sich selbst; denn das persönliche Zeugnis ist das glaubwürdigste und nachdrücklichste. Erfahrungen, die man nur andern nachspricht, sind wie eine aufgewärmte Speise: es fehlt der frische Geschmack, die Anziehungskraft des Selbsterlebten. Darum soll den dankbaren Gläubigen keine falsche Bescheidenheit zurückhalten, von sich, oder vielmehr von dem, was Gott an ihm getan hat, zu reden; er ist es der Ehre des HERRN schuldig. Er braucht sich dabei auch nicht zu scheuen, ganz persönlich zu reden, also die erste Person der Einzahl zu gebrauchen, wie der Psalmdichter hier, weil er die Liebeswege des HERRN so am besten im Einzelnen schildern kann. Gewiss sollen wir unser Ich nicht in den Vordergrund stellen; aber wenn es gilt, für den HERRN Zeugnis abzulegen, dann darf auch dieses Ich nicht fehlen.

17. Zu ihm rief ich mit meinem Munde und pries ihn mit meiner Zunge, Grundtext: und Lobpreis war (währenddessen in der Gewissheit der Erhörung schon) unter meiner Zunge (bereit, sofort hervorzubrechen). Bitten und Preisen gehören zusammen wie die Pferde an Pharaos Wagen. Manche schreien wohl zu Gott in der Not, preisen ihn aber nicht; andere singen mit ihrer Zunge wohl Loblieder, wissen aber nichts von dem Rufen aus tiefer Not. Wir halten es mit dem Doppelgespann. Weil Gott die Erhörung unseren Bitten häufig auf dem Fuß folgen, ja sie überholen lässt, ziemt es sich, dass wir das dankerfüllte Lob mit unseren demütigen Bitten Schritt halten lassen. Man merke: des Psalmisten Mund war aufgetan, und das Band seiner Zunge war los. Ja, der HERR hat aus seinen Kindern den stummen Teufel ausgetrieben, und diejenigen, die am wenigsten fließend reden können, haben oft die größte Herzensberedsamkeit.

18. Wo ich Unrechtes vor (Augen gehabt) hätte in meinem Herzen. Wenn ich, nachdem ich Unrecht in meinem Herzen gefunden, dieses fortgesetzt ohne Abneigung angeschaut, es gehegt, es mit Seitenblicken der Liebe angesehen, es zu entschuldigen und abzuschwächen versucht hätte, so würde der Herr nicht hören. Wie könnte er das auch? Wie kann ich erwarten, dass er die Augen über meine Sünde zudrücken und mich gnädig ansehen werde, solange ich eigensinnig auf bösem Wege weiter wandle? Nichts hemmt den Lauf unserer Gebete so, als wenn wir Ungerechtigkeit in unserm Busen herbergen; es ist dann wie bei Kain: die Sünde liegt vor der Tür (1. Mose 4,7) und versperrt den Weg. Wenn du auf den Teufel hörst, wird Gott nicht auf dich hören. Wenn du dich weigerst, Gottes Befehlen zu lauschen, so wird Gott sich auch weigern, auf deine Gebete zu lauschen. Gott hört um Christi willen auch Gebete, die sehr mangelhaft sind, aber keins, das mit Wissen und Willen gefälscht ist. Wenn Gott unsere Gebete annähme, solange wir an der Sünde Gefallen haben, so würde er sich zum Gott der Heuchler machen; aber das ist wahrlich ein treffenderer Name für den Satan als für den Heiligen Israels.

19. Aber Gott hat mich erhöret. Ein sicheres Kennzeichen, dass der Beter von geheimer Sündenliebe frei war. Die Erhörung seines Gebets war ihm eine neue Versicherung, dass sein Herz vor Gott aufrichtig war. Siehe, wie gewiss der Psalmdichter war, dass Gott ihm geantwortet hatte. Diese Gewissheit der Erhörung ist ein ander Ding als bloße Hoffnung, Einbildung und Vermutung. So hat es der Psalmist mit gesegneten Tatsachen zu tun, die ihm einerseits Gottes Herz als voller Liebe und anderseits sein Herz als aufrichtig offenbaren. Und gemerkt auf mein (lautes) Flehen, indem er sein Ohr zu demselben neigte, es dolmetschte, annahm und beantwortete. Darin hat er beidem, seiner Gnade wie der Geradheit meines Herzens, Zeugnis gegeben. Liebe zur Sünde ist eine Pestbeule, ein Brandmal im Gewissen, das von aller Gemeinschaft mit Gott ausschließt. Gebete, welche bei Gott lebendig und mächtig sind, steigen aus Herzen auf, die allem Liebäugeln mit der Sünde Valet gesagt haben. Möge der Leser zusehen, dass er im innersten Grunde seiner Seele alle Verbindung mit der Ungerechtigkeit abgebrochen, alles Dulden geheimer Lust oder verborgenen Unrechtes aufgegeben habe.

20. Gelobt (gebenedeit) sei Gott. Sein Name werde gepriesen; ihm gehöre die ganze Liebe meines Herzens. Der mein Gebet nicht verwirft, noch seine Güte von mir wendet. Er verstößt weder mein Gebet noch mich. Der Grundtext lautet etwas anders, eigentümlich aber kräftig: Der mein Gebet und seine Gnade mir nicht entzogen hat, was wohl bedeutet: Er hat mir seine Gnade nicht entzogen, was sich darin erwies, dass ich beten konnte und durfte. Wenn Gott einem Menschen seine Gnade entzieht, so entzieht er ihm auch das Gebet, dass er nicht mehr beten kann, sondern in Verzweiflung versinken muss. Gott bewahre uns vor solch entsetzlichem Gericht! Lasst es uns als ein Geschenk der Barmherzigkeit des HERRN erkennen, wenn wir beten können, und mit dem Psalmdichter Gott preisen: Er hat mir seine Liebe und die Freiheit zum Beten nicht entzogen! Seine Barmherzigkeit und mein Flehen treffen noch immer zusammen und folgen einander wie das Echo dem Ruf. So schließt der Psalm mit seinem Grundton; denn wie ein goldener Faden zieht sich das Wörtlein Loben durch den ganzen Psalm. HERR, hilf uns von Herzen einstimmen! Amen.


