Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 69 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Dem Vorspieler, nach Lilien. (Grundtext) So haben wir denn hier abermals einen Psalm vor uns, der die Bezeichnung nach oder auf Lilien trägt. Man vergleiche die Vorbemerkungen zu Ps. 45. In jenem waren es goldene Lilien, an denen wir uns erfreuten, Blumen voll üppiger Pracht, blühend in den herrlichen Gärten, welche die elfenbeinernen Paläste umkränzen; hier aber sehen wir die Lilie unter Dornen, die bescheidene und doch köstliche Waldlilie, blühend im düstern Schatten Gethsemanes. Ein Psalm Davids. Fragt jemand: "Von wem redet der Psalmdichter solches, von ihm selber oder von jemand anders?" so antworten wir: "Von ihm sowohl als von einem andern." Wer dieser andere sei, bedarf nicht langer Untersuchung; es ist der Gekreuzigte allein, der, ohne dass es nur ein bildlicher Ausdruck wäre, sagen kann: "Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken in meinem großen Durst" (V. 22). Seine Fußspuren ziehen sich durch diesen ganzen Klagegesang, und der heilige Geist weist im Neuen Testamente verschiedentlich darauf hin; darum sind wir überzeugt, dass der Menschensohn in diesem Psalm zu finden ist. Doch scheint es die Absicht des Geistes zu sein, während er uns persönliche Vorbilder auf Christus vor Augen führt und damit die Ähnlichkeit aufweist, welche zwischen dem Erstgebornen und den Erben des Heils besteht, auch die Ungleichheit zu zeigen, welche zwischen den vortrefflichsten Nachkommen Adams und dem Sohne Gottes besteht; denn unser Psalm enthält Verse, die wir schlechterdings nicht auf unseren Heiland anwenden dürfen. Es schaudert uns fast, wenn wir Amtsbrüder z. B. bei V. 6 solches wagen sehen. Besonders tritt uns auch die Unähnlichkeit zwischen David und dem großen Davidssohne in den Verwünschungen entgegen, welche der eine, und den Bitten, welche der andere über seine Feinde aussprach. Wir gehen nur mit Zagen an die Auslegung dieses Psalms; fühlen wir doch, dass wir hier mit unserm großen Hohenpriester in das Allerheiligste treten.

Einteilung. Der Psalm scheint uns in zwei Hälften von je 18 Versen zu zerfallen. Jede dieser Hälften kann wieder in drei Abschnitte geteilt werden. In V. 2-5 schüttet der große Dulder seine Klage vor Gott aus; sodann macht er vor Gott geltend, dass sein Eifern um Gott ihm die Leiden eingetragen habe, V. 6-13, und dies ermutigt ihn, um Hilfe und Errettung zu flehen, V. 14-19. In der zweiten Hälfte schildert er V. 20-22 im Einzelnen das kränkende Benehmen seiner Widersacher, ruft V. 23-29 Strafe auf sie herab und kehrt dann zum Gebet zurück, das in einen fröhlichen Ausblick auf Gottes Eingreifen und dessen Folgen übergeht, V. 30-37.


Auslegung

2. Gott, hilf mir;
denn das Wasser gehet mir bis an die Seele.
3. Ich versinke in tiefem Schlamm, da kein Grund ist;
ich bin im tiefen Wasser, und die Flut will mich ersäufen.
4. Ich habe mich müde geschrien, mein Hals ist heiser;
das Gesicht vergehet mir, dass ich so lange muss harren auf meinen Gott.
5. Die mich ohne Ursache hassen, deren ist mehr,
denn ich Haare auf dem Haupt habe.
Die mir unbillig feind sind und mich verderben, sind mächtig.
Ich muss bezahlen, das ich nicht geraubt habe.


2. Gott, hilf mir. "Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen!" (Mt. 27,42) Er opferte Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen zu dem, der ihm von dem Tode konnte aushelfen. So hat David gebetet, und der sein Sohn und Herr war, sandte den gleichen Hilferuf empor. Dies ist der zweite Psalm, der mit der flehentlichen Bitte "Gott, hilf mir" beginnt, und der frühere (Ps. 54) ist gleichsam eine kurze Zusammenfassung dieses ausführlicheren Klagepsalms. Es ist auffallend, dass uns eine solche Leidensschilderung unmittelbar nach einem jubilierenden Auffahrtsliede dargeboten wird; aber das zeigt nur, wie innig die Herrlichkeit und die Leiden unseres hochgelobten Erlösers miteinander verbunden sind. Das Haupt, das jetzt mit göttlicher Glorie gekrönt ist, ist dasselbe, welches einst die Dornenkrone trug; er, zu dem wir rufen: "Hilf uns, Gott," ist der gleiche, der einst selber rief: "Gott, hilf mir." - Denn das Wasser gehet mir bis an die Seele. Tiefer, überwältigender, tödlicher Kummer war bis in sein Innerstes gedrungen. Nicht die Leibesqualen sind es, worüber er zunächst klagt; er redet nicht zuerst von der bitteren Galle, die sein Mund mit Abscheu von sich wies, sondern von dem bitteren Gram, der über sein Herz hereingebrochen war. Der ganze weite Ozean um das Schiff her ist nicht so sehr zu fürchten wie das Wasser, das in den Kielraum eindringt. Äußere Wunden sind leicht zu ertragen gegen Herzenswunden. Unser Heiland erscheint hier vor uns als ein zweiter Jona, rufend: Wasser umgeben mich bis an meine Seele, die Tiefe umringt mich (Jona 2,6). Für uns begab er sich in solche Fluten nach des Vaters Willen; der Sturm warf die Wogen bergeshoch auf, und er sank in die Tiefe, bis seine Seele fast umkam in der Angst und Not. Nun weiß er aber auch, wie es uns in solcher Lage zumute ist, und kann uns helfen, wenn wir gleich Petrus untersinkend rufen: Herr, hilf mir, ich verderbe.

3. Ich versinke in tiefem Schlamm. In Wasser könnte man schwimmen; im Schlamm aber ist es ganz hoffnungslos sich abzuarbeiten: der Schlamm zieht sein Opfer unwiderstehlich hinab. Da kein Grund ist. Alles gab nach unter dem Bemitleidenswerten; er konnte für seinen Fuß keinen Halt finden. Das ist noch schlimmer, als einfach zu ertrinken. Der Erlöser schildert hier, wie das Herzweh ihm zäh wie Schlamm anklebte, dass es durch nichts abzutreiben war. "Und fing an zu trauern und zu zagen" (Mt. 26,37). Die Sünde ist ein schlammiger Pfuhl, und die reine Seele des Erlösers muss Ekel empfunden haben, auch nur so weit mit der Sünde in Berührung zu treten, wie es zu ihrer Sühnung notwendig war. Seine zart empfindende, alles Unreine verabscheuende Natur schien darin versinken zu müssen; die Sünde war ja nicht sein Element, er war nicht wie wir darin geboren, nicht in diesem großen, scheußlichen Morast heimisch. Da ward unser Heiland dem Jeremia ähnlich, von dem berichtet ist, dass seine Feinde ihn in eine Zisterne, darin nicht Wasser, sondern Schlamm gewesen, hinabgelassen hätten und er in den Schlamm hineingesunken sei (Jer. 38,6). Mögen unsere Herzen von Zerknirschung und Dank bewegt werden, da wir in diesem Bilde die tiefe Erniedrigung unseres Herrn schauen. Ich bin im tiefen Wasser, und die Flut will mich ersäufen. Seine Leiden werden sogar noch mächtiger: er ist wie jemand, der in Wassertiefen geraten ist und den die reißende Strömung überflutet. Die Not war erst in ihm, dann um ihn, jetzt über ihm. Unser Erlöser war kein sentimentaler Schwächling; seine Schmerzen waren wirkliche Schmerzen, und wiewohl er sie heldenmütig ertrug, waren sie doch auch ihm entsetzlich. Seine Leiden waren an Maß ohnegleichen. Die Wasser der Flut, welche ihn überströmten, waren solcherart, dass sie in seine Seele eindrangen, und der Schlamm, in den er versank, war Schlamm des Höllenabgrunds. Uns ist die Verheißung gegeben, dass die Ströme uns nicht gar überfluten sollen (Jes. 43,2, wo dasselbe Zeitwort gebraucht ist wie hier); ihm aber war kein solches Trostwort gewährt. Für dich, meine Seele, erlitt der Gottessohn dies alles! Viele Wasser konnten seine Liebe nicht auslöschen und Ströme sie nicht ersäufen (Hohelied 8,7), und um deswillen genießest du die Frucht der Bundeszusage: Wie ich geschworen habe, dass die Wasser Noahs sollten nicht mehr über den Erdboden gehen, also habe ich geschworen, dass ich nicht über dich zürnen noch dich schelten will (Jes. 54,9). Er staute den Sturzbach des Zornes des Allmächtigen, damit wir auf ewig in Jehovas Liebe ausruhen könnten.

4. Ich habe mich müde geschrien. Nicht des Rufens, sondern vom Rufen ist er müde, aufs äußerste erschöpft. Er hatte gebetet, bis er dicke Tropfen Blutes schwitzte; wie konnte es anders sein, als dass leibliche Mattigkeit über ihn kam? Mein Hals ist heiser, wörtlich: ausgedörrt. Das lange, bange Flehen in stärkster Inbrunst hatte seine Kehle ausgedörrt und entzündet, dass sie brannte wie von Feuer. Wenige, sehr wenige Jünger ahmen ihrem Meister im Gebet bis zu diesem Grad nach. Es ist leider eher wahrscheinlich, dass wir uns mit unnützem Schwätzen gegen Menschen heiser reden als mit Beten und Flehen zu Gott. Und doch haben wir in unserer sündigen Natur das Beten so viel nötiger, als er es in seiner vollkommenen Menschheit dem Anschein nach bedurfte. Sein Flehen sollte wahrlich solchen Eindruck auf uns machen, dass wir uns in die Inbrunst hinein schämten. Die Bitten unseres Heilands waren mit Feuer gesalzen, er betete in heißer Todesnot; daher ermattete das Flehen seinen ganzen Leibesorganismus. Das Gesicht vergehet mir, dass ich so lange muss harren auf meinen Gott. Er begehrte in seiner bittersten Not nichts dringender als seinen Gott; ihn haben, wäre ihm alles gewesen. Manche unter uns kennen aus Erfahrung, was Harren bedeutet, und wir wissen auch etwas davon, wie die Augen hinschmachten, wenn das Erhoffte so lange verzieht; aber in alledem trägt Jesus die Palme davon. Niemand verging das Gesicht so wie ihm und um solcher Ursache willen. Keinem Maler wird es je ganz gelingen, diese Augen zu malen. Der beste Pinsel erweist sich als untüchtig in jedem Zuge des so unvergleichlich schönen und so unbeschreiblich zugerichteten Angesichts; ganz besonders aber kommt alle Menschenkunst zu kurz, wenn sie es versucht, jene heiligen Tränenquellen zu malen. Er verstand es, zu beten und zu harren, und er will, dass auch wir beides lernen. Es gibt Zeiten, wo wir beten sollten, bis der Hals uns heiser ist, und harrend ausschauen, bis die Augen uns vergehen. Nur so können wir mit ihm Gemeinschaft seiner Leiden haben. Wie, können wir nicht eine Stunde mit ihm wachen? Schrickt unser Fleisch davor zurück? Grausames Fleisch, dass du so zart bist gegen dich und so unbarmherzig gegen deinen Herrn!

5. Die mich ohne Ursache hassen. Ist es nicht zum Staunen, dass Menschen den Liebenswürdigsten, der je gewesen, hassen können? Mit vollster Wahrheit steht dabei: ohne Ursache; denn einen Grund gab es für diese unsinnige Feindschaft nicht. Er hatte weder Gott gelästert, noch je einem Menschen ein Unrecht getan. Wie einst Samuel das Volk zu antworten aufgefordert hatte, ob er jemandes Ochsen oder Esel genommen oder jemand Gewalt oder Unrecht getan habe, so hätte auch Jesus fragen können. Ja, er hatte unserm Geschlecht nicht nur nichts Böses zugefügt, sondern unzählige und unschätzbare Wohltaten erwiesen. Mit Recht antwortete er den Juden, als sie - nicht zum ersten Mal - Steine aufhoben, dass sie ihn steinigten: Viel guter Werke habe ich euch erzeiget von meinem Vater; um welches Werk unter denselben steiniget ihr mich? (Joh. 10,32) Und doch hatte er von der Krippe bis zum Kreuze Feinde ohne Zahl; mit Herodes fing ihre Reihe an, doch schloss sie nicht mit Judas. Er konnte ohne Übertreibung sagen: Die mich ohne Ursache hassen, deren ist mehr, denn ich Haare auf dem Haupt habe. Bürger und Kriegsleute, Laien und Priester, Gelehrte und Gassensteher, Prinzen und Pöbelvolk, sie alle verbanden sich wider den Gesalbten des HERRN. "Das ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten und sein Erbgut an uns bringen!" war der einmütige Beschluss all der Hüter des jüdischen Weinbergs, während die Heiden außerhalb der Weinbergsmauern sich zu Werkzeugen dieses Mordes hergaben. Die Heerscharen der Erde und der Hölle bildeten, miteinander verbündet, unabsehbare Legionen von erbitterten Widersachern, deren keiner irgendwelchen triftigen Grund hatte, ihn zu hassen. Die mir unbillig feind sind und mich verderben, sind mächtig. Es war schlimm, dass ihrer so viele waren, aber schlimmer noch, dass sie so mächtig waren. Die ganze kirchliche wie die militärische Macht des Landes war gegen ihn in Schlachtordnung aufgestellt. Der Hohe Rat, der Pöbel und die römischen Legionen hatten einen Dreibund gebildet, ihn zu verderben. "Hinweg mit solchem von der Erde; denn es ist nicht billig, dass er leben soll!" war der Ruf der rasenden Feinde. Davids Widersacher waren auf dem Thron, während er sich in Höhlen verbergen musste, und Jesu Feinde waren die Großen der Erde, während er, des die Welt nicht wert war, ein Spott der Leute und Verachtung des Volks ward (Ps. 22,7). Ich muss bezahlen, das ich nicht geraubt habe. Diese wohl sprichwörtliche Redeweise soll offenbar bezeichnen, dass er, obwohl unschuldig, doch als Missetäter behandelt ward: was er nicht verbrochen hatte, sollte er büßen. Wiewohl David an keinerlei Anschlägen wider Saul teilhatte, ward er doch solcher beschuldigt. Von unserm Heiland mag man buchstäblich sagen, er habe, was er nicht geraubt, erstatten müssen; denn er gab der gekränkten Ehre Gottes Genugtuung und ersetzte den Menschen ihr verlorenes Glück, wiewohl beides, die Beleidigung des einen und das Unglück der andern, in keiner Weise sein Werk war. Gemeiniglich ist’s so, dass, wenn die Fürsten sündigen, die Völker dafür büßen müssen; hier aber kehrt sich das Sprichwort um. Die Schafe gehen eigensinnig irre, und ihr Abweichen wird dem Hirten zur Last gelegt.


6. Gott, Du weißt meine Torheit,
und meine Schulden sind dir nicht verborgen.
7. Lass nicht zuschanden werden an mir, die dein harren,
Herr, HERR Zebaoth!
Lass nicht schamrot werden an mir, die dich suchen, Gott Israels!
8. Denn um deinetwillen trage ich Schmach;
mein Angesicht ist voller Schande.
9. Ich bin fremd worden meinen Brüdern
und unbekannt meiner Mutter Kindern.
10. Denn der Eifer um dein Haus hat mich gefressen;
und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.
11. Und ich weine und faste bitterlich;
und man spottet mein dazu.
12. Ich habe einen Sack angezogen;
aber sie treiben Gespött mit mir.
13. Die im Tor sitzen, schwatzen von mir,
und in den Zechen singet man von mir.


6. Gott, Du weißt um meine Torheit. David konnte so sprechen, nicht aber Davids Herr. Wir müssten, um diese Worte auf Jesus anzuwenden, ihren Sinn ganz verkehren. Wie oft aber könnten wir sie in den Mund nehmen, und wenn wir nicht solche Toren wären, gegen unsere eigene Torheit blind zu sein, so würde dies Bekenntnis oft von unseren Lippen kommen. Das Du ist betont: der Psalmdichter bekennt sich, wie Delitzsch sagt, als Sünder, nicht nach dem Maße seiner Kurzsicht, sondern nach dem Maße der göttlichen Allwissenheit. Seinen Feinden zwar hat er keinen Anlass gegeben, ihn also zu hassen; aber vor Gott weiß er sich schuldig, und er wirft sich darum mit diesem Bekenntnis auf das Erbarmen Gottes. Wenn wir erkennen, dass wir töricht gehandelt haben, sollen wir also nicht vom Gebet ablassen, sondern desto brünstiger flehen. Gerade die Toren haben es nötig, mit dem unendlich Weisen zu Rate zu gehen. Und meine Schulden sind dir nicht verborgen. Ich kann sie mit keinem Feigenblatt verhüllen; nur die Bedeckung, welche du selber mir darreichen wirst, kann ihre Blöße bergen. Die Überzeugung, dass Gott schon alles weiß, was wir zu bekennen haben, sollte uns das Gestehen leicht machen. Ein Gebet, das kein Sündenbekenntnis in sich enthält, mag dem Eigendünkel eines Pharisäers gefallen, wird uns aber nie Rechtfertigung herabbringen. Wer seine Sünde nie im Licht der göttlichen Allwissenheit gesehen hat, ist auch ganz unfähig, sich, wie es der Psalmist gleich hernach tut, auf eben diese Allwissenheit zum Beweis seiner Frömmigkeit zu berufen. Wer sprechen kann: "Du weißt um meine Torheit," nur der kann auch hinzufügen: "Aber Du weißt auch, dass ich dich lieb habe."

7. Lass nicht zuschanden werden an mir, die dein harren, Herr, HERR Zebaoth. Ließe Gott ihn im Stich, so würden andere, die den gleichen Weg des Glaubens wandeln, dadurch enttäuscht und entmutigt werden. Die Ungläubigen sind ja schnell genug bei der Hand, nach allem zu haschen, was den einfältigen Glauben lächerlich machen könnte; darum lass du, o Herr, Jehova der Heerscharen, mein Ergehen nicht zum Anlass werden, dass die Feinde lästern. Unser hochgelobter Heiland war stets sehr für die Seinen besorgt und wollte daher auch nicht, dass seine eigene Niedergeschlagenheit ihnen zur Entmutigung diene. Lass nicht schamrot werden an mir, die dich suchen, Gott Israels. Eben hatte er sich an die Helfermacht des Herrn der Heerscharen gewandt, und jetzt beruft er sich auf die Bundestreue des Gottes Israels, dass sie ihm zu Hilfe komme. Wenn dem Feldherrn der Mut ausgeht, wie wird es dem Kriegsvolk gehen? Wenn David flieht, was werden seine Anhänger tun? Wenn der Glaubensheld sein Vertrauen enttäuscht findet, wie werden die im Glauben Schwachen das Vertrauen festhalten? Das Verhalten unseres Heilands während seiner schwersten Kämpfe treibt uns keinen Hauch von Schamröte ins Angesicht. Er weinte, denn er war ein Mensch; aber er haderte nicht mit Gott, denn er war der eine Sündlose. Er rief: "Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir," denn er hatte ein menschliches Gemüt; aber er fügte hinzu: "Doch nicht wie Ich will, sondern wie Du willst," denn seine Menschheit hatte auch nicht eine Spur von dem Gift der Auflehnung wider Gott in sich. In den Tiefen der Trübsal entschlüpfte ihm kein Laut des Murrens, denn es war nichts von Murren in seinem Herzen. Der edelste aller Blutzeugen legte ein gutes Bekenntnis ab. Er ward in der Stunde der Gefahr gestärkt und ging als vollkommener Sieger ohne eine Wunde aus dem Kampf hervor, und auch wir werden in allem weit überwinden, wenn wir unser Vertrauen festbehalten bis ans Ende.

8. Denn um deinetwillen trage ich Schmach. Weil er es unternahm, den Willen seines Vaters zu tun und Gottes Wahrheit zu verkündigen, tobten die Leute wider ihn; weil er sich für den Sohn Gottes erklärte, hassten ihn die Priester. Auch nicht einen wirklichen Fehler konnten sie an ihm finden, sondern sie waren genötigt, eine falsche Anklage auszuhecken, ehe sie das Scheinverfahren wider ihn beginnen konnten. Der eigentliche Grund des ganzen Streites und der Feindschaft, die sie gegen ihn im Herzen trugen, war der, dass Gott mit ihm war und er mit Gott lebte, während die Schriftgelehrten und Pharisäer nur ihre eigne Ehre suchten. Der Unschuldige wird durch Schmähungen stets tief verwundet, und einem so fleckenlos reinen Charakter, wie unser Heiland es war, müssen sie mit zwiefacher Schärfe ins Herz gedrungen sein; aber seht, wie er sich in solcher Pein zu Gott wendet und seinen Trost in der Tatsache findet, dass er dies alles um seines Vaters willen leidet. Der gleiche Trost gehört allen falsch beurteilten und verfolgten Gläubigen zu. (Und) bedeckt Schande mein Angesicht. (Wörtl.) Zum Tode Verurteilten pflegte man das Antlitz zu verhüllen, wenn man sie vom Richtstuhl wegschleppte, wie es z. B. mit Haman geschah (Esther 7,8). In Übereinstimmung mit dieser Sitte bedeckte man auch unseren Erlöser erst mit einer Hülle schändlicher Anschuldigungen und führte ihn dann hinaus, dass er gekreuzigt werde. Auch trieben sie ihr Gespött mit ihm, besudelten sein heiliges Angesicht mit Speichel und bedeckten es mit Wunden, so dass Pilatus mit seinem Rufe Ecce homo die Aufmerksamkeit der Welt auf ihn richtete als auf ein beispielloses Bild des Elends und der Schande. Auch dass er ganz nackt am Kreuz hing, muss das Antlitz des Erlösers mit der Schamröte der Unschuld bedeckt haben; war er doch den gaffenden Blicken der Menge preisgegeben. Teurer Heiland, es war unsere Schmach, die dir zu tragen gegeben ward, und als du für uns zur Sünde gemacht wardst, erlittest du solche Schändung. Dank, ewig Dank sei dir, dass du es erduldet hast; aber wir schulden dir mehr, als unser Herz begreifen kann, dass du dich in deiner Liebe also tief erniedrigt hast!

9. Ich bin fremd worden meinen Brüdern. Die Juden, seine Brüder nach dem Fleische, verwarfen ihn, seine nächsten, leiblichen Brüder ärgerten sich an ihm, und die Jünger, seine geistlichen Brüder, verließen ihn und flohen; einer von ihnen verkaufte ihn, und ein anderer verleugnete ihn mit einem Eid und schauerlichen Selbstverwünschungen. Ach, mein Heiland, was für Schmerzen müssen dein liebendes Herz durchbohrt haben, als du also von denen verlassen wardst, die dich doch hätten lieben, dich verteidigen, für dich, wenn es sein musste, auch ihr Leben lassen sollen! Und unbekannt meiner Mutter Kindern. Damit sind die allernächsten Verwandten bezeichnet: bei der im Morgenlande üblichen Vielweiberei fühlten die Kinder, welche nur den Vater gemeinsam hatten, das Band der Blutsverwandtschaft nicht so stark; die Kinder der gleichen Mutter dagegen standen fest zueinander. Unser Heiland aber machte die Erfahrung, dass auch seine Nächsten, mit ihm durch die zartesten Bande Verknüpften, sich zu ihm zu bekennen scheuten. Wie Davids Brüder diesen neideten und von ihm übel redeten, so waren auch die nächsten Blutsverwandten Jesu auf ihn eifersüchtig, und auch die von ihm wie Brüder geliebten Jünger scheuten sich, als solche erkannt zu werden, die irgendwie mit ihm in Verbindung gestanden. Das waren scharfe Pfeile des Allmächtigen, die sich da in die Seele Jesu, des treuesten aller Freunde, senkten. Ach, dass keiner von uns je also handle, als ob Jesus für ihn ein Fremder wäre! Lasst uns vielmehr entschlossen sein, uns mit ihm kreuzigen zu lassen, und möge die Gnade den Entschluss zur Tatsache werden lassen.

10. Denn der Eifer um dein Haus hat mich gefressen. Sein brennender Eifer zehrte an seiner Kraft und verzehrte sie wie das Licht die Kerze. Sein Herz schnitt wie ein scharfes Schwert durch die Scheide. Vieler Menschen Lebenskraft wird durch ihre Unzucht zerstört, andere werden vom Geiz, wieder andere vom Hochmut aufgerieben; die eine große Leidenschaft unseres Heilands aber war die Verherrlichung seines Vaters. Es herrschte in ihm ein brennender Eifer um Gottes heiligen Namen und eine verzehrende Liebe zu dem Hause Gottes, der Gemeinde des HERRN. Der Eifer für Gott wird von den Weltleuten so wenig verstanden, dass er denen, die von ihm erfüllt sind, stets Widerstand und Anfeindung einträgt; sie können darauf gefasst sein, dass man ihnen eigennützige Beweggründe unterschiebt, sie der Heuchelei bezichtigt oder als Narren verschreit. Verzehrt uns der Eifer, so suchen die widergöttlichen Menschen uns auch zu verzehren, und das war im höchsten Maße bei unserm Erlöser der Fall, weil sein heiliger Eifer vom höchsten Maße war. Er erglühte von mehr denn seraphischem Feuer und verzehrte sich durch seine Inbrunst. Und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen. Die, welche Gott gewohnheitsmäßig lästern, fluchen nun statt Gott mir. Ich bin die Zielscheibe geworden für Pfeile, die dem Höchsten selber gelten. So war der große Mittler in dieser Hinsicht beides, der Stellvertreter Gottes wie der Menschen; er trug sowohl die Schmähungen, die gegen jenen geschleudert wurden, als auch die Sünden, die diese damit begingen.

11. Ich weinte, unter Fasten (weinte) meine Seele, und es wurden mir Schmähungen daraus. (Grundtext) Sie waren nun einmal entschlossen, ihn zu hassen; so musste denn alles, was er tat, einen neuen Grund abgeben, ihn zu lästern. Aß und trank er wie andere Menschen, so war er ein Fresser und Weinsäufer; weinte und fastete er bitterlich, so hatte er einen Teufel und war von Verstand. Nichts ist so unbarmherzig wie die Voreingenommenheit; die schwarze Brille, durch welche sie sieht, färbt die Sonne düster, und ihre Zunge schmäht über alles ohne Unterschied. Unser Heiland hat gewiss viel im Verborgenen über unsere Sünden geweint, und ohne Zweifel hatte er oft Zeiten, wo er um unsertwillen fastete und seine Seele demütigte. Einsame Bergeshöhen und abgeschiedene Wüsten waren wiederholt Zeugen schwerer Seelenkämpfe, deren bloßer Anblick uns, wenn diese Zeugen sie uns aufdecken könnten, außer Fassung bringen würde.

12. Ich machte ein härenes Gewand zu meinem Kleid. (Wörtl.) Das tat David buchstäblich in gewissen Fällen; dasselbe von Jesus anzunehmen, haben wir keinen Grund. Im geistlichen Sinn aber war er, der Schmerzensmann, stets mit dem Trauergewand bekleidet. Und ward ihnen zum Spott (wörtl.: zum Sprichwort). Man machte ihn lächerlich wegen des Kummers, der seinem ganzen Wesen aufgeprägt war, und zog ihn wegen seiner Seelenleiden auf. Er ward zum Sprichwort und Spottlied. Was ihm wenigstens hätte Mitleid gewinnen sollen, brachte ihm nur neuen, noch allgemeineren und beißenderen Spott. Den Namen eines Dulders in ein spottendes Sprichwort zu verweben, ist der höchste Grad der Bosheit, und jemand verhöhnen ob der Tränen, die er um andere weint, und ob des Fastens, mit dem er seine Seelenkämpfe vor Gott durchringt, ist nicht allein grausam, sondern eine Schändung des Heiligen.