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Ps. 66 war der Text bei dem Dankgottesdienst, der in allen Kirchen Kursachsens gefeiert wurde, als Gustav Adolf am 7. Sept. 1631 den glänzenden Sieg über Tilly bei Breitenfeld errungen hatte. Nach Th. u. Ph. Schmidt 1713.


V. 1. Jauchzet Gott, alle Lande! Gott wird sich erweisen als der Gott nicht nur der Juden, sondern auch der Heiden, und es werden diese geradeso "Christus" rufen wie jene "Messias", diese "Vater" sagen wie jene "Abba". Überall auf Erden soll einmal dieselbe große Freude herrschen wie einst in Samaria, als dort die Freudenbotschaft des Heils ihren Einzug hielt (Apg. 8,8). John Trapp † 1669.


V. 3. Sprecht, sagt David. Es ist nicht genug, bloß an Gott zu denken. Obwohl auch das seine Zeit und seinen Ort hat, dass wir uns sinnend in Gott und die göttlichen Dinge versenken, so ist doch jenes, das Sprechen von und zu Gott, mehr als dieses und auch mehr als bloßes Bewundern; denn dies alles kann in Schwärmereien und Torheiten, in nutzlosen und sogar leichtfertigen und gottlosen Grübeleien und Träumereien endigen. John Donne † 1631.
  Wie furchtbar sind deine Werke. (Grundtext) Wenn man, wie es manche gern hätten, aus der Bibel die furchtbaren Wahrheiten und aus der göttlichen Weltregierung die schreckenerregenden Taten herausnähme, so würden damit die ganze Welt- und Wahrheitsordnung, unter welche Gott uns gestellt hat, ihres männlichen Ernstes beraubt. William Swan Plumer 1867.
  Ob der Größe deiner Macht heucheln dir deine Feinde Ergebenheit. (Grundtext) Also Gott selbst hat Feinde; wie könnten wir denn hoffen oder auch nur begehren, ohne solche zu sein? Aber auch die Feinde müssen zu Gottes Verherrlichung dienen, und ähnlich kann auch uns die Feindschaft, die wir erfahren, auf dem Weg zur Herrlichkeit fördern, indem wir dadurch in der Geduld geübt werden. Diejenigen Wesen, für welche Gott am meisten getan hatte, die Engel, waren die ersten, die sich gegen ihn kehrten; so wundere du dich nicht, wenn solche, denen du sonderliche Liebe erwiesen hast, dir mit tödlichem Hass vergelten. - Gott selbst hat Feinde, und das ist sehr tröstlich für dich, sein angefochtenes Kind; aber noch tröstlicher ist, dass Gott deine Feinde seine Feinde nennt. Wir hören von unserm Heiland keine Wehklage über das Leid, das ihm zugefügt wurde; schweigend duldete er die Wut seiner Feinde, solange diese sich nur gegen seine Person richtete. Aber als Saul mit Dräuen und Morden wider die Jünger des Herrn schnaubte, da schwieg Christus nicht, sondern rief: Saul, Saul, was verfolgest du - mich? John Donne † 1631.
  Heucheln dir. In Zeiten der Trübsal, da Gottes große Macht sich offenbart, ist Krethi und Plethi willig, sich vor Gott zu beugen; aber selten ist solche Unterwerfung aufrichtig. Jeremiah Burroughs † 1646.
  Die Erdbeben in Neuengland (dem nordöstlichen Teil der späteren Vereinigten Staaten von Nordamerika) verursachten eine Art religiöser Panik. Einer der damaligen Prediger von Boston berichtet, dass unmittelbar nach dem großen Erdbeben viele seiner Zuhörer zu ihm gekommen seien und den Wunsch ausgesprochen hätten, in die Gemeinde aufgenommen zu werden. Er habe aber bei der Unterredung mit ihnen keinerlei Erweis gefunden, dass sie innerlich anders geworden wären, keine Erkenntnis ihrer Sündhaftigkeit, kurzum nichts anderes als eine gewisse abergläubische Furcht, die durch die Meinung, als ob das Ende der Welt gekommen sei, hervorgerufen war. Alle Antworten, die sie gaben, zeugten davon, dass diese Leute sich nicht zu Gott bekehrt hatten, wiewohl sie die Größe seiner Macht in dem Erdbeben gefühlt hatten. Edward Payson † 1827.


V. 5. Kommt her und sehet an die Werke Gottes. Damit ist mittelbar ein Tadel ausgesprochen über jene fast allgemeine Gedankenlosigkeit, welche die Menschen dazu führt, das Lob Gottes zu vernachlässigen. Jean Calvin † 1564.
  Kommt her und sehet, so ruft die Gemeinde des HERRN allezeit der Welt zu, wie Jesus den beiden Jüngern des Täufers und Philippus dem Nathanael (Joh. 1,39.46). Gottes Wunder könnten alle schauen, und sie in der rechten Weise sehen ist der erste Schritt zum Glauben an ihren göttlichen Urheber. A. R. Fausset 1866.