13. Die im Tor sitzen, schwatzen von mir. Die gewohnheitsmäßigen Tagediebe, welche am Stadttor zu eitlem Gewäsch zusammenkommen, hecheln mich durch, die Handelsleute, die sich dort einfinden, um Geschäfte abzuschließen, vergessen ihren Handel und afterreden über mich, und sogar die Bettler, die am Tor sitzen, um Almosen zu empfangen, tragen freigebig ihr Teil zu den Schmähungen und kränkenden Reden bei. Und das Saitenspiel der Würzweinzecher (singt von mir). (Wörtl.) Die Gottlosen wissen keinen lustigeren Spaß, als wenn sie die Frommen durchziehen und das Heilige bewitzeln können. Die Verleumdungen prickeln ihren Gaumen und geben dem Wein im vollen Kruge erst die rechte Würze. Das ganze Wesen des Mannes von Nazareth war so hoch erhaben über alle Begriffe derer, welche Helden im Weinsaufen waren, sein Leben war dem ihren so entgegengesetzt, all sein Tun dem Gedankenkreise, worin sie lebten, so fremd, dass es nicht zum Verwundern ist, wenn es ihnen lächerlich vorkam und daher wohl geeignet schien, sie, in lustigen Versen besungen, beim Wein zu belustigen. Die Heiligen Gottes sind stets ein besonders beliebter Gegenstand der Satire gewesen. Butlers Hudibras (ein berühmtes satirisches Gedicht aus dem 17. Jahrhundert) verdankte seine Popularität mehr seinem gottlosen Spott als irgendwelcher wirklichen Tüchtigkeit. Bis auf den heutigen Tag sind die Betbrüder ein Spott der Zechbrüder und sind die Stammtische in den Wirtshäusern Sammelpunkte der Spötter. Welch ein Wunder der Herablassung ist es doch, dass der, vor welchem sich die Engel neigen, sich also tief erniedrigte, dass er das Spottlied der Zecher ward! Und welch entsetzliche Sünde, dass ihn, den die Seraphim mit verhülltem Antlitz anbeten, die verkommensten Menschen zum Sprichwort machten!


14. Ich aber bete, HERR, zu dir zur angenehmen Zeit;
Gott, durch deine große Güte
erhöre mich mit deiner treuen Hilfe.
15. Errette mich aus dem Kot, dass ich nicht versinke;
dass ich errettet werde von meinen Hassern und aus dem tiefen Wasser;
16. dass mich die Wasserflut nicht ersäufe
und die Tiefe nicht verschlinge
und das Loch der Grube nicht über mir zusammen gehe.
17. Erhöre mich, HERR, denn deine Güte ist tröstlich;
wende dich zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit
18. und verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knechte,
denn mir ist angst; erhöre mich eilend.
19. Mache dich zu meiner Seele und erlöse sie;
erlöse mich um meiner Feinde willen.


14. Ich aber bete, HERR, zu dir. Was tat er in solcher eben beschriebenen Lage? Er wandte sich betend zu Jehova, wie das ja allen Gottseligen in der Trübsal das einzig Natürliche ist. Wohin anders sollte ein Kind fliehen als zum Vater? Er antwortete den Spöttern nicht; ihnen gegenüber tat er seinen Mund nicht auf, wie ein Schaf, das verstummet vor seinem Scherer. Wohl aber öffnete er seine Lippen gegen den HERRN, seinen Gott; er wusste, dass der es alles hört und ihn erretten wird. Beten ist nie unzeitgemäß; es tut uns guten Dienst an jedem bösen Tag. Zur angenehmen Zeit. Die Gegenwart war für den Psalmisten eine Zeit der Verwerfung seitens der Menschen, aber der gnädigen Aufnahme bei Gott. Auf Erden herrschte die Sünde, aber im Himmel die Gnade. Es gibt für jeden von uns eine angenehme Zeit, d. i. eine Zeit, da unser Gebet erhörlich zum Himmel steigen kann, und wehe uns, wenn wir solche Gelegenheiten unbenutzt vorüberstreichen lassen. Gottes Zeit muss unsere Zeit sein; sonst werden wir, wenn die angenehme Zeit zu Ende ist, umsonst Raum zur Buße suchen. Der Heiland brachte seine Gebete stets zur rechten Zeit bei Gott an und fand stets gnädige Aufnahme für sie. Gott, durch deine große Güte erhöre mich. Selbst der eine, der von keiner Sünde wusste, rief Gott bei seiner großen Güte an; wieviel mehr sollten wir so beten! Im Elend ist uns keine Eigenschaft Gottes so köstlich wie seine Gnade, und wenn die Leiden groß werden, schätzen wir umso mehr die Größe dieser seiner Gnade. Wenn der Feinde mehr sind denn Haare auf unserm Haupt, sind sie doch noch immer zu zählen; aber Gottes Gnade ist unermesslich, und mögen wir es nie vergessen, dass jedes Atom dieser unermesslichen Fülle in der Hand des Glaubens ein mächtiges Argument beim Beten ist. Mit deiner treuen Hilfe. Jehovas Treue ist ein weiterer fester Grund, auf den wir uns bei unserm Flehen stützen können. Seine Hilfe, sein gnadenvolles Heil, ist keine Einbildung, kein Schein, kein veränderlich Ding; darum dringt der Beter darauf, Gott möge seine Hilfe offenbaren und es alle Menschen sehen lassen, wie treu er zu seinen Zusagen steht. Unser Erlöser lehrt uns hier die hohe Kunst, im Gebet mit Gott zu ringen und unsere Anliegen vor ihm mit heiligen Gründen zu belegen, und er zeigt uns durch sein Vorgehen auch, dass Gottes Wesen selbst ein wohlbestelltes Zeughaus voll mächtiger Waffen ist, die uns beim Flehen die besten Dienste leisten können.

15. Errette mich aus dem Kot (oder Schlamm), dass ich nicht versinke. Er wandelt seine Klagen in Bitten um; er braucht fast genau die gleichen Worte. (Vergl. V. 15 f. mit V. 2 f.) Wir tun wohl daran, wenn wir klagen, nichts zu sagen oder auch nur als Gedanken und Gefühle im Innern aufsteigen zu lassen, was wir vor dem HERRN im Gebet auszusprechen uns scheuen würden. Es ist uns so gut gestattet, um Erlösung aus der Trübsal zu bitten, wie um Bewahrung in derselben; beide Bitten sind hier ineinander geflochten. Wie seltsam klingt es uns, solche Sprache aus dem Munde des Herrn der Herrlichkeit zu hören! Dass ich errettet werde von meinen Hassern und aus dem tiefen Wasser. Er fleht um Befreiung sowohl von seinen Widersachern als von den Leiden, welche diese ihm bereitet haben. Gott kann uns allewege helfen, und wir dürfen ihm daher gar mannigfaltige Bitten vorlegen, ohne zu fürchten, dass wir damit das Maß unserer Erlaubnis zu bitten, oder seines Vermögens, uns zu erhören, überschreiten.

16. Dass mich die Wasserflut nicht ersäufe. Er fährt fort, die Ausdrücke seiner Klage, in Bitten umgewandelt, zu wiederholen. Er ist willig, alles Leiden zu erdulden; aber er erbittet sich inbrünstig Gnade, dass dasselbe nicht über ihn den Sieg davontrage. Er ward auch erhört. Und die Tiefe nicht verschlinge. Wie Jona aus der Meerestiefe wieder heraufkam, so lass auch mich aus dem Abgrund des Wehs wieder heraufsteigen. Auch darin ward unser Erlöser erhört, und uns soll dasselbe geschehen. Der Tod selbst muss uns von sich geben,. wie der Fisch den Jona ans Land spie. Und das Loch der Grube nicht über mir zusammengehe, wörtl.: der Brunnen seinen Mund nicht über mir schließe. Man brauchte ja vielfach Zisternen als Gefängnisse, wie wir z. B. aus Josephs und Jeremias Geschichte ersehen. Wurde nun ein großer Stein über die Öffnung eines solchen Brunnens gewälzt - wie man es ja sonst, wenn sie als Wasserbehälter dienten, auch tat - so war der Gefangene ringsum eingeschlossen und dem Vergessen anheimgegeben, gleich den Ärmsten, die in den Oubliettes (Oubliette von frz. oublier, »vergessen«: die wahrscheinlich grauenhafteste Form von Gefängniszellen) der Bastille verschwanden. Das ist ein treffendes Bild der Lage eines Mannes, der im Kummer lebendig begraben und seinem Herzensjammer hilflos preisgegeben ist. Aber auch dagegen schreit der Beter zu Gott und wird erhört. Wohl musste er sich taufen lassen mit der Leidenstaufe, musste ganz eintauchen in die schreckliche Flut; aber er blieb nicht darin, ward von der Tiefe nicht verschlungen. Wohl musste er in die Grabesgrube; aber ehe sie ihren Mund über ihm schließen konnte, sprengte er das Gefängnis. Man sagt, die Wahrheit liege in einem Brunnen; aber es ist sicher ein offener Brunnen, denn sie wandelt in Macht umher. So war auch unser großer Stellvertreter, selbst als er sich tief in der Grube des Wehs und Todes befand, doch der Sieger über Tod und Hölle. Wie angemessen ist es für manche von uns, diese Bitte zu der eigenen zu machen! Wir würden es verdienen, wie von einer Flut hinweggeschwemmt zu werden, verdienen, in unseren Sünden ersäuft und in der Hölle verschlossen zu werden; so wollen wir uns denn auf das Verdienst unseres Mittlers berufen, damit uns solches nicht widerfahre.

17. Erhöre mich, HERR. Weise den Sohn nicht ab, da er zu dir fleht. An den Bundesgott, den ewig unwandelbaren Jehova, wendet er sich mit seinen inbrünstigen Bitten. Denn deine Güte (Gnade) ist tröstlich, wörtl.: gut oder heilsam. Nach deiner unendlichen Liebe hab’ Mitleid mit deinem Betrübten. Es gibt der Seele stets einen starken Halt, wenn sie die Vortrefflichkeit der göttlichen Gnade erwägt. Das ist wohl geeignet, dem Verschmachtenden neue Kraft einzuhauchen und ein Herz, das sich ganz verlassen fühlt, dazu zu bringen, dass es vor Freuden singt. Wende dich zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit. Wenn der HERR dem Trauernden sein mitleidiges Auge und seine starke Hand nur zuwendet, so wird sein Geist wieder lebendig. Nichts ist einem Kinde Gottes so bitter, als wenn es die trostreiche Nähe und den liebreichen Blick seines Gottes entbehren muss. Bei unserem Erlöser steigerte sich dieses Weh bis zu dem schmerzvollen Ruf: Eli, Eli, lama asabthani? Man beachte, wie er hier abermals, wie in der ersten Hälfte des Verses, in der Güte Gottes Trost sucht und sich, wie vorher auf die Vortrefflichkeit, so nun auf den Reichtum derselben beruft.

18. Und verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knechte. Ein guter Knecht wünscht, dass der Blick seines Meisters freundlich auf ihm ruhe; dieser servus servorum (Knecht aller Knechte), der zugleich der rex regum (der König aller Könige) war, konnte es nicht ertragen, die Nähe seines Gottes zu missen. Je größer seine Liebe zu dem Vater war, desto schmerzlicher musste er es empfinden, wenn derselbe sein Angesicht vor ihm verbarg. Denn mir ist angst. Rings um mich her und in mir ist lauter Drangsal, Angst und Not; so lass doch wenigstens vom Himmel her mir deine Sonne milde leuchten. Wenn ein Mensch je die trostreiche Nähe Gottes braucht, dann doch wahrlich in tiefer Not des Leibes und der Seele; so ist denn eben die Not, in der wir uns befinden, ein Grund, den wir bei dem Vater der Barmherzigkeit geltend machen dürfen, um dessentwillen er uns nicht im Stich lassen solle. Wir dürfen bitten, dass unsere Flucht nicht geschehe im Winter (Mt. 24,20) und dass Gott zu all unseren andern Trübsalen nicht auch noch die der geistlichen Verlassenheit füge. Erhöre mich eilend. Die Sache war dringend, Zögern war gefährlich, musste vielmehr sicher den Tod zur Folge haben. Unser Heiland war die vollendete Geduld; dennoch flehte er dringend um eilende Hilfe. Damit hat er uns die Freiheit gegeben, das gleiche zu tun, solange wir hinzufügen: Doch nicht wie ich will, sondern wie Du willst.

19. Mache dich zu meiner Seele. Dass Gott sich seiner Seele nahe, ist alles, was der Schmerzensmann ersehnt; lässt Gott ihm nur einen freundlichen Blick zukommen, so muss alles Wüten der Hölle verstummen. Und erlöse sie. Es wird mir eine Erlösung sein, wenn du erscheinst, um mich zu trösten. Die Bitte ist von tief geistlichem Gehalt und trefflich geeignet für eine verlassene Seele. Erneute Gemeinschaft mit Gott ist ja auch für uns die Erlösung aus allem Elend. Erlöse (d. i. befreie) mich um meiner Feinde willen, damit sie nicht in ihrem Übermut deinen Namen lästern und prahlen, du seiest nicht imstande gewesen, die herauszureißen, welche auf dich trauten. Dass Jesus sich herablässt, solche Bitten in den Mund zu nehmen, damit erfüllt er das Begehren seiner Jünger: "Herr, lehre uns beten!"


20. Du weißt meine Schmach, Schande und Scham;
meine Widersacher sind alle vor dir.
21. Die Schmach bricht mir mein Herz und kränket mich.
Ich warte, ob’s jemand jammere, aber da ist niemand;
und auf Tröster, aber ich finde keine.
22. Und sie geben mir Galle zu essen
und Essig zu trinken in meinem großen Durst.