V. 6. Dieser Vers mit seiner Aufeinanderfolge von Perfekt und Imperfekt (im Hebräischen) wird, wie bei den Alten, so auch heute verschieden übersetzt. Kautzsch z. B. übersetzt wie Luther. Wer meint, der Dichter denke ausschließlich an den Durchgang durchs Rote Meer und den Jordan, der wird dieser Übersetzung folgen. Die meisten Neueren übersetzen: Er wandelt das Meer ins Trockene (in Festland), durch den Strom zieht man zu Fuß; da wollen oder können wir uns seiner freuen! Hengstenberg fasste dies so auf, als sähe der Dichter jene uralten Tatsachen als ihrem Wesen nach durch alle Jahrhunderte hindurchgehend. "Gottes Führung seines Volks ist eine beständige Meeres-und Jordansaustrocknung, und die Freude über seine Großtaten erhält immer neuen Stoff." Wer den Psalm aber als nachexilisch auffasst, der wird beachten, dass der Dichter in V. 6 seine Zeitgenossen aufgefordert hat, Jehovas Taten zu sehen, dass diese also nicht wohl der uralten Vergangenheit angehören können. Man vergleiche auch das vergegenwärtigende Partizip in V. 7. Der Dichter wird vielmehr die Tatsachen der letzten großen Vergangenheit im Sinn haben, wenn ihm auch für die Form der Schilderung allerdings jene großen am Anfang der Geschichte Israels gewirkten Taten maßgebend waren. "Er hebt hier," sagt Keßler, "negativ die Beseitigung der Hindernisse, die der Errettung des Volks entgegenstanden, in V. 8-12 die Errettung selbst hervor. Wieder waren Meer und Strom im Weg, diesmal im uneigentlichen Sinn, darum nicht weniger schwierig, aber wieder vergebens, nach Jes. 11,15.16, vergl. Sach. 10,11. So erklärt sich der Gebrauch von rhfnIfha (der Strom), das nicht vom Jordan, sondern vom Euphrat gebräuchlich ist, so auch die 1. Person: Wir wollen (oder können) uns freuen." - James Millard
  Da wollen wir uns fein freuen. (Wörtl.) Der Prophet setzt (im Hebräischen) das Futurum wohl für die Vergangenheit, es wäre denn, dass er damit andeuten wollte, dass jenen Wundern am Roten Meer und am Jordan noch viel größere folgen würden, von denen jene nur die Vorbilder gewesen seien. Als ein viel größeres Wunder sehen wir es in der Tat an, dass Menschen über das wilde Meer des Lebens fahren und durch den schwellenden Todesjordan gehen und doch sicher und lebendig ans Ufer kommen, in das Land der Verheißung, wo sie sich ewig Gottes erfreuen, den sie dann sehen werden von Angesicht zu Angesicht. Und doch tut Gott dies größere Wunder, so dass viele dies Meer durchziehen, als wäre es festes Land, und trockenen Fußes den Strom überschreiten; mit andern Worten: sie werden los von den irdischen Dingen, dass sie weder an dem Angenehmen hangen noch sich vor dem Übel fürchten, und also erreichen sie sicher das himmlische Jerusalem, allwo wir uns sein, d. i. unsers Gottes, freuen werden, und zwar nicht bloß in Hoffnung, wie hienieden, sondern in ewigem Besitz. Kardinal Robert Bellarmin † 1621.


V. 7. Seine Augen schauen auf die Völker. Dieser Gedanke sollte von vielem Unrecht abhalten. Kann das Gewissen eines Menschen dasjenige leichthin und mit Behagen hinunterschlucken, wovon er weiß, dass Gott es sieht und seine heiligen Augen es verabscheuen? Sieht Gott nicht meine Wege und zählt er nicht alle meine Gänge? sagt Hiob 31,4. Die Erwägung der göttlichen Allwissenheit sollte uns tief in den Staub beugen. Wie niedergeschlagen würde ein Mensch werden, wenn ihm gewiss würde, dass alle Engel im Himmel und alle Menschen auf Erden sein ganzes Leben, alle seine Gedanken und Werke kennten. Aber was ist alle Erkenntnis der Geschöpfe gegenüber dem Urteil des Unendlichen? Wenn wir erwägen, dass er alle unsere Handlungen, ja alle unsere Gedanken, diese ungezählten Millionen, kennt, sodann alle Wohltaten, die er uns zugewandt hat, und alle die Kränkungen, mit denen wir ihm diese vergolten haben, ferner all den Götzendienst, die Gotteslästerungen und die geheime Feindschaft wider ihn, die in jedermanns Herzen sind, alle Ungerechtigkeiten, geheimen Lüste, Unterlassungen von Pflichten, Verletzungen klarer Gebote, alle törichten Einbildungen usw., und alle diese Sünden mit allen ihren Umständen und in ihren geheimsten Wurzeln, - wenn wir das alles erwägen, müsste es nicht unsere Herzen schmelzen, müsste es uns nicht dazu bringen, dass wir in tiefer Zerknirschung und mit heiligem Ernst von ihm Vergebung erflehen? Stephen Charnock † 1680.


V. 9. Der unsere Seele im Leben erhält. Läge unser Leben in unseren Händen, so würde es uns leicht durch die Finger gleiten. Matthew Henry † 1714.
  Und lässt unsere Füße nicht gleiten. Es ist eine große Gnade, wenn man in Zeiten, wo ein Unglück nach dem andern über einen hereinbricht, vor Schritten der Verzweiflung behütet wird, wenn man unter schweren Lasten aufrechterhalten wird, dass man nicht hinsinkt, oder in Verfolgungszeiten davor bewahrt wird, Gott oder seine Wahrheit zu verleugnen. David Dickson † 1662.