In diesen Versen finden wir wieder eine traurige Aufzählung von Leiden, mit genauerem Hinweis auf die Personen, welche dieselben verursachten.

20. Du weißt meine Schmach, Schande und Scham. Dass man mich so höhnt und beschimpft, ist nichts Neues und kein Geheimnis: man hat es ja schon lang getan, und du, Gott, hast es gesehen; darin aber, dass du siehst, wie der Unschuldige leidet, liegt ja schon die Gewähr, dass die Hilfe kommt. Drei Worte werden gehäuft um auszudrücken, wie beißend der Erlöser die Verachtung empfand, mit der er überhäuft wurde, und wie gewiss es ihm war, dass jede Art Bosheit, die ihm widerfuhr, von dem HERRN beachtet werde. Meine Widersacher sind alle vor dir; sie entgehen deinem Auge nicht. Die ganze schamlose Rotte steht vor deinen Blicken da, und alle ihre Bosheit und Nichtswürdigkeit ist dir nicht verborgen: Judas und sein Verrat, Herodes und seine List, Kaiphas und sein blutiger Rat, Pilatus und seine Wankelmütigkeit, die Pharisäer und die Sadduzäer, die Schriftgelehrten und die Hohenpriester, das Volk und die Obersten, sie alle siehst du und wirst du zur Verantwortung ziehen.

21. Die Schmach bricht mir mein Herz. Kein Hammer zerschlägt wie dieser. Unser Heiland starb an einem gebrochenen Herzen, und die Schmach, die über ihn ausgeschüttet ward, hatte dies vollbracht. Verleumdungen verursachen stechende Seelenschmerzen, und bei der so zart empfindenden Natur des makellosen Menschensohnes genügten ihre Stiche, sein Herz zu durchbohren, bis es brach. Und kränket mich. Die Kränkungen und Lästerungen beugten ihn in den Staub; sein Herz litt unsägliches Weh. Wie furchtbar das Gemüt des Heilands unter all dem, was er erdulden musste, litt, zeigen unter anderm die Vorgänge in Gethsemane. Sein Seelenkampf war unermesslich schwer; er war des Jammers voll wie ein bis an den Rand gefülltes Gefäß. Der Sinn des Grundtextes ist wohl noch stärker, als es unsere deutsche Bibel zum Ausdruck bringt. Man übersetze: und bin todkrank, oder mit Hieronymus und andern Alten: Die Schmach bricht mir mein Herz, so dass ich verzweifle. - Ich warte, ob’s jemand jammere, aber da ist niemand. Nicht einer, der ihm ein liebevolles Wort sagt, ja nicht einmal jemand, der ihn einer mitleidigen Miene oder einer Träne wert hält. (Der Grundtext redet vom Bezeugen des Beileids durch mitleidiges Kopfnicken.) Unter Tausenden von Feinden findet sich nicht einer, der durch den Anblick seines Elends gerührt würde, nicht einer, dessen Herz fähig wäre, menschlich für ihn zu fühlen. Ja, verlassen ist er in seiner größten Not auch von denen, die seine milde Hand früher gespeist und geheilt hatte. Und auf Tröster, aber ich finde keine. Selbst diejenigen, welche seine treue Liebe im höchsten Grad erfahren hatten, suchten nur sich selbst in Sicherheit zu bringen und ließen ihren Meister allein. Wer an Herzweh leidet, bedarf Trost, und wer verfolgt wird, hat Anspruch auf Mitleid; aber unser Bürge fand keins von beiden in jener düstern Nacht, da für die Mächte der Finsternis die gelegene Zeit gekommen war. Bei seinem liebevollen Herzen musste es der Heiland tief, tief empfinden, dass er von seinen vertrautesten Freunden allein gelassen ward, und wie konnte es anders sein, als dass er sich nach aufrichtigem, treuem Mitgefühl sehnte? Aber er fand sie schlafend, - und hernach, als die Feinde ihn griffen, war keiner von ihnen mehr zu sehen!

22. Und sie geben mir Galle zu essen. Das war die einzige Erfrischung, welche die Grausamkeit ihm bereitete. Andre ergötzen sich am Genuss der Speise; für ihn aber erfand man ein Mittel, selbst seinen Gaumen mitleiden zu lassen. Und Essig zu trinken in meinem großen Durst. Nicht einmal eine Henkersmahlzeit gönnte man ihm; für ihn war der schlechteste Wein noch viel zu gut. Es war ein trauriges Gastmahl, das die Erde ihrem König und Befreier bot -: bittere Galle und sauren Essig! Wie oft aber haben unsere Sünden den Wermutbecher für unseren Erlöser gefüllt! Lasst uns, während wir die Juden tadeln, nicht uns selbst entschuldigen.


23. Ihr Tisch werde vor ihnen zum Strick,
zur Vergeltung und zu einer Falle.
24. Ihre Augen müssen finster werden, dass sie nicht sehen,
und ihre Lenden lass immer wanken.
25. Gieß deine Ungnade auf sie,
und dein grimmiger Zorn ergreife sie.
26. Ihre Wohnung müsse wüste werden,
und sei niemand, der in ihren Hütten wohne.
27. Denn sie verfolgen, den Du geschlagen hast,
und rühmen, dass du die Deinen übel schlagest.
28. Lass sie in eine Sünde über die andere fallen,
dass sie nicht kommen zu deiner Gerechtigkeit.
29. Tilge sie aus dem Buch der Lebendigen,
dass sie mit den Gerechten nicht angeschrieben werden.

Von hier an trennen sich David und unser Heiland für eine Weile. Der strenge Geist des Gesetzes stößt Verwünschungen aus, während das sanfte Jesusherz für seine Mörder Bitten aushaucht. Doch dürfen wir die Verse auch als Voraussagungen auffassen, und in diesem Sinn stehen sie gewiss zu unserm Heiland in Beziehung, wie denn auch etliche derselben in der Weise vom Apostel Paulus Röm. 11,9 f., sowie von Christus selbst Mt. 23,38 angeführt werden.

23. Ihr Tisch werde vor ihnen zum Strick. Da, an ihrer wohl gedeckten Tafel, sannen sie ihre unheilvollen Ränke aus; ebenda sollen sie selber vom Verderben umgarnt werden. Von allen ihren Festgerichten hatten sie für ihr unschuldiges Opfer nichts als einen Wermutbecher übrig, und nun sollen ihre Gastmahle ihnen zum Untergang dienen. Die Mittel, welche uns Gottes Güte täglich zur Stillung der Leibesnotdurft darreicht, können uns leicht zu Versuchungen zur Sünde werden. Wie die Vögel und das Wild durch den Köder, der ihre Esslust reizt, in der Schlinge gefangen werden, so werden auch die Menschen oft durch Speise und Trank ins Verderben verstrickt. Wer die himmlischen Güter der Gnade verschmäht, wird finden, dass die irdischen Genüsse ihm ein Gift werden. Doch man sitzt am Tisch nicht nur zum Speisen, sondern man unterhält sich da auch, schließt Geschäfte ab, hält Rat, treibt allerlei Kurzweil, ja auch fromme Bräuche haben da eine Stätte; und denjenigen, welche im Grunde ihres Herzens Feind des Herrn Jesu sind, kann ihr Tisch in allen diesen Beziehungen zu einem Strick werden. Den Sicheren1 zu einer Falle. (Grundtext) Das Verderben soll sie unversehens überfallen, wenn sie sagen: Es ist Friede, es hat keine Gefahr (1. Thess. 5,3). Wen Gott verderben will, den macht er zuvor sicher.

24. Ihre Augen müssen finster werden, dass sie nicht sehen. Sie sollen in einer Finsternis wandeln, die man greifen mag (2. Mose 10,21). Sie liebten die Finsternis mehr denn das Licht; so sollen sie denn in der Finsternis bleiben. Blindheit widerfuhr Israel, als es den Herrn der Herrlichkeit getötet hatte und seine Apostel verfolgte; es wurde geblendet von dem Licht, das es nicht annehmen wollte. Augen, die an dem Herrn Jesus keine Schönheit sehen, sondern Zornesblicke auf ihn flammen lassen, mögen wohl trüb und immer trüber werden, bis der geistliche Tod zum ewigen führt. Und ihre Lenden lass immer wanken. Ihr Gewissen wird sie so quälen, dass sie beständig vor Furcht zittern werden. Ihr Rücken soll allezeit gebeugt sein, wie die griechische Bibel den Sinn der Worte frei wiedergibt (vergl. Röm. 11,10); ihre kriechende Gesinnung, ihre schleichende Habsucht sollen sich auch an ihrem Gange zeigen, und ihre Manneskraft soll so gelähmt sein, dass sie keine festen Tritte tun, sondern schlotternd dahinwanken. Sieh, wie der Unglaube verzagt macht, wie er den Menschen erniedrigt und entmannt. Sieh auch, wie die Gerechtigkeit Vergeltung übt: wer nicht sehen will, soll nicht sehen; wer nicht aufrichtig wandeln will, wird krumm gehen müssen.

25. Gieß deine Ungnade auf sie. Welche Strafe könnte für die Feinde Christi zu hart sein, für die, welche den menschgewordenen Gottessohn verwerfen und sich weigern, der Stimme seiner Gnade zu gehorchen? Sie verdienen es, von dem Zorne des Allmächtigen überflutet zu werden, und es wird ihnen widerfahren; denn über alle, die sich wider den Christus Gottes auflehnen, ist der Zorn schon gekommen zum Ende hin (1. Thess. 2,16). Mit Gottes Ungnade lässt sich nicht spaßen; der Zorn eines heiligen, gerechten, allmächtigen und unendlichen Wesens ist mehr als alles andere zu fürchten. Ein Tropfen dieses Grimmes verzehrt schon; wie unsagbar schrecklich muss es erst sein, wenn er sich in vollen Strömen über einen Menschen ergießt! Wer glaubt’s aber, dass du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor solchem deinem Grimm? (Ps. 90,11.) Und dein grimmiger Zorn ergreife sie. Die Glut deines Zornes erreiche sie, verzehre sie, bleibe auf ihnen. Fliehen sie, so lass deinen Zorn sie überholen und packen; dein Grimm lege sie in den Stock in der Zelle der zum Tod Verurteilten, wo sie der Hinrichtung nicht entfliehen können. Solches wird in der Tat allen beharrlich Unbußfertigen widerfahren; das Recht fordert es. Man kann nicht ungestraft Gottes spotten, und seinen Sohn, unseren gnadenreichen Heiland, kann man nicht um nichts verschmähen und verhöhnen. Wenn jemand das Gesetz Moses brach, der musste sterben ohne Barmherzigkeit durch zwei oder drei Zeugen; was wird dann erst die "ärgere Strafe" sein, welche für diejenigen behalten wird, die den Sohn Gottes mit Füßen treten? (Hebr. 10,28 f.).

26. Ihre Wohnung müsse wüste werden, und sei niemand, der in ihren Hütten wohne. Ihre Nachkommenschaft wird ausgerottet werden, und die Stätte ihrer Wohnung soll ein Trümmerhaufe sein. Verwüstung und Verödung des eigenen Hauses ist, wie Delitzsch bemerkt, dem Semiten das furchtbarste aller Missgeschicke. Was im großen Maßstab ganzen Familien und Nationen widerfährt, erfüllt sich oft auch an einzelnen, wie das deutlich bei Judas der Fall war, auf welchen Petrus Apg. 1,20 diese Weissagung anwendet. Jener furchtbare Befehl Nebukadnezars, dass ein jeder, welcher Nation oder Zunge er auch angehöre, der den Gott Sadrachs, Mesachs und Abed-Negos lästere, in Stücke zerhauen und sein Haus schändlich zerstört werden solle (Dan. 3,29), ist nur ein Vorspiel der schrecklichen Stunde, da die Feinde es HERRN zerschmettert und von dem Erdboden ausgerottet werden sollen.

27. Denn sie verfolgen, den Du geschlagen hast. Sie sind grausam, wo sie voll Mitleids sein sollten. Wenn jemand durch Gottes Vorsehung von einem harten Schlage betroffen wird, so sammeln sich die Freunde um ihn und suchen ihm ihre Teilnahme zu beweisen; diese Elenden aber hetzen die Verwundeten und quälen die Kranken. Ihre erbarmungslosen Herzen erfinden neue Qualen für die, welche durch Gottes Heimsuchungen schon so schwer geschlagen sind. Und erzählen von den Schmerzen deiner Durchbohrten. (Grundtext) Sie legen die Wunden mit ihren rauen Zungen bloß. Sie höhnen und schmähen die, deren Herz von Weh über die Sünden ihrer Zeitgenossen durchbohrt ist, und machen sich lustig über die Leiden derer, welchen Gott es beschieden hat, als Blutzeugen ihr Bekenntnis mit der Hingabe ihres Lebens zu besiegeln. Sie reißen Witze über ihre Schmerzen und verspotten ihre Seufzer. So machten sie es ja auch mit dem Heiland; sie wiesen höhnisch auf seine Wunden, gafften ihn in seinen Leiden an und schleuderten schandbare Anklagen gegen ihn. Und auf dieselbe Weise behandelt die Welt auch heute noch die Glieder Christi. Die Ruchlosen kennen kaum ein größeres Vergnügen, als wenn sie sich von Missgeschick und Leiden, die über die Frommen gekommen sind, erzählen können. Wenn es einem gottseligen Menschen nur ein wenig übel geht, wie sind sie dann bei der Hand, um ihn ganz ins Unglück zu stoßen, und welche Freude macht es ihnen, ihn dabei vor allen durchzuhecheln! Gott aber nimmt von dem allen Kenntnis und wird es schrecklich heimsuchen. Er mag es zulassen, dass die Feinde seiner Kinder diesen zur Rute seien, die sie züchtigt; aber er wird die Bosheit rächen. "So spricht der HERR Zebaoth: Ich eifere um Jerusalem und Zion mit großem Eifer und bin sehr zornig über die stolzen Heiden; denn Ich war nur ein wenig zornig, sie aber halfen zum Verderben." (Sach. 1,14 f.)