V. 10. Denn, Gott, du hast uns versucht. Erst wenn das Korn gedroschen wird, zeigt es sich, wieviel Frucht darin ist, und die Trauben müssen unter die Presse, soll ihr köstlicher Saft gewonnen werden. Die Gnade ist in Gottes Kindern verborgen, wie das wohlriechende Wasser in den Rosenblättern; das Feuer der Anfechtung holt heraus, was in ihnen ist. Und geläutert wie das Silber. Auch die Gottlosen werden versucht (vergl. Off. 3,10), aber sie erweisen sich nicht als Silber, sondern als eitel Schlacken, sind ein verworfenes Silber (Jer. 6,30) oder im besten Fall gleich dem Gold der Alchimisten, das keine Feuerprobe aushält. John Trapp † 1669.
  Und geläutert wie das Silber. Da mir der häufige Gebrauch dieses Bildes die Überzeugung aufdrängte, dass das Verfahren der Prüfung und Läuterung des Silbers ganz besonders lehrreich sein müsse, habe ich mich bemüht, einiges darüber zu sammeln. Der eine so viel angewandte Zug, dass der Schmelzer das Silber so lange im Läuterungsfeuer lasse, bis er in der Schmelzmasse sein eigen Bild sehe, hat die Meisten von uns so gefesselt, dass wir uns gar nicht nach weiteren sinnbildlichen Zügen umgesehen haben; aber suchen wir ein wenig tiefer, so können wir noch viele andere treffende Bilder gewinnen.
  Das Läutern des Silbers erfordert große Aufmerksamkeit des Schmelzers. Das Verfahren bei der Läuterung des Goldes und Silbers ist in der Theorie sehr einfach, aber in der Praxis erfordert es große Erfahrung, wenn es richtig gemacht werden soll, und es gibt keinen Gewerbezweig, der mehr persönliche und ungeteilte Aufmerksamkeit erforderte. Der Erfolg ist dem Einfluss so vieler Zufälligkeiten ausgesetzt, dass kein Schmelzer, der auf seinen guten Ruf hält, die hauptsächlichsten Vorgänge bei dem Verfahren einem andern überlassen wird, es wäre denn, dass dieser ihm an Geübtheit gleichkäme. Bei dem Feststellen des Gehalts nach dem Gewicht sind Abzüge und Ausgleichungen vorzunehmen, die nur dem erfahrenen Probierer bekannt sind. Würde dies, wie es bei einem Neuling leicht der Fall sein könnte, außer Acht gelassen oder nicht richtig ausgeführt, so würde der Befund weit von der Wahrheit abweichen. - Auf ägyptischen Denkmälern sieht man die Schmelzer mit Blasebälgen bei einem kleinen Feuerplatz arbeiten, der mit Schirmen versehen ist, welche die Hitze zusammenhalten und zurückstrahlen lassen. Der Schmelzer sitzt davor und wendet der Arbeit augenscheinlich seine ganze Aufmerksamkeit zu. Man vergl. Mal. 3,3: Er wird sich hinsetzen, wie um Silber zu schmelzen und zu reinigen.
  Das Bewähren des Silbers erfordert ferner einen kunstvollen Ofen. Wir wollen den Leser nicht mit der Beschreibung eines solchen aufhalten; aber derselbe ist offenbar schon an sich ein Kunstwerk. Die Weise, wie Gott unseren Glauben bewährt, ist noch viel köstlicher als die, welche beim Gold und Silber angewandt wird. Er hat uns geläutert, aber nicht wie Silber (Jes. 48,10), denn einem gewöhnlichen Schmelzofen wollte er uns nicht anvertrauen; der Ofen des Elends, worin er uns auserwählt macht, ist viel kunstvoller zugerichtet.
  Zum Läutern des Silbers muss auch die Hitze genau bemessen werden. Die Aufmerksamkeit des Schmelzers muss sich, während das Metall in der Glut ist, vor allem auf die Hitze des Ofens richten, welche weder zu stark noch zu schwach sein darf. Würde die Glut zu heiß, so würden kleine Teile des Silbers mit den Schlacken abgehen; die infolge der Hitze weit geöffneten Poren des Schmelzgefäßes würden überdies zu viel von dem Metall in sich aufnehmen, so dass auch hierdurch ein größerer Verlust entstände. Ein Anzeigen zu großer Hitze ist es, wenn die Dämpfe schnell und gerade zur Decke der Muffel aufsteigen. Fallen die Dämpfe dagegen zu Boden, so ist die Muffel zu kalt, und wird da nicht Abhilfe geschafft, so erfolgt das Abtreiben des Silbers wiederum nur unvollständig, indem das Edelmetall nicht ganz von den unedeln Bestandteilen befreit wird.
  Der Schmelzer wiederholt das Verfahren. Gewöhnlich werden zwei oder drei Prüfungen vorgenommen. In der Schrift ist von siebenfältiger Läuterung des Silbers die Rede; so kommen auch die Gläubigen nur durch vielerlei Läuterungen zur verheißenen Ruhe. C. H. Spurgeon 1872.
  Israel ist wie edles Metall im Ofen des Elends geprüft (Jes. 48,10; Mal. 3,3). Der Vergleichungspunkt ist aber hier nicht das Absondern der Schlacken, sondern die quälende Glut. Prof. Friedrich Baethgen 1904.


V. 11. Die Lenden werden genannt, weil beim Tragen schwerer Lasten, die man niederhockend aufzunehmen hat, die untere Rückgratsgegend vorzugsweise beteiligt ist. Die Lenden oder, wie wir sagen, das Kreuz sind der Stützpunkt des ganzen Oberkörpers und besonders des lasttragenden Rückens. Prof. Fr. Delitzsch † 1890.