28. Lass sie in eine Sünde über die andre fallen, wörtl.: Füge Schuld zu ihrer Schuld hinzu, dass auch Gericht zu Gericht gefügt werde. Das ist die schwerste von allen diesen Verwünschungen. Es ist ganz gerecht, wenn Gott Menschen in ihre eigenen Wege dahingibt, dass sie das Maß ihrer Sünden voll machen; aber es ist entsetzlich. Dass sie nicht kommen zu deiner Gerechtigkeit. Weigern sie sich, deine rechtfertigende und heiligende Gnade anzunehmen, und widerstehen sie deinem Evangelium, so müssen sie sich selber davon ausschließen. Wer nicht will, wenn er kann, wird schließlich nicht können, wenn er will. Wer durchaus das Böse haben will, der habe, was er sich erwählt hat. Gottes Barmherzigkeit wird denen, die sie hassen, nicht aufgezwungen. Wohl besiegt die freie Gnade manches zuerst hartnäckig widerstrebende Herz; aber wer sich von der Liebe nicht überwinden lässt, der wird zuletzt sich selber überlassen, dass er Schuld auf Schuld häufe und sein Schicksal mit eigener Hand besiegele.

29. Tilge sie aus dem Buch der Lebendigen. Wiewohl sie sich in ihrer Selbstbetörung unter Gottes Volk anschrieben und andere dazu brachten, sie ebenso anzusehen, werden sie entlarvt werden und ihre Namen aus dem Verzeichnis gelöscht werden. Mit Ehren wurden sie von Menschenhand eingetragen, mit Schanden werden sie von Gottes Hand ausgestrichen und völlig ausgetilgt werden. Der Tod wird alle Erinnerung an sie auslöschen; nicht länger werden sie in Ehren gehalten werden, auch nicht von denen, die ihnen früher huldigten. Judas als der erste, und Pilatus und Herodes und Kaiphas, sie alle wurden zur rechten Zeit aus dem Leben hinweggefegt; ihre Namen existieren nur noch als Übernamen und Fluchworte, aber unter den Ehrwürdigen, die da leben, wiewohl sie gestorben sind, werden sie nicht genannt. Dass sie mit den Gerechten nicht angeschrieben werden. Dieser Satz läuft mit dem vorigen parallel und zeigt, dass der tiefere Sinn der Worte "Tilge sie aus dem Buch der Lebendigen" der ist, es möge offenbar gemacht werden, dass ihr Name nie darinnen angeschrieben war. Die Menschen machen in ihrer Abschrift von Gottes Buch der Lebendigen so viele Fehler, dass sie viele Berichtigungen vornehmen müssen, und zwar sowohl Einfügungen als Ausmerzungen; aber das originale Buch des Lebens, das vor Gottes Augen offenliegt, ist in allem richtig und unveränderlich. Hüte dich, Mensch, wer du auch seist, Christus und die Seinen zu verachten; deine Seele könnte sonst niemals an der Gerechtigkeit Gottes teilhaben, ohne welche die Menschen doch bereits unter dem Verdammungsurteil stehen.


30. Ich aber bin elend, und mir ist wehe.
Gott, deine Hilfe schütze mich!
31. Ich will den Namen Gottes loben mit einem Lied
und will ihn hoch ehren mit Dank.
32. Das wird dem HERRN besser gefallen denn ein Farre,
der Hörner und Klauen hat.
33. Die Elenden sehen’s und freuen sich;
und die Gott suchen, denen wird das Herz leben.
34. Denn der HERR höret die Armen
und verachtet seine Gefangenen nicht.
35. Es lobe ihn Himmel, Erde
und Meer und alles, das sich drinnen reget.
36. Denn Gott wird Zion helfen
und die Städte Judas bauen,
dass man daselbst wohne und sie besitze.
37. Und der Same seiner Knechte wird sie ererben,
und die seinen Namen lieben, werden drinnen bleiben.

Die Verwünschungen, Weissagungen und Klagen sind zu Ende, und wir hören nun ein Gebet von viel milderer Sprache, unterbrochen von Ausbrüchen frohlockenden Dankes und ermutigenden Vorahnungen von kommendem Guten.

30. Ich aber bin elend, und mir ist wehe. Der Dichter unseres Psalms war in schwerer Trübsal; aber sein Glaube stützte sich auf Gott. Niemand war in größerem Elend und mehr von Schmerzen erfüllt als Jesus von Nazareth, und wenn je einer, so musste er aus tiefer Not zu Gott rufen; doch ward er erhöret und zur höchsten Herrlichkeit erhöht. Deine Hilfe, Gott, wird mich erhöhen (wörtl.), mich meinen Feinden hoch entrücken. Wie völlig hat sich dies Glaubenswort an unserm Heiland erfüllt! Er entrann nicht nur selber seinen Feinden, sondern ist auch ein Urheber der ewigen Seligkeit geworden allen, die ihm gehorsam sind, wodurch er fort und fort mehr verherrlicht wird. O ihr Elenden und von göttlicher Traurigkeit Erfüllten, erhebt eure Häupter; denn wie es eurem Herrn erging, so wird es euch ergehen. Heute werdet ihr zertreten wie der Kot auf der Gasse; aber bald werdet ihr hoch einherfahren auf den Höhen der Erde (5. Mose 32,13), und schon jetzt seid ihr ja in das himmlische Wesen versetzt in Christus Jesus (Eph. 2,6).

31. Ich will den Namen Gottes loben mit einem Lied. Er, der einst nach dem Passahmahle den Lobgesang anstimmte (Mt. 26,30), singt jetzt, nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt, noch viel fröhlicher. Er ist in vollerem Sinne noch als David "der liebliche Sänger Israels" (2. Samuel 23,1). Aus seinem Munde erklingen die ewigen Melodien, in welche alle seine Heiligen im oberen Chor miteinstimmen. Und will ihn hoch ehren mit Dank. Wie gewiss war unser Erlöser des schließlichen Sieges, da er zu loben und danken gelobte, während er noch im heißen Leidenstiegel war! Auch unser Glaube sieht den freudevollen Ausgang aller Trübsale voraus und drängt uns dazu, schon jetzt die fröhliche Zukunftsmusik des Dankes zu beginnen, die in immer volleren und herrlicheren Akkorden erklingen wird in die Ewigkeiten der Ewigkeiten. Welch heiterer Sonnenschein lächelt uns in diesem und den folgenden Versen nach den Gerichtsdonnern der vorangegangenen an! Das Wetterdunkel ist dahin, das Licht der ewigen Herrlichkeit leuchtet auf uns nieder. Alle Ehre wird dem dargebracht, zu dem allein auch vorher der Gebetsruf aufstieg: er allein konnte erretten, er allein hat es getan; darum sei auch sein allein der Ruhm.

32. Das wird dem HERRN besser gefallen denn ein Farre (ein Jungstier), der Hörner und Klauen hat. Kein Opfer ist Gott, der selber Geist ist, so angenehm wie ein geistiges. Wohl nahm er in der schattenhaften, vorbildlichen Haushaltung des alten Bundes Farren an; aber an solchen Opfern an sich hatte er kein Wohlgefallen. "Meinest du, dass ich Ochsenfleisch essen wolle oder Bocksblut trinken?" (Ps. 50,13) Fast ist es, als machte der Psalmist die rein äußerlichen Opfer verächtlich, indem er von den Hörnern und Klauen, dem Abfall der Opfertiere2, spricht. Das Opus operatum3, wovon unsere Ritualisten so viel halten, gilt bei Gott gar nichts. Er kümmert sich nicht um Hörner und Klauen, wiewohl diese bei den jüdischen Formenkrämern als gar wesentliche Stücke angesehen und Gegenstand der genauesten kritischen Prüfung gewesen sein mögen, gerade wie unsere modernen Rabbis es ja auch ungemein genau nehmen in Bezug auf das Mischen des Wassers mit dem Abendmahlswein, das Zubereiten der Hostien, den Schnitt der Gewänder und das Beugen der Knie gegen den richtigen Kompassgrad. O ihr Toren und träges Herzens, zu vernehmen, was der HERR gesagt hat! "Opfere Gott Dank," das ist die eine ewige rituelle Vorschrift der göttlichen Agende. - Die Tiefen des Kummers, in welchen er versunken war, dienten dem Beter zu umso reicherer Erfahrung von der Macht und Gnade der göttlichen Hilfe und befähigten ihn dadurch, dem HERRN desto lieblicher zu singen. Solche Musik ist dem unendlichen Jehova stets ein süßer Klang.

33. Die Elenden sehen’s und freuen sich. Dankerfüllte Herzen sind stets auf der Umschau nach solchen, die mit ihnen dem gleichen Herrn dienen wollen, und der Psalmdichter nimmt mit Freuden wahr, dass andere Unterdrückte und Betrübte eben dadurch, dass sie beobachten, was der HERR an seinen Knechten tut, ermutigt werden, einen gleich fröhlichen Ausgang ihrer eigenen Trübsale zu erwarten. Vor allem sind es die Erfahrungen des Heilands selber, woran sich die Gottseligen trösten, denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt; ja, noch mehr: sein Sieg verbürgt den unsern, und darum haben wir den allergewissesten Grund, in ihm zu frohlocken. Das war es, was unserm Herzog solche Befriedigung gab, dass er voraussah, welcher Trost und Nutzen uns aus seinen Kämpfen und Leiden erwachsen werde. Und die Gott suchen, denen wird das Herz leben. Eine ähnliche Versicherung wird in dem nahe verwandten 22. Psalm gegeben. Es würde nutzlos sein zu suchen, wenn Jesu Sieg nicht den Weg gebahnt und uns die Tür der Hoffnung geöffnet hätte; nun der Durchbrecher uns aber vorausgegangen ist und der König vor uns herschreitet (Micha 2,13), ist unsere Hoffnung eine lebendige Hoffnung, ist unser Glaube lebendig, unsere Liebe lebendig und unsere erneuerte Natur voller Lebenskraft, welche die kalte Hand des Todes vergeblich zu dämpfen sucht.

34. Denn der HERR höret die Armen. Das Beispiel Davids wie das seines Herrn und unzähliger Heiligen erhärten diese Wahrheit. Mancher irdische Monarch mag für die Stimme der Armen taub sein; aber der Herr des Weltalls hört jeden Laut des Flehens, der von den Elenden zu ihm aufsteigt. Niemand kann tiefer in den Staub gebeugt werden als der Nazarener; aber siehe, wie hoch er erhöht ist. In was für Tiefen wir auch sinken mögen, der Gebetserhörer (Ps. 65,3) kann uns wieder heraufbringen. Und verachtet seine Gefangenen nicht. Andere Arme haben doch noch ihre Freiheit, diese Ärmsten aber sind gebunden; indessen, sie sind Gottes Gefangene und liegen demnach auf Hoffnung gefangen. Wer im Kerker liegt, gehört zu den niedrigsten und am wenigsten wertgeachteten Menschen; aber der HERR siehet nicht, wie ein Mensch siehet. Er besucht die Gefängnisse, und er erklärt, dass alle seine Gefangenen in die Freiheit ausgehen sollen. Gott verachtet niemand und verschmäht kein aufrichtiges Gebet. Standesunterschiede gelten vor ihm nichts; den Armen wird das Evangelium gepredigt, und die Gefangenen werden durch seine Gnade ihrer Bande ledig. Mögen alle Elenden und Dürftigen eilen, sein Angesicht zu suchen und ihm ihr Herz zu geben!

35. Es lobe ihn Himmel, Erde und Meer und alles, das sich drinnen reget. Das ist der Wunsch eines von Liebe zu Gott glühenden Herzens. Der Psalmdichter hatte die Tiefen durchmessen und war in die Höhen emporgestiegen; darum ruft er die ganze Schöpfung auf, den HERRN zu preisen. Unser hochgelobter Vorläufer feuert hier uns alle zu dankerfüllter Anbetung an; wer wollte da zurückbleiben? Gottes Liebe zu Christus verheißt Heil für die ganze Schöpfung; die Erhöhung des Hauptes bringt Gutes allen Gliedern desselben und allem, was nur irgendwie zu ihm in Beziehung steht. Weil auch die Kreatur selbst durch das Erlösungswerk Christi von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei werden soll, möge alles, was Leben und Bewegung hat, den HERRN verherrlichen. Preis sei dir, Gott, für die unumstößlich gewisse und alles einschließende Bürgschaft des Heils, welche der Sieg unseres Mittlers gewährleistet; in seiner Erhöhung sehen wir mit dem Glaubensauge schon jetzt die Erhöhung aller deiner Armen und Betrübten, und unser Herz ist darob froh.

36. Denn Gott wird Zion helfen und die Städte Judas bauen. Auch das arme, zerfallene Israel wird an der Gnade des HERRN teilhaben; vor allem aber wird die dem Herzen des verherrlichten Bräutigams so teure Gemeinde neu belebt und gestärkt werden. Die alten Heiligen liebten Zion so brünstig, dass sie auch in den tiefsten Nöten sein nicht vergessen konnten. So wie sie der erste Dämmerstrahl des Morgenlichtes der Erlösung bescheint, fangen sie an, für die Gläubigen zu beten. Wir haben davon bei der Betrachtung der Psalmen ja bereits denkwürdige Beispiele gesehen; man vergl. z. B. Ps. 5,12; 14,7; 22,23; 51,20. Auch uns in dieser letzten Zeit Lebenden ist es eine herzerfreuende Hoffnung, dass für das auserwählte Volk des HERRN bessere Tage kommen werden, und dass dies bald geschehe, dafür wollen wir stets flehen. Dass man daselbst wohne und sie besitze. So manche harte Gefangenschaft Israel auch widerfahren und so große Verwüstung das Land der Verheißung treffen mag, Kanaan gehört dennoch, nach Gottes gewisser Bundeszusage, dem Volke Israel, und sie sollen es wieder besitzen; und das soll uns ein Zeichen sein, dass dank der durch den Christus Gottes vollbrachten Erlösung alle geistlich Armen die im Bund der Gnade verheißenen Güter genießen sollen. Die gewissen Gnaden Davids werden das Erbteil aller derer sein, die von Davids Samen sind.

37. Und der Same seiner Knechte wird sie ererben. Unter diesem Bilde, das wir indessen nicht als ein bloßes Gleichnis, sondern als auch dem buchstäblichen Sinne nach bedeutsam anzusehen haben, wird uns der Reichtum geschildert, der den Heiligen als Folge der Leiden ihres Herrn zufällt. Der Schluss des vorliegenden Psalms ruft uns lebhaft den des 22. ins Gedächtnis. Der Same liegt dem Heiland sehr am Herzen, und dass sie alles verheißene Gute genießen mögen, ist das große Anliegen seiner selbstlosen Seele. Weil sie seines Vaters Knechte sind, darum freut er sich über ihr Wohlergehen. Und die seinen Namen lieben, werden drinnen bleiben. In allem zielt er auf eins: auf die Verherrlichung seines Vaters; denn zu dessen Preise sollen diejenigen, welche ihn lieben, das Vollmaß des Glücks erlangen und für immer genießen. So endet denn dieser Psalm, der in den tiefen Wassern begann, in der ewigen Gottesstadt. Welch herrliche Wandlung! Halleluja!


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Psalm 69 steht auf einer Linie mit den Psalmen 22; 40. Er berührt sich namentlich mit Ps. 40 in Bezug auf die Person des Betenden, die Umstände seines Leidens, den Gedankengang und die Weise des Ausdrucks seiner Gefühle unverkennbar. Noch deutlicher treten hier die Ursache der Leiden und ihre Art hervor. Es ist die Treue gegen Gott, der Eifer um das Haus des HERRN, was dem Dulder den bitteren Hass vieler Feinde zugezogen und ihm seine Nächsten entfremdet hat (V. 7.8 ff.). Seine Trauer um den Verfall der Gottesfurcht hat ihm den herbsten Spott eingetragen (V. 11 ff.). Sein Leiden ist also das eines unerschrockenen Bekenners, der, ob auch vor Gott nicht frei von Verirrung und Vergehen (V. 6), doch von den Menschen unschuldig verfolgt wird um seiner Frömmigkeit und seines unerschrockenen Zeugnisses willen. Jene haben denn auch kein Mitleiden mit ihm, sondern vermehren noch unbarmherzig seine Qualen (V. 22). Dennoch verzagt er nicht, sondern baut als einer, der seines Gottes harrt (V. 4, vergl. Ps. 22,2), auf die Hilfe des HERRN und sieht im Geiste sich wieder erhöht, worauf er im Liede den Namen Gottes zu verherrlichen gedenkt, was ein wohlgefälligeres Opfer sei als wohlgehörnte Farren (vergl. Ps. 40). Dass es der Überschrift gemäß David sei, welcher so bete, bestätigt sich gerade bei diesem Psalm nicht. Denn wie V. 5.9 geschieht, konnte dieser nicht wohl sprechen; auch führt V. 34 auf eine wirkliche Gefangenschaft. Dagegen muss der Verfasser ein hervorragendes Glied, wo nicht das Haupt, der frommen Gemeinde sein (V. 7.33). Auf den gefangenen Jeremia (Hitzig) passt hier noch mehreres als in Ps. 22; 40. V. 3.15 (vergl. Ps. 40,3) könnten Anspielung auf die Schlammgrube sein, in der er gefangen gehalten wurde (Jer. 38,6); doch ist kein Schluss daraus zu ziehen. V. 13.23 stimmen nicht zu der damaligen Lage Jerusalems, V. 27 nicht zu Jeremias Schicksal. Prof. C. von Orelli 1882.
  Der Psalm ist von alters her als ein messianischer betrachtet worden. Kein Abschnitt des Alten Testaments, mit Ausnahme des 22. Psalms, wird im Neuen Testament häufiger angeführt. Als Jesus die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel trieb, gedachten seine Jünger an den Anfang von V. 10 (Joh. 2,17). Wenn Jesus Joh. 15,25 sagt, seine Feinde hassten ihn ohne Ursache, und dies als eine Erfüllung der Schrift bezeichnet, hat er wahrscheinlich V. 5 unseres Psalms im Auge, wiewohl er auch an Ps. 35,19 gedacht haben kann. Auf Christus und die Schmach, die er um Gottes willen erduldete, bezieht Paulus Röm. 15,3 die zweite Hälfte des 10. Verses. In V. 12 haben wir eine Vorandeutung der Verspottung unseres Heilands durch die Kriegsknechte im Richthaus (Mt. 27,27-30); V. 22 fand ebenfalls sein Gegenstück bei der Kreuzigung, Mt. 27,34. Ebenso finden wir Joh. 19,28 eine Hinweisung auf diesen 22. Vers, sowie auf Ps. 22,16. Von der Verwünschung in V. 26 wird Apg. 1,20 gesagt, sie habe sich an Judas Ischarioth erfüllt, wiewohl in den Worten des Psalms die Mehrzahl gebraucht ist und die Anführung demnach etwas frei ist. Laut Röm. 11,9.10 kann man die Verwerfung Israels treffend mit den Versen 23.24 schildern. J. J. Stewart Perowne 1864.
  Es ist sehr merkwürdig, dass gerade dieser Leidenspsalm auf das triumphierende Siegeslied (Ps. 68) folgt. Man hat die Aufeinanderfolge der beiden Psalmen wohl mit den Vorgängen bei der Verklärung verglichen, wo nach der Enthüllung der Herrlichkeit Christi Mose und Elia erschienen und mit ihm von dem Ausgang redeten, welchen er zu Jerusalem erfüllen sollte. So darf auch bei uns, wenn es uns vergönnt wird, klare Blicke in die zukünftige Herrlichkeit zu tun, dadurch das Bewusstsein nicht erschüttert werden, dass wir durch viel Trübsal ins Reich Gottes gehen müssen. W. Wilson 1860.


V. 2. Gott, hilf mir. Mag Gott sich noch so fern von ihm gewandt haben, der Psalmist ist dennoch entschlossen, ihm nachzurufen; und wenn er das Haupt nur eben über das Wasser erheben kann, soll der HERR seine Stimme hören. Man sollte meinen, seine Lage sei so entmutigend, dass er alles Rufen aufgeben würde. Das Wasser ging ihm bis an die Seele, er war im tiefen Wasser, die Flut wollte ihn ersäufen, ja er versank im tiefen Schlamm, wo kein Grund war, er hatte sich müde geschrien - und doch hören wir ihn V. 7. 14 und weiterhin immer noch flehen, und so wie er wieder zu Atem kommt, haucht er auch neue Bitten und Seufzer vor Gott aus. Wenn Menschen oder Teufel uns das Bitten verböten, wie die Menge dort jenem armen Blinden, der Jesu nachrief (Lk. 18,35 ff.), so wird doch derjenige, dem es mit dem Flehen ernst ist, wie dieser nur desto mehr schreien: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich mein! Thomas Cobbet † 1686.


V. 3. Ich versinke in tiefem Schlamm. Als ich an den Ufern des Nils einmal einen stillen Gang machte, kam ich zu einer so weichen und schlammigen Stelle, dass ich Halt machen musste, weil mein Fuß bei jedem Schritt tiefer einsank. Als ich festen Fuß gefasst hatte, rief ich ein Schiff an, beizuwinden und mich an Bord zu nehmen. So wurde denn einer der Leute in einem kleinen Kahn gesandt, um mich zu holen. Der Fluss war aber an der Westseite so seicht, dass der Mann den Nachen nicht bis ans Ufer bringen konnte; er sprang daher ins Wasser, um mich, wie man es in solchen Fällen gewöhnlich macht, auf seinem Rücken in das Boot zu tragen. Kaum hatte er aber den Sprung getan, als ich ihn schreien hörte. Ich wandte mich um, zu sehen, was los sei, und sah ihn im Schlamm ringen. Er sank so schnell wie in Flugsand, und je mehr er sich abarbeitete um emporzukommen, desto schneller sank er. Seine Kameraden im Schiff waren nicht saumselig. Sie erkannten bald, in welcher Gefahr er sich befand, und zwei von ihnen stürzten sich ins Wasser und schwammen auf den Nachen zu. Ich war vor Schreck fast gelähmt und konnte nur mit Mühe atmen oder vielmehr nach Luft schnappen. "Werden sie wohl zu dem Armen gelangen können?" fragte ich mich. "Wenn nicht, dann wird er unfehlbar bei lebendigem Leibe von der Erde verschlungen!" Jetzt erreichen sie den Nachen! Jetzt sind sie nahe bei ihm! Und nun greift er nach dem Boot und klammert sich fest an den Rand. O dieser mit der Verzweiflung des Todes getane Griff! Doch nicht eher kam diese Rettung, als da er schon bis an die Brust in den Schlamm eingesunken war. Als ich ihn gerettet sah, atmete ich auf; aber ich fühle, dass noch jetzt, wo ich die Begebenheit doch nur erzählt habe, die Aufregung mir ein Schmerz verursachendes Herzklopfen gebracht hat. Wie wurde mir damals lebendig, was David im 69. Psalm sagt! Hatte er wohl körperlich ein ähnliches Erlebnis durchgemacht, als er bildlich, in Bezug auf den Zustand seines Gemüts, sagte: Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist; ich bin im tiefen Wasser, und die Flut will mich ersäufen? O welch fürchterliche Lage! Und doch wissen ohne Zweifel manche meiner Leser, die im buchstäblichen Sinne nie Zeugen eines solchen Auftritts waren, von dergleichen inneren Nöten etwas, wie David, mag er solches Versinken im Schlamm mit seinen leiblichen Augen gesehen haben oder nicht. Er hatte allen Grund, bei dem vergeblichen Ringen seiner Seele auszurufen: Errette mich aus dem Schlamm, dass ich nicht versinke (V. 15). Lass mich fest die Rettungsarche fassen und wohlbehalten an Bord gebracht werden. Wohlan, gerade im rechten Augenblick, unmittelbar bevor dem armen Menschen dort vom Nilschlamm die Arme (soll ich sagen, sein Arm des Glaubens?) gefesselt und verschlungen wurden, kam die Rettung! John Gadsby 1862.
  Ich versinke, da kein Grund ist, wo ich Fuß fassen könnte. Ich sah wohl ein, dass diejenigen Grund haben, sich zu freuen, die sich an Jesus festhalten. Ich aber hatte mich durch meine Übertretungen von ihm gelöst und fand nun an all den Stützpunkten und Handgriffen, welche das Wort des Lebens andern bot, keinen Halt, wo ich meinen Fuß ansetzen oder woran ich mich mit der Hand anklammern konnte. Und es war mir, als versänke ich in einen Abgrund wie ein Haus, dessen Fundament zerstört ist; ich kam mir in diesem Gemütszustand vor wie ein Kind, das in einen Mühlenteich gefallen ist und, wiewohl es einige Anstrengungen machen kann, in dem Wasser zu zappeln, doch, weil es für Hand und Fuß keinen Halt findet, elendiglich umkommen muss. John Bunyan † 1688.
  Im Schlamm. Wenn der Abgrund bloß voll Wassers wäre, so hätte noch ein guter Schwimmer Hoffnung, da wieder herauszukommen. Berleburger Bibel 1742.


V. 4. Müde geschrien. Wir sehen, dass die Heiligen bei den Wechseln des Lebens, auch wenn sie an denselben nicht schuld sind, nicht gefühllos und hart sind. Sie verachten die drohenden Gefahren nicht; sie werden von Angst erfüllt, sie schreien und seufzen in ihren Anfechtungen. Wolfgang Musculus †1563.
  Das Gesicht vergeht mir. O des traurigen Anblicks, dass die Augen schwinden, mit denen Jesus die Volkshaufen sah, welche sich zu ihm drängten, weshalb er auf den Berg ging, um die Lehren des neuen Bundes zu verkündigen; die Augen, mit denen er Petrus und Andreas sah, die er darauf berief; die Augen, mit denen er Levi am Zoll sitzen sah, worauf er ihn zum Boten des Evangeliums machte; die Augen, die auf die Stadt niederschauten und um sie weinten. Mit diesen Augen sahest du Simon an, als du sprachst: "Du bist Simon, Jonas Sohn; du sollst Kephas heißen." Mit einem Blick dieser Augen brachtest du ihn, als er dich verleugnete, zur Besinnung und bewahrtest ihn damit vor der Verzweiflung. Mit diesen Augen schautest du auf die Sünderin, zu der du sprachst: "Dein Glaube hat dir geholfen; gehe hin in Frieden." Richte diese Augen auch auf uns und wende sie niemals von unseren Gebeten ab! Propst Gerhoch zu Reichersberg † 1169.
  Die Stunde kommt, wo auch uns das Gesicht vergeht und diese unsere Augen sich für immer schließen; aber auch dann lasst uns harren auf unseren Gott. Mögen wir auch in dieser Hinsicht sterben des Todes des Gerechten und unser Ende sein wie dieses Ende! Bischof George Horne † 1792.


V. 5. Ohne Ursache. Es ist bekannt, was Tertullian von Sokrates erzählt, wie dieser, als sein Weib ihn nach seiner Verurteilung getroffen und mit weiblichen Tränen zu ihm gesagt habe: "Du bist ungerecht verurteilt, Sokrates," geantwortet habe: "Möchtest du, dass ich gerecht verurteilt worden wäre?" Joh. Lorinus † 1634.
  Ich muss bezahlen, das ich nicht geraubt habe. Nach dem Gesetz musste ein Mann, der einen Ochsen gestohlen und dann geschlachtet oder verkauft hatte, fünf Ochsen wiedergeben oder, wenn es ein Schaf war, vier Schafe für eins erstatten; fand man aber das Gestohlene bei ihm lebendig, so musste er es zwiefältig wiedergeben (2. Mose 21,37; 22,3). Jemand aber zu einer Wiedererstattung zwingen, wenn er nichts genommen hatte, war ein schreiendes Unrecht. Benjamin Boothroyd † 1836.
  Der Teufel nahm durch seine Selbstüberhebung im Himmel, was ihm nicht zukam, indem er sich vermaß, dem Höchsten gleich zu sein, und dafür leidet er gerechte Strafe. Adam nahm auch, was ihm nicht gehörte, indem er, durch die Verheißung des Teufels: "Ihr werdet sein wie Gott," verlockt, auf sündlichem Wege Gott gleich zu werden strebte. Der Herr Jesus aber hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein (Phil. 2,6). Dennoch riefen seine Feinde: "Kreuzige ihn, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht!" Propst Gerhoch zu Reichersberg † 1169.