V. 12. Du hast Menschen lassen über unser Haupt fahren. Dass Gott solches zulässt, vermindert die Sünde der Bedrücker nicht. Der Mensch ist zur Gemeinschaft geschaffen und sollte mit seinesgleichen in Liebe und Frieden leben. Ein Mensch sollte dem andern helfen, ihm beistehen, ihn aufrecht halten; statt dessen stößt er ihn nieder, reitet über ihn und tritt ihn unter die Füße. Welcher Abfall, nicht nur von den Forderungen der Religion, sondern von der Menschlichkeit! Wer ist des Menschen größter Feind? Der Mensch, antwortet schon Seneka. Die Schlangen speien ihr Gift nicht auf ihresgleichen aus; aber ein Mensch sucht über den andern Unheil zu bringen. Alle wilden Tiere miteinander richten unter den Menschen nicht solche Verheerungen an wie diese selbst. Lasst uns näher zusehen, was von den Bedrückern gesagt ist. 1) Sie reiten. Was brauchen sie sich noch aufs Pferd zu setzen? Kann ihr "Fuß des Übermuts" (Ps. 36,12) uns nicht genugsam untertreten? 2) Über uns. Der Weg, den sie ziehen, ist breit genug, denn er ist des Teufels Heerstraße. Sie könnten den Elenden wohl aus dem Wege gehen, es ist Raum genug da; sie haben wahrlich nicht Not, über uns hinzureiten. Wollen sie ihre Tapferkeit beweisen, so lasst sie doch solche anrennen, die ihnen gewappnet in den Weg treten! Aber wie feig ist das, harmlose und wehrlose Menschen über den Haufen zu rennen! Wir machen ihnen wahrlich den Platz nicht streitig; wir beneiden sie nicht um den Weg des Verderbens, den sie wandeln; eher bemitleiden wir sie. Was brauchen sie über uns zu reiten? 3) Über unsere Köpfe. Tut es ihrem Stolz nicht Genüge, dass sie hoch zu Ross sitzen, und ihrer Bosheit, dass sie über uns hin reiten? Müssen sie auch noch am Blutvergießen so ihre Freude haben, dass sie über unsere Köpfe reiten? Wird ihr Übermut nicht gekühlt, wenn sie uns Arm und Bein brechen oder etliche Rippen eindrücken? Ist’s nicht genug, dass sie uns martern, uns alle Kraft zerbrechen, sich über unsere Einfalt und Wehrlosigkeit lustig machen, uns unser armseliges Hab und Gut rauben? Müssen sie auch noch nach unserm Blut und Leben dürsten? Wozu wird ihre Tollheit sie noch treiben? Thomas Adams 1614.
  Es gab auch bei uns eine Zeit, wo Leute von der Art eines Bonner8 mit ihren Henkersknechten über die Häupter der Heiligen ritten und die Erde mit deren Blut tränkten; aber jeder Tropfen solchen Blutes erzeugte einen neuen Bekenner. Thomas Adams 1614.
  Dieser Vers gleicht dem See Genezareth (Mt. 8,24), der zuerst so vom Sturm bewegt war, dass das Schifflein mit Wellen bedeckt ward; aber Christi Drohwort beschwichtigte das Ungestüm von Wind und Meer, dass eine große Stille ward. Wir sehen hier grausame Nimrode über die Häupter der Unschuldigen reiten wie über braches Land, wir sehen die Auserwählten Gottes mitten in Feuer und Wasser; aber bald legt sich der Sturm, oder vielmehr die Seefahrer landen an sicherer Küste und gehen aus allen Gefahren unversehrt hervor: aber du hast uns herausgeführt in reiche Fülle. So geht das Lied hier aus tiefer Molltonart in jubelnde Freudenklänge über. Erst sehen wir Gottes Volk scheinbar verlassen, dem Übermut der Tyrannen und der Wut der Elemente preisgegeben, hernach aber reichlich getröstet und erquickt. Auf die tiefste Erniedrigung, bis unter die Füße der Tiere, folgt eine herrliche Errettung und Erhöhung. In beidem aber erscheint Gott tätig, das erstere zulassend, das andere wirkend. In dem einen benutzt er Werkzeuge, im andern ist er die allein wirkende Ursache. Am Elend verherrlicht sich die Gnade. Hätten wir keine Trübsal, so lernten wir auch nicht die Köstlichkeit der Errettung kennen. Die Leiden, durch welche das Volk Gottes hindurch musste, werden in sehr starken Ausdrücken geschildert; dennoch ist dem allen an die Stirn geschrieben: Du hast es getan oder zugelassen. Da mögen nun gottlose Menschen es versuchen, ihren Schmutz an Gottes Reinheit abzureiben, und sich für all die Schändlichkeiten, die sie gegen die Heiligen Gottes verüben, mit Berufung auf Gottes Zulassung einen Freibrief ausstellen. Darauf antworten wir jedoch zur Rechtfertigung der Wahrheit, dass Gott zwar allerdings jede Verfolgung, die über seine Kinder hereinbricht, ordnet, aber ohne dass er damit dem Werkzeug, das den Streich ausführt, irgendwelches Recht oder irgendwelche Straflosigkeit einräumte. Gott wirkt wohl in dem gleichen Werke, aber in ganz anderer Weise und mit ganz andern Absichten. Bei der Trübsal, welche über Hiob kam, waren drei Handelnde: Gott, der Satan und die chaldäischen Räuber. Der Teufel wirkt auf Hiobs Leib ein und die Chaldäer rauben seine Güter; doch erkennt Hiob noch einen dritten Handelnden an: Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen. In unserm Text zertreten gottlose Bedrücker die Auserwählten, und es wird gesagt, dass Gott es verursacht oder zugelassen habe; aber er bewirkt die Trübsal zur Läuterung des Volkes Gottes (siehe V. 10), wohingegen sie aus Bosheit handeln. So kann denn weder Gott deswegen angeklagt werden, noch können sie sich entschuldigen. Thomas Adams 1614.
  Du hast Menschen - wörtl.: Elende, Menschen, deren man nur mit Entrüstung gedenken kann und die man am besten im Grabe der Vergessenheit begrübe, wie die ägyptischen und babylonischen Götzendiener, welchen die Israeliten dienen mussten - lassen auf unserm Haupt reiten, d. h. sie uns unterjochen lassen, wie der Reiter das Tier, auf welchem er reitet, mit Zügel, Sporen und Peitsche regiert. Joh. Lorinus † 1634.
  Die vorstehende, von Lorinus, De Wette u. a. gewählte Übersetzung entspricht schwerlich dem Sinn des Psalmdichters. L. Clauß (1831) macht dagegen mit Recht geltend, dass der Reiter ja nicht auf dem Kopf des Pferdes sitze, und sodann, dass das Bild von der Bändigung des Rosses wohl Dämpfung des Mutwillens, Bezähmung der Hartnäckigkeit u. dergl. bezeichnen könnte, aber nicht Gewalttätigkeit und Misshandlung an dem Unschuldigen, was doch hier erfordert werde. - James Millard
  In Feuer und Wasser. Man denke an die mannigfaltigen Trübsale und Prüfungen der Erzväter, der Israeliten und aller derer, die gottselig leben wollen in Christus Jesus. Miles Smith † 1624.
  Das jüdische Gesetz schrieb für die Kriegsbeute eine Reinigung durch Feuer und Wasser vor, sofern die Gegenstände es ertragen konnten, siehe 4. Mose 31,23. So werden auch die Heiligen Gottes beiderlei Reinigung unterworfen. C. H. Spurgeon 1872.


V. 13. Brandopfer. Was uns betrifft, so seien wir versichert, dass das beste Opfer, das wir Gott bringen können, die gehorsame und gläubige Hingabe des Herzens ist. (Vergl. 1. Samuel 15,22.) Gott will von uns nicht tote Tiere, sondern das lebendige Herz. Möge das unser Brandopfer, unser Ganzopfer (denn die Brandopfer wurden ganz dem HERRN im heiligen Feuer hingegeben) sein, dass wir Leib und Seele, unser ganzes Wesen, dem HERRN weihen. (Röm. 12,1 f.) Erst das Herz: Gib mir, mein Sohn, dein Herz (Spr. 23,26). Ist das Herz nicht genug? Nein, auch die Hände müssen wir Gott weihen (Jes. 1,16), die Füße (Spr. 4,27), die Lippen und die Zunge (Ps. 34,14), die Ohren (Off. 2,7), die Augen (Spr. 23,26), kurz alle Kräfte des Leibes und des Geistes (1. Kor. 6,20). Thomas Adams 1614.


V. 14. Hier sehen wir, in welcher Weise Gelübde gewöhnlich abgelegt werden: die Lippen platzen damit heraus unter dem Druck schwerer Trübsal. Aber wie hart kommt manchen hernach das Bezahlen an! John Trapp † 1669.


V. 15. Feiste Schafe oder Lämmer konnte jeder als Brandopfer opfern. Die Widder dagegen waren die Brandopfertiere des Hohenpriesters, der Stammfürsten und des Volks, der jüngere Ziegenbock das Schlachtopfertier der Stammfürsten, 4. Mose 7. Ich will Rinder opfern mit jungen Böcken heißt also soviel wie: zugleich mit den Opfern, die für die Gemeinde und ihre Vertreter dargebracht werden. Der Sänger will durch diese Detaillierung die Feierlichkeit der Opferung veranschaulichen. Prof. Fr. W. Schulz 1888.


V. 16. Man merke, dass die Einladung nur an diejenigen gerichtet wird, die Gott fürchten. Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang. Gott ist es, der die Füße frei macht, dass sie kommen können, und die Ohren öffnet, dass sie hören. Darum ist es nutzlos, die, welche Gott nicht fürchten, zum Kommen und zum Hören einzuladen. Kardinal Robert Bellarmin † 1621.
  Die Gottesfürchtigen sind Gäste, von denen man etwas empfangen kann; kein Wunder, dass ihre Gesellschaft von denen, die selber Gott fürchten, so begehrt wird. Samuel Heskins 1654.
  Ich will erzählen usw., will euch die Geheimnisse meines Herzens und meine Erfahrungen mitteilen. Solch Erzählen kann viel Segen stiften. So ward der spätere Bischof Hugh Latimer († als Märtyrer 1555) dadurch für die evangelische Wahrheit gewonnen, dass Bilney, der wahrnahm, wie jener für Gott eiferte, doch mit Unverstand, zu ihm in sein Studierzimmer kam und ihn um Gottes willen bat, sein Bekenntnis zu hören. "Ich willfahrte ihm," berichtet Latimer, "und, die Wahrheit zu sagen, ich lernte durch das Anhören dieses Bekenntnisses mehr als zuvor in vielen Jahren, so dass ich von der Stunde an begann, am Worte Gottes Geschmack zu finden, und die scholastische Gelehrsamkeit und andere solche Torheiten vergaß." John Trapp † 1669.
  Unserm Arzt zu Ehren lasst uns reden von den jämmerlichen Wunden, die uns einst schmerzten, und von der sanften Hand, die uns half, als es mit uns aufs äußerste gekommen war. Zu Ehren unseres Lotsen wollen wir erzählen von den Klippen und Sandbänken, den mancherlei Gefahren und dem drohenden Verderben, dem allen er uns durch seine weise Führung entgehen ließ. Und dass andere, die jetzt noch im wilden Sturm sind, uns nach solchen Gefahren sicher an Land sehen, kann sie dazu bringen, sich demselben Steuermann anzuvertrauen, der mächtig und willig ist, sie ebenso zu retten, wie er uns gerettet hat. Es gebührt sich, dass wir, gleich den Kriegern nach überstandenem, gefährlichem Feldzug, von den Schlachten erzählen, die wir geschlagen, von der Angst, die wir ausgestanden, den Gefahren, die wir durchgemacht, und den Siegen, die wir errungen haben. So sollen wir unsere Erfahrungen den zweifelnden oder mitten in Anfechtung stehenden und noch nicht durch so große und lange Prüfungen hindurchgegangenen Christen kundmachen. Timothy Rogers † 1729.


V. 17. Und Lobpreis war unter meiner Zunge. (Wörtl.) Es wird von heiligen Gedanken gesagt, sie seien unter der Zunge, wenn wir in Bereitschaft sind sie auszusprechen. Joseph Caryl † 1673.
  Die zehn Aussätzigen riefen alle zum HERRN, und allen ward die Hilfe zuteil; aber nur einer von ihnen hatte Lobpreis unter seiner Zunge. John Morison † 1829.
  Der Sinn ist wohl: Kaum hatte ich zu ihm gerufen, als er mir auch schon, indem er mich errettete, überschwengliche Ursache gab, ihn zu preisen. A. R. Fausset 1866.