V. 6. Meine Schulden sind dir nicht verborgen. Ohne Zweifel wurden die Verschuldungen derer, für welche Christus starb, dadurch, dass sie ihm zugerechnet wurden, vom Standpunkt des Rechtes aus seine Verschuldungen, in dem Sinn, dass er für sie zu büßen hatte. Aber man beachte wohl, dass die Schrift zwar von Jesus deutlich redet als von dem, der um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen worden sei (Jes. 53,5) und der unsre Sünden selbst hinaufgetragen habe an seinem Leibe auf das Holz (1. Petr. 2,24), dagegen, man möchte sagen aus Scheu, irgendeine Ausdrucksweise zu brauchen, welche auch nur scheinbar seine makellose Reinheit antasten könnte, nie von den Sünden derjenigen, zu deren Heil er starb, als von seinen Sünden redet. James Anderson 1846.


V. 7. Die Gottes harren und ihn suchen, sind eigentlich die wahren Gläubigen. Gottes harren heißt mit Verleugnung alles Vertrauens auf eigenen Verdienst und Würdigkeit sich einig und allein auf die Gnade Gottes verlassen; das ist die Seele des Glaubens. Den HERRN suchen heißt sich befleißen, ihn recht zu erkennen, ihm gefällig zu dienen usw.; das ist die Erweisung des Glaubens. Beides muss bei wahren Gläubigen beisammen sein. Deren nimmt sich der Heiland gerne an, die lässt er weder in sich selbst über ihrem Hoffen zuschanden werden noch vor andern, sonderlich ihren geistlichen Feinden, schamrot werden. Es muss vielmehr umgekehrt und an ihren Feinden dahin gebracht werden, Ps. 25,3. Johann David Frisch 1719.
  An mir, eigentlich: in mir. In diesen Worten ist die Stimme des Bürgen deutlich vernehmbar. Die Antwort auf die Bitte des erhabenen Dulders ist das klare Zeugnis, das jetzt die Grundlage des Evangeliums bildet: Wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden (1. Petr. 2,6). Arthur Pridham 1869.


V. 8. Bedeckt Schande mein Angesicht. Bedeckung des Angesichts mit Schande ist eins der größten Übel; es ist ein Zug aus dem Bilde, womit uns das Elend der Hölle geschildert wird. Es gibt nichts, das eine edle Natur mehr verabscheut als Schande; denn die Ehre ist ein Stück der Gottebenbildlichkeit, und je mehr in einem Menschen von dieser ist, desto schrecklicher ist ihm alle Schande, die ja eben das Ebenbild Gottes in ihm erniedrigt. Für ein gemeines, niedriges Gemüt ist Schande allerdings nichts; aber für ein edles Gemüt, wie das eines David, ist nichts peinlicher, als wenn seine Ehre geschändet wird. Und je größere Ehre jemand verliert, desto größer ist seine Schande. Was muss es denn für Christus gewesen sein, als er, weil er Gottes durch der Menschen Sünde geschändete Ehre Genüge zu leisten hatte, neben all den andern Strafen vor allem Schande leiden musste, Schande, die ja auch in der Hölle eine der größten Strafen ist. Und wie Christus andere Schwächen unserer Natur an sich nahm, die ihn in anderen Stücken leidensfähig machten, - wie z. B., dass er Hunger, Bedürfnis nach Schlaf, körperliche Qualen, Unfreundlichkeit usw. empfinden konnte, - so nahm er die Fähigkeit an, Schmach und Scham zu fühlen. Und wie seine Zartheit ihn für Schmerzen allerart empfindlicher machte, als es je sonst jemand gewesen ist, so machte ihn der Adel seines Gemüts auch viel empfindlicher für das Übel der Schmach, als es je jemand gewesen. Thomas Goodwin †1679.


V. 9. Ich bin fremd worden meinen Brüdern. Wenn ihn diese Abneigung seiner Brüder nicht geschmerzt hätte, würde er nicht darüber geklagt haben; und sie würde ihn nicht so geschmerzt haben, wenn er nicht eine besondere Liebe gegen sie gehegt hätte. Wolfgang Musculus † 1563.
  Meinen Brüdern, parallel meiner Mutter Söhnen, wie Ps. 50,20, vergl. dagegen den absichtlich anders gewechselten Ausdruck 1. Mose 49,8; deines Vaters Söhne. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 10. Der Eifer um dein Haus hat mich gefressen. Wer dessen eingedenk ist, dass die Schrift von einem Frieden spricht, der höher sei denn alle Vernunft, und von einer unaussprechlichen und herrlichen Freude, der wird mehr geneigt sein, den niedrigen Stand seiner eigenen Gefühle zu beklagen, als die Angemessenheit von höchst vernünftigen und schriftgemäßen Gefühlen bloß darum zu bezweifeln, weil sie einen Grad erreichen, zu dem er sich nie aufgeschwungen hat. Die heilige Schrift gibt der Annahme keinerlei Stütze, dass religiöse Gefühle als schwärmerische und eingebildete zu verurteilen seien, nur auf Grund dessen, dass sie außerordentlich inbrünstig und erhaben sind. Wir werden in der Schrift nirgend gelehrt, dass unsere Inbrunst und unser Eifer, vorausgesetzt, dass sie von der rechten Art sind und der rechten Quelle entspringen, zu groß sein könnten. David tanzte mit aller Macht vor dem HERRN her (2. Samuel 6,14), und als er darob getadelt wurde, als mache er sich dadurch vor seinem Volk gemein, erwiderte er: Wenn das gemein ist, dann will ich noch gemeiner werden! Robert Hall † 1831.
  Bedenke die Exempel der Heiligen der alten Zeit. David brach sich den Schlaf ab, um über Gottes Wort zu sinnen (Ps. 119,148). Der Eifer um Gottes Haus verzehrte ihn (Ps. 69,10). Und Paulus streckte sich nach dem Ziel, das vor ihm war (Phil. 3,13). Das griechische Wort, welches der Apostel da braucht, bedeutet ein Vorbeugen des ganzen Körpers; das Bild ist von den Wettläufern genommen, die jedes Glied ausstrecken und sich vorwärts neigen, um den Kampfpreis zu erreichen. Wir lesen von der Prophetin Hanna, sie sei nimmer vom Tempel gekommen, sondern habe Gott gedient mit Fasten und Beten Tag und Nacht (Lk. 2,37). Wie emsig war Calvin in dem Weinberg des HERRN tätig! Als seine Freunde ihn zu überreden suchten, um seiner Gesundheit willen ein weniges an seiner Arbeit nachzulassen, sagte er: "Wollt ihr, dass der Herr mich müßig finde, wenn er kommt?" Luther verwandte drei Stunden des Tages aufs Gebet. Man berichtet von dem Märtyrer Bradford († 1555), sein ganzes Leben sei Predigen, Lesen und Beten gewesen. "Ich freue mich," sagte Bischof Jewel († 1571), "dass mein Leib sich in den Arbeiten meines heiligen Berufs verzehrt." Von welch brennendem Eifer waren die heiligen Blutzeugen erfüllt! Sie trugen ihre Ketten als Zierat, sie achteten ihre Folterqualen als eine Krone und begrüßten die Flammen des Scheiterhaufens so freudig wie Elia den feurigen Wagen, der ihn gen Himmel holte. "Mögen Folter, Feuer, Qualen allerart über mich kommen, wenn ich nur Christus gewinne," sprach Ignatius, der apostolische Vater († um 138). Diese heiligen Seelen widerstanden wirklich bis aufs Blut (Hebr. 12,4). Wie sollte das unseren Eifer anfachen! Lasst uns diesen Beispielen nachahmen. Thomas Watson 1660.
  Eifer um die wahre Religion ist preiswürdig. War David voll Eifers? Dann ziemt Eifer einem königlichen Geist. War Christus, unser Erlöser, voll Eifers? Dann ziemt Eifer einem heldenmütigen Charakter. Der Eifer steht in üblem Rufe bei den meisten Menschen, die gern still sitzen und die Gemächlichkeit lieben; das beweist aber nicht, dass es einem edeln, durch Gottes Gnade wiedergeborenen Menschen übel anstehe, wenn der Eifer um Gottes Haus ihn verzehrt. Es ist eine Verleumdung, solchen Eifer Torheit zu nennen. War der eifrige David nicht weiser als seine Lehrer, weiser als seine Feinde, weiser als die Alten? (Ps. 119,98-100.) Laue Menschen nennen solchen Eifer Tollheit; Gottes Geist hat ein anderes Urteil darüber. Warum schiebt man ernsten Glaubensmännern so gern Unbesonnenheit, Übereilung, Heuchelei oder Starrsinn unter? War es bei David Unbesonnenheit? Nein, es war seine inbrünstige Liebe zu Gottes Wahrheit. Oder handelte Christus etwa unbedacht? Nein, er war voll göttlicher Weisheit. Festus sprach zu Paulus mit lauter Stimme, er rase, während er doch nur wahre und vernünftige Worte redete (Apg. 26,24 f.). Die Verwandten Jesu meinten, er sei von Sinnen (Mk. 3,21). Setzt etwa das Urteil solch törichter Leute den Eifer unseres Heilands herunter? Es ist vielmehr eine Empfehlung, ein Lob für ihn. Böses aus dem Hause Gottes ausrotten und Gutes in demselben pflanzen ist eine gute Sache. (Vergl. Gal. 4,18) Thomas Wilson 1641.
  Eifer - Schmähungen. Die Gnade bringt nie herrlichere Früchte als in der Anfechtung. Leidenszeiten sind des Christen Erntezeiten. So wird auch in solchen Zeiten der Eifer mächtig. Ich erwähne als Beispiel, was Du Moulin († 1658) von den französischen Protestanten sagt: "Als die Päpstlichen uns wegen des Lesens der heiligen Schrift bestraften, brannten wir vor Eifer, sie zu lesen; nun die Verfolgung aber vorüber ist, sind unsere Bibeln wie alte Kalender geachtet." Alle Schmähungen und Drohungen, aller Widerstand, alle Verfolgungen, die einem Christen auf dem Pfad der Tugend entgegentreten, erhöhen nur seinen Eifer und seinen Mut. Michals Spott entflammte David nur zu noch größerer Inbrunst. In den Zeiten der härtesten Verfolgung erfüllt sich an den Christen die Verheißung, welche Gott dem Hesekiel gegeben hat, dass er nämlich seine Stirn hart wie einen Diamanten machen wolle. Nun ist ja bekanntlich der Diamant der härteste aller Steine; das Feuer kann ihn nicht verbrennen, kein Hammer ihn zerbrechen, Wasser ihn nicht auflösen; man mag mit ihm machen, was man will, er bleibt immer derselbe. So soll es mit dem Christen sein. Als jemand, erzählt die Sage, zu wissen begehrte, was für ein Mann Basilius gewesen sei, wurde ihm im Traum eine Feuersäule gezeigt mit dem Motto: Talis est Basilius, so beschaffen ist Basilius. Verfolgungen erreichen bei dem wahren Christen nur, dass er für Gott ganz Feuer und Flamme wird. Thomas Brooks † 1680.
  Hat mich gefressen. Wer in der Religion sehr eifrig oder sonst in seinen Neigungen sehr heftig ist, von dem sagt man im Morgenland, er werde davon verzehrt. "Der alte Muttu hat sich entschlossen, seine Heimat für immer zu verlassen; er will um das Heil seiner Seele barfuß zum Ganges wandern: sein Eifer verzehrte ihn." Joseph Roberts 1844.
  Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen. Wir sollten danach streben, all die Schmach Christi, wenn es möglich wäre, von ihm abzuwenden und auf uns zu nehmen, so dass wir uns lieber selber anspeien und verachten lassen, als dass solches Christus widerfahre. Das war ein tapferes Wort des Bischofs Ambrosius († 397), er wünsche, es möchte Gott gefallen, alle Widersacher der Kirche auf. ihn zu vereinigen und sie ihren Durst an seinem Blute stillen zu lassen. Das war ein rechtes Christenherz. Geschieht es daher um unsertwillen oder haben wir irgendeinen Anteil an solchem, wodurch Christus geschmähet wird, so sollten wir willig sein, uns lieber aufzuopfern, als dass Christus Schmach treffe; wie Jona, als er wusste, dass das Unwetter um seinetwillen tobte, sprach: "Werft mich ins Meer." Und so sagte auch Gregor von Nazianz († 390), als sich um seiner Person willen Hader erhob: "Werfet mich ins Meer, lasst mich meine Stellung verlieren, lieber, als dass der Name Christi um meinetwillen leiden sollte." Jeremiah Burroughs † 1646.