V. 18. Warum hindert es die Annahme unserer Gebete, wenn wir Unrechtes vorhaben? 1) Weil wir dann nicht im Geiste beten können; alle Gebete aber, welche bei Gott angenehm sind, sind nichts anderes als das Seufzen seines Geistes in uns (Röm. 8,26). 2) Weil wir dann nicht im Glauben beten können, d. h. auf Gottes Verheißung der Erhörung keine begründete Zuversicht setzen können, da diese nur den Aufrichtigen gegeben ist. Solange daher jemand die Liebe zur Sünde im Busen nährt, versteht er entweder die Verheißungen nicht, betet also unverständig, oder er versteht sie wohl, wendet sie aber fälschlich doch auf sich an, betet also in Anmaßung; in beiden Fällen ist wenig Grund vorhanden, auf Erhörung zu hoffen. 3) Weil wir dann nicht mit Inbrunst beten können, und doch ist die Inbrunst neben der Aufrichtigkeit das, worauf Gott besondern Wert legt, wie so manche Schriftstellen zeigen. Der Eifer aber im Erstreben des Guten richtet sich nach der Liebe, die wir für dasselbe im Herzen haben, und diese ist mit der Liebe zur Sünde unverträglich. Ist nun auf unserer Seite kein eifriges Verlangen, so brauchen wir uns auch nicht zu wundern, wenn Gott unsere Bitten nicht erhört; es ist uns ja selber nicht Ernst damit! Robert South † 1716.
  Wenn auch die Sache selbst, um welche wir bitten, in Gottes Wort begründet ist, der Zweck aber, zu dem wir sie uns erbitten, nicht lauter ist, so ist das ein Riegel, der unser Gebet nicht erhörlich zu Gott dringen lässt. Vergl. Jak. 4,3. Ich gestehe zu, dass der Christ, wenn er in der rechten inneren Verfassung ist, in allem auf Gottes Verherrlichung zielt. Wie aber die Kompassnadel, wenn sie von einem Magnet berührt wird, von der Richtung, an die sie von Natur gebunden ist, abschweift, wiewohl sie keine Ruhe findet, bis sie jene Grundrichtung wieder eingenommen hat, so kann auch eine begnadigte Seele in einer bestimmten Angelegenheit durch Betrug des Satans oder der ihr einwohnenden Verderbnis aus ihrer rechten Richtung kommen. Haltet ihr es nicht auch für möglich, dass ein gläubiger Christ, der an Leib und Seele leidet und daher um Genesung für seinen Leib und um Erquickung für seine Seele bittet, dabei zu selbstsüchtig seine eigene Ruhe und Gemächlichkeit im Auge habe? Ja freilich. Und ein anderer bittet vielleicht, dass Gott ihn für einen hervorragenden Dienst im Reiche Gottes mit Gaben ausrüste und ihm darin beistehe, und begehrt dabei im letzten Grunde doch für sich Ansehen und Beifall; oder er bittet, dass Gott ihm einen Sohn schenke, ist aber dabei in einer über das Maß hinausgehenden Weise von dem Wunsch erfüllt, dass die Ehre seines Hauses dadurch befestigt werde. An sich ist es ja gewiss kein Unrecht, Gesundheit, Ruhe des Gemüts, Einfluss und dergleichen Dinge zu wünschen, solange diese Wünsche in den von Gott gesetzten Schranken bleiben; aber wenn sie zu solcher Höhe anschwellen, dass sie das Begehren, Gott zu verherrlichen, überfluten, ja wenn sie ihm nur gleichkommen, so sind sie ein Gräuel. Darum prüfe dich, lieber Christ, wenn du betest, ob du dabei wirklich Gottes Verherrlichung im Auge hast. William Gurnall † 1679.
  Unrechtes beabsichtigt im Herzen tatsächlich, wer 1) heimlich Sünde tut, sich zwar äußerlich vom Weltwesen fernhält, aber nicht wirklich von Furcht vor dem Herzenskündiger, vor welchem es kein Verbergen gibt (Jer. 23,24), beseelt ist. 2) Wer die Liebe zur Sünde im Herzen pflegt und nährt, wiewohl er durch Umstände, Erziehung und dergleichen von dem tatsächlichen Begehen der Sünden zurückgehalten werden mag. Ich bin überzeugt, die Fälle sind nicht selten, da Leute sich an sündlichen Begierden weiden, wiewohl sie dieselben, sei es aus Mangel an Gelegenheit, sei es aus Furcht vor der Schande bei den Menschen, sei es aus einer gewissen Zurückhaltung, die ihnen ihr Gewissen noch auferlegt, nicht in Taten auszuführen wagen. 3) Wer auf Sünden der Vergangenheit mit einem gewissen Wohlbehagen der Erinnerung oder doch ohne aufrichtige Beugung zurückdenkt. Vielleicht lässt sich unsere wirkliche Herzensgesinnung, sowohl der Sünde als der Pflicht gegenüber, ebensogut an der Stellung erkennen, welche wir hernach zu unserm Tun einnehmen, wie daran, wie wir uns in dem betreffenden Augenblick benahmen. Die Stärke und Plötzlichkeit der Versuchung können auch einen rechtschaffenen Menschen zur Begehung einer Sünde verleiten, und die Trägheit unseres Herzens und die Macht des uns innewohnenden Verderbens kann uns die Pflicht zu einer Last machen und viele Mängel in deren Erfüllung verursachen; aber jeder echte Christ denkt an seine Sünden mit ungeheuchelter Reue und einer tiefen Empfindung seiner Unwürdigkeit vor Gott zurück, wohingegen ihm die Erfüllung der Pflicht, so schwer sie ihm zur Zeit geworden sein mag, beim Rückblick die edelste Freude bereitet. Bei vielen steht es anders; sie können sich ihrer Sünden ohne Herzeleid erinnern und davon ohne Scham reden, ja wohl gar mit einer Beimischung von Ruhmsucht. Hast du sie nie ihre früheren Torheiten mit solchem Wohlbehagen erzählen hören, dass es vielmehr schien, als kosteten sie das Vergnügen noch einmal durch, als dass sie die Sünde bereuten? 4) Wer die Sünden anderer (denken wir dabei nur z. B. ans Afterreden) mit Beifall oder doch ohne Kummer sehen kann. Vergleiche dagegen Ps. 119,136.158; 5) Endlich, wer sich nicht der göttlichen Herzensdurchforschung und Läuterung willig überlässt. John Witherspoon † 1749.


V. 18-20. Zieht David hier nicht einen falschen Schluss? Die zwei Vordersätze sind: a) Wenn ich Unrechtes vorhätte, so würde der Herr nicht hören; b) aber Gott hat gehört. Nun sollte, meine ich, der Schluss, den er daraus zieht, doch lauten: Also habe ich nichts Unrechtes vor in meinem Herzen. Aber stattdessen lautet sein Schluss: Gelobt sei Gott, der mein Gebet und seine Gnade mir nicht entzogen hat. Nein, der Schluss ist wohl überraschend, aber doch richtig. Ich erwartete, David würde die Krone sich selber aufs Haupt setzen, und stattdessen setzt er sie Gott auf. Das ist eine heilige Logik, die will ich lernen, denn sie ist vortrefflicher als die des Aristoteles: dass ich, was immer die Prämissen seien, Gottes Ruhm als Schluss ziehe. Thomas Fuller † 1661.