V. 11-13. Ich weine und faste bitterlich: und man spottet mein dazu usw. Siehe hier die Tugend als Laster, die Wahrheit als Lästerung, die Weisheit als Torheit verschrien. Sieh, wie der, welcher der Welt den Frieden bringt, als Aufrührer geächtet wird, der, welcher das Gesetz zu erfüllen gekommen ist, als der das Gesetz breche, der Heiland als ein Sünder, der Gottessohn als ein Teufel. Du armes, gequältes Herz, was jammerst du so, weil man dir Beleidigungen zufügt und dich mit Schimpf überhäuft? Gott behandelt dich in dieser Welt nicht anders, als er es mit seinem eingeborenen Sohn gemacht hat, der vor dir solch bitteren Trunk gekostet, ja bis zu den Hefen ausgetrunken hat. Es ist nicht nur ein Trost, sondern ein Vorrecht, wenn wir Leidensgenossen Christi sind. Die Hunde bellen nicht solche an, die sie kennen und mit denen sie vertraut sind, sondern Fremde. Wie kannst du der Welt ein Fremdling sein, wenn sie dich nicht belästigt und von dir nachteilig redet? Sir John Hayward † 1627.
  Es gibt nichts, mag es noch so wohl gemeint sein, das einem nicht falsch ausgelegt werden könnte. Bischof Simon Patrick † 1707.
  Dass Christus verlacht und verspottet wurde, sehen wir z. B. im Hause des Jairus, Mk. 5,39, oder als er vom Almosengeben geredet hatte, Lk. 16,14, sowie besonders in seinem Leiden, da er von den Kriegsknechten, von Herodes, den Hohenpriestern und vielen andern verspottet ward. Kardinal Robert Bellarmin † 1621.
  Menschen, die besonders viel zu dulden haben, sind gemeiniglich in aller Mund und werden oft mit schamlosem Hohn übergossen. Von Trübsalen, die so schwer sind, wie nur wenige sie durchmachen, redet alle Welt. Aus dem großen Kummer edler Seelen macht man Liedlein, und die niedere Dichtkunst spielt mit den schwersten Leiden. Joseph Caryl † 1673.


V. 13. Die im Tor sitzen: Das sind die Magistratspersonen, die Ältesten, die dort zu Gericht sitzen. John Mason Good † 1827.
  Wenn die, welche als Obrigkeit gesetzt sind, die wahre Religion missachten, wird diese beim Pöbel zum Gespött, so dass jeder Wicht darüber herfällt und die Zecher hinter ihren vollen Krügen mit dem Heiligen Possen reißen. - Die Schmach des Kreuzes gehört zu dem Schmerzlichsten, das der Erlöser zu erdulden hatte. Viermal spricht er davon in diesen vier Versen (10-13) zu Gott. David Dickson † 1662.
  Und in den Zechen singet man von mir: wie es dem Hiob ergangen, Hiob 30,9, und dem Jeremia, Klgl. 3,63. Johann David Frisch 1719.


V. 14. Ich aber bete.

  Je größer Kreuz, je mehr Gebete:
  Geriebne Kräuter riechen wohl.
  Wenn um das Schiff kein Sturmwind wehte,
  So fragte man nicht nach dem Pol.
  Wo kämen Davids Psalmen her,
  Wenn er nicht auch versuchet wär’?
  - Benjamin Schmolck † 1737.

  Zur angenehmen Zeit. Es sind nicht alle Zeiten gleich. Wir finden nicht immer in dem gleichen Maße Zugang bei Gott. Wie er nicht allezeit züchtigt, so geruht er auch nicht allezeit uns zu antworten. Es mag sein, dass wir klopfen und wieder klopfen und doch eine Zeit lang draußen stehen müssen; manchmal so lang, bis uns die Knie einsinken, die Augen verschmachten und das Herz zu brechen droht, weil niemand hört, niemand sich um uns kümmert. Wir hätten früher kommen oder das Kommen auf eine bessere Zeit setzen sollen. Mark Frank † 1664.


V. 16. Der Glaube gibt Hoffnung auf Hilfe und ist schon eine halbe Befreiung, ehe die volle kommt. Der Psalmdichter ist jetzt mit seinem Haupt über dem Wasser und nicht in dem Maße in Furcht, als da er zu beten begann. David Dickson † 1662.
  Das hier und an einigen andern Stellen Grube übersetzte Wort bedeutet einen Brunnen; so ist es auch sonst meist wiedergegeben. Wir haben hier wohl an eine Zisterne zu denken. Solche wurden etwa, wie Dekan Stanley bemerkt, wenn sie kein Wasser mehr enthielten, als Gefängnisse benutzt, ohne dass man sich die Mühe gab, sie von dem Schlamm, der sich auf dem Boden festgesetzt hatte, zu reinigen. Um die Öffnung war ein breiter gemauerter Rand, und oft verschloss ein Stein dieselbe. Wurde dieser Stein über das Loch gerollt, so "verschloss der Brunnen seinen Mund", und der arme Gefangene war dann lebendig begraben. C. H. Spurgeon 1872.


V. 18. Verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knechte, sagt er. Ich bin dein Knecht, und es ist die Pflicht des Herrn, für seinen Knecht zu sorgen, wenn dieser um seinetwillen in Gefahr ist. Wolfgang Musculus † 1563.
  Auch wenn er um Gottes willen leiden muss und des göttlichen Trostes entbehrt, verlässt ein aufrichtiger Knecht des HERRN doch seinen Meister nicht, noch verzweifelt er an dessen Huld. David Dickson † 1662.


V. 20. Du weißt meine Schmach usw. Das ist ein kräftiger Trost, dass Gott von der Schmach, die uns um seinetwillen trifft, Kenntnis nimmt. Wenn jemand um seiner Freunde willen, während er von ihnen entfernt ist, Schmach leidet, sagt er sich: "O wenn meine Freunde nur wüssten, was ich leide, und zwar um ihretwillen leide, so wäre mir das ein Trost." Ist nun das schon so tröstlich, dass der HERR um unsere Schmach und Schande und Scham weiß, wieviel mehr, dass er sie als ihm widerfahren ansieht! Christus hat Kenntnis von allen Leiden jedes seiner Glieder; darum sprich nicht: "Ich bin ein armer Mensch; niemand kümmert sich darum, was ich leide." Der HERR kümmert sich um deine Leiden noch mehr als du selber. Jeremiah Burroughs † 1646.


V. 21. Die Schmach bricht mir mein Herz. Es ist allgemein bekannt, dass Gemütsbewegungen und geistige Leiden die Herztätigkeit angreifen, in der Weise, dass dadurch Herzklopfen, Ohnmachten usw. verursacht werden. Dass solche Erregungen und Leiden, wenn sie mit überwältigender Macht über jemand kommen, hie und da, wiewohl selten, ein Zerreißen oder Brechen der Herzwände verursachen, wird von den meisten medizinischen Autoritäten, welche über die Krankheiten dieses Organs geschrieben haben, bezeugt, und selbst unsere Dichter spielen auf diese Wirkung als auf eine erwiesene Tatsache an.
  
  Harm, der nicht spricht, erstickt das volle Herz
  Und macht es brechen. (Schiller, Macbeth)
  
  Wenn aber je ein menschliches Herz bloß durch das Übermaß erlittenen Herzeleids gespalten und gebrochen ward, dann muss das, so dürfen wir sogar von vornherein schließen, bei unserm Erlöser der Fall gewesen sein, als er während jener dunkeln Schreckensstunden am Kreuze, da er für uns ein Fluch ward, unsere Kümmernisse trug und unsere Schmerzen auf sich lud (Jes. 53,4) und um der Sünde willen der Mann der Schmerzen ward, von Gott verlassen und von den Menschen verstoßen und darum tief betrübt bis an den Tod. Es sind sowohl theologische als medizinische Stützgründe für die Ansicht vorhanden, dass Christus tatsächlich an einem gebrochenen Herzen gestorben sei. Wenn man, wie es billig ist, die mancherlei im 22. und 69. Psalm enthaltenen merkwürdigen Weissagungen und genauen Vorherverkündungen über die mit dem Tode Christi verbundenen Umstände, wie z. B.: "Sie haben meine Hände und Füße durchgraben", "Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand" und andere mehr, für buchstäblich wahr hält, warum sollten wir dann andere Aussagen derselben Psalmen, wie: "Die Schmach bricht mir mein Herz", "Mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzen Wachs", als bloß bildlich und nicht als buchstäblich wahr ansehen? Sir James Young Simpson (der berühmte Arzt, Entdecker der Chloroformwirkung) † 1870.
  Ich warte, ob’s jemand jammere, aber da ist niemand usw. Selbst unter gewöhnlichen Verhältnissen verlangen wir nach Mitleid. Müssen wir dieses entbehren, so krampft sich das Herz zusammen und verschmachtet, es schließt sich und welkt dahin wie eine Blume in einer ihr ungünstigen Atmosphäre; aber es öffnet sich wie diese wieder in freier, frischer und milder Luft und unter der Sonne der Liebe. Wenn wir in Trübsal sind, wird dieser Mangel im Verhältnis noch viel drückender empfunden; ja für ein von Kummer und Gram beschwertes Herz ist es ein größeres Weh, als es unsere Natur tragen kann, sich verlassen zu fühlen. Ein Händedruck voll Mitgefühls hilft einem bekümmerten Herzen mehr, als wenn man ihm unermessliche Reichtümer schenkt, und ein Blick aus liebevollen Augen, selbst von einem kleinen Kinde, das um uns bekümmert ist, oder ein schlichtes Wort eines biederen Freundes stärkt das Gemüt oft zu ganz neuen Anstrengungen und weckt das Leben, selbst wo es schon fast vom Tode verschlungen zu sein schien. Charles Stanford 1859.


V. 22. Sie geben mir Galle zu essen usw. Solcherart sind oft die Labsale, welche die Welt einer betrübten und verlassenen Seele bietet. Bischof George Horne † 1792.
  Galle und Essig werden hier nebeneinander gesetzt, um damit die dem Gaumen widerlichsten Arten von Speise und Trank zu bezeichnen. Das Leiden unseres Heilands ward von der Vorsehung so geordnet, dass es mit diesem Vers merkwürdig übereinstimmte. Die Römer pflegten zum Kreuzestod verurteilten Missetätern sauren Wein mit einem Aufguss von Myrrhe (nicht Galle) zu geben, um die Schmerzen dadurch zu betäuben. Dieser Sitte folgte man auch bei dem gekreuzigten Erlöser, wie Markus 15,23 berichtet. Wiewohl es an und für sich keine Tat der Grausamkeit, sondern das Gegenteil war, bildete es doch ein Stück in dem ganzen grausamen Verfahren mörderischer Verfolgung. Von den römischen Kriegsknechten mag es eine Handlung der Menschenfreundlichkeit gewesen sein; aber als Tat der ungläubigen Juden betrachtet, war es ein Darreichen von Galle und Essig an einen, der bereits von Angst und Kummer überwältigt war. So stellt es denn Matthäus (27,34) nach der durchgängig von ihm befolgten Weise als Erfüllung der Psalmstelle hin. Er widerspricht nicht dem oben angeführten Bericht des Markus, sondern deutet nur an, dass der Myrrhenwein, der dem Gekreuzigten gereicht wurde, als mit der Galle und dem Essig, von denen die Weissagung redet, gleichbedeutend zu betrachten sei. Und damit die Übereinstimmung nicht übersehen werde, klagte unser Erlöser auch noch, ehe er starb, seinen Durst, worauf ihm Essig gereicht wurde, von dem er nahm, während er jenen ihm bei der Kreuzigung angebotenen Betäubungstrank von sich gewiesen hatte. Joseph Addison Alexander 1850.
  Manche Erklärer haben auf die erfrischende Eigenschaft des im Morgenland gebräuchlichen Essigs aufmerksam gemacht. Ich will die Behauptungen dieser Schriftsteller nicht wiederholen, sondern lieber fragen, warum doch der Psalmdichter sich darüber beklagte, dass man ihm in seinem tödlichen Durst, den er in einem andern Psalm so beschreibt, dass ihm die Zunge am Gaumen klebe (22,16), Essig zu trinken gegeben habe? Dass dieser erfrische, ist nicht zu leugnen; aber außer dem, dass daneben die Galle erwähnt ist, was man nicht übersehen wolle, ist wohl auch zu bedenken, dass der saure Wein oder Essig nur von den geringsten Leuten, Sklaven, elenden Gefangenen usw. getrunken wurde, während bei den Vornehmen die süßen Weine besonders beliebt gewesen zu sein scheinen, wie aus der doch auch im Osten entstandenen griechischen Bibelübersetzung hervorgeht, die Esther 1,7 statt: "und königlichen Wein die Menge, wie es der König vermochte," übersetzt: "viel und süßen Wein, solchen, wie der König selbst trank." Vielleicht geschah es gerade im Blick auf diese Bevorzugung des süßen Weins, dass die Kriegsknechte zum Spott (Lk. 23,36) dem König der Juden essigsauren Wein anboten. Welch ein königlicher Trank! Thomas Harmer † 1788.
  Da die Sünde damit begann, dass der Mensch, entgegen dem Gott schuldigen Gehorsam, von der Frucht des Baumes kostete, war der Erlöser bereit, gehorsam zu sein bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz, und sein Leben in Erfüllung der Weissagung mit dem Schmecken der bitteren Galle und des sauren Essigs zu endigen, damit wir auf diese Weise beides, den Anfang unseres Verderbens und das Ende unserer Erlösung, sehen und erkennen, wie vollgenügend wir erlöst sind und wie vollkommen Christus den Schaden gut gemacht hat. Fra Thomé de Jesu 1582.
  Thomas Morus, der Kanzler des englischen Königs Heinrich IV., widersprach offen, als sein König seine Gemahlin Katharina von Aragonien verstieß. Der König warf ihn in den Tower, Morus blieb bei seiner Meinung. Der König verlangte, sich selbst in seinen Forderungen überbietend, Morus solle Änderungen, die der König in der letzten Zeit in Staat und Kirche eingeführt hatte, wozu insbesondere die jüngst geschlossene zweite Ehe des Königs gehörte, durch einen Eid anerkennen. Morus tat es nicht, wurde des Hochverrats angeschuldigt und zum Tode verurteilt. An die Wand seiner Zelle schrieb er in seinen letzten Tagen: "Bist du mit Christus fröhlich gewesen beim Hochzeitsfest zu Kana, so schaudere nicht davor zurück, mit ihm auch vor dem Richterstuhl des Pilatus zu stehen." Auf seinem letzten Gange bot ihm eine Frau einen Becher Wein dar. Trotz seiner Körperschwäche schlug er ihn aus: "Es steht von unserm Herrn Jesus geschrieben: Sie gaben mir