Homiletische Winke

V. 3. Das Furchtbare (Ehrfurchtgebietende, Grundtext) in Gottes Tun, sowohl in der Natur als in der Geschichte.
V. 4. 1) Wer? Alle Lande, d. h. alle Bewohner der Erde. a) Alle ohne Unterschied, aller Rassen und Nationen; b) alle, jeder einzelne; c) alle miteinander im Einklang. 2) Was? Müssen dich anbeten und dir lobsingen, also a) sich beugen (wörtlich: sich vor dir niederwerfen) und b) sich freuen. 3) Wann? Müssen: zeigt an a) die Zukünftigkeit, b) die Gewissheit. Gott hat es vorausgesagt, und alles zielt darauf hin. George Rogers 1871.
V. 5. 1) Ein Gegenstand für das allgemeine Studium: die Werke Gottes. 2) Ein Gegenstand für das besondere Studium: Gottes Walten über die Menschenkinder. Dies ist besonders wunderbar und geht uns besonders nahe an.
V. 6. Gewaltige Hindernisse, unerwarteterweise überwunden, ein Gegenstand der Freude.
V. 6c. Unser Interesse an den Errettungen, welche das Volk Gottes in vergangenen Zeiten erfahren hat.
V. 7. Gottes Hoheit, Unwandelbarkeit ("in Ewigkeit") und Allwissenheit als die Feinde stolzer Empörer.
V. 9. Unsere Pflicht, Gott für die Errettung und Behütung des natürlichen und des geistlichen Lebens, des unsrigen wie dessen unserer Mitchristen, einzeln und miteinander zu preisen. George Rogers 1871.
  Das Beharren in der Gnade, und zwar a) die Erhaltung des inneren Lebens, b) die Unverletztheit des äußeren Wandels, ein reicher Anlass, Gott zu preisen.
V. 10. Die Läuterung der Gläubigen.
  1) Der Zweck unserer Trübsale: a) uns zu prüfen, b) uns zu läutern. 2) Das zur Veranschaulichung dieses Zwecks hier gebrauchte Bild: läutern wie Silber. 3) Das Ergebnis des Verfahrens.
V. 11.12. Wir sollten Gottes Hand erkennen a) in unseren Anfechtungen (Netz, nach der Übersetzung etlicher), b) unseren leiblichen Trübsalen (Last auf den Lenden), c) unseren Verfolgungen (hast Menschen lassen über unser Haupt fahren), d) unseren Errettungen (ausgeführt ins Weite). George Rogers 1871.
V.12. Feuer und Wasser. Gefahren verschiedenster Art. 1) Sie decken verschiedenerlei Böses auf, 2) prüfen uns nach verschiedenen Seiten, 3) erziehen zu verschiedenen Tugenden, 4) machen uns mancherlei Verheißungen teuer, 5) enthüllen uns die verschiedenen Vollkommenheiten Gottes, 6) reichen uns vielfältige Erkenntnis dar und bereiten uns 7) zu, die mannigfaltigen Freuden des Himmels zu genießen.
V. 13-15. Heilige Entschlüsse eines Erretteten. 1) Wir sehen hier einen Erretteten solche fassen (V. 13), nämlich a) Opfer der Anbetung zu bringen, b) für die erfahrenen Errettungen, c) in Gottes Haus. 2) Wir hören ihn sie äußern (V. 14) a) gegen Gott, b) vor den Menschen. 3) Wir sehen ihn sie ausführen a) durch öffentliche Anerkennung der Gelübde, b) durch herzliche Danksagung, c) durch noch häufigeren Besuch des Hauses Gottes, d) durch erneute Selbsthingabe, e) durch vermehrte Opferwilligkeit. George Rogers 1871.
V. 16. 1) Was hat Gott an der Seele eines jeden Christen getan? 2) Warum wünscht der Christ dies zu erzählen? 3) Warum vor solchen, die Gott fürchten? Weil sie allein a) es verstehen können, b) ihm wirklich glauben werden, c) ihm mit inniger Teilnahme zuhören und mit ihm den göttlichen Wohltäter preisen werden. E. Payson † 1827.
  Wollen wir anderen christliche Unterweisung geben, so soll sie 1) einfach sein (erzählen, kundtun), 2) ernstlich (kommt, hört); sodann müssen wir 3) die Gelegenheiten benutzen (ihr alle), 4) die rechten Zuhörer suchen (die ihr Gott fürchtet), und 5) aus persönlicher Erfahrung reden können (was er an meiner Seele getan hat).
V. 17. 1) Die zwei Hauptstücke der Andacht: Bitten und Danken. 2) Ihr Grad: im Bitten Rufen oder Schreien, im Danken Lobpreisen. 3) Ihre Ordnung: erst bitten, dann preisen. Was wir durchs Bitten erlangen, opfern wir Gott wieder mit Lobpreis.
V. 18-20. Ein Gottesurteil. 1) Der Beter des Psalms erklärt sich bereit, sich einem solchen zu unterwerfen. 2) Dasselbe wird angewandt. 3) Das Ergebnis: Lob der Gnade.
V. 20. Wie Gottes Gnade sich darin erweist, dass er 1) uns Freimut zum Beten gibt, 2) sich zu unserm Flehen neigt und 3) es erhört.

Fußnoten

1. Wörtl. wohl: Macht seinen Lobpreis zu Herrlichkeit, d. h. herrlich.

2. Einige ältere Ausleger wollten ja das Sela als Sursum corda, Die Herzen empor!, deuten. Es ist aber ohne Zweifel ein musikalisches Zeichen. Seine Bedeutung ist ungewiss. Vergl. zu Ps. 3,3.

3. Andere, z.B. Bäthgen u. Keßler, übersetzen den Vers präsentisch wegen des Futurums im letzten Versglied.

4. Eigentl.: ins Leben versetzt, mit dem Sinn: uns das Leben rettet.

5. Keßler übersetzt etwas anders: Du hast Menschen (mit Rossen und Wagen, vergl. Ps. 129,3; Jes. 51,23) an unserm Haupt hinfahren lassen, so dass unser Leben in der größten Gefahr schwebte.

6. $On)E dient häufig zur Bezeichnung der Tyrannen als elender Sterblicher, nichtiger Wichte, z. B. Ps. 9,20 f.; 10,18; 56,2. Andere freilich nehmen es einfach als poetischen Ausdruck für Mensch, ohne Nebenbedeutung.

7. Man kann bei der masoretischen Lesart hyfwfr:lf (in den Überfluss, in reichliche Fülle, wie Ps. 23,5) bleiben, der auch Luther 1524 folgte. Passender aber ist die von den meisten Neueren angenommene Lesart hxfwfr:lf ins Weite, die auch allen alten Übersetzungen, sowie der späteren Übersetzung Luthers (ausgeführt und erquickt, vergl. LXX ei)j a)nayuch/n) zugrunde zu liegen scheint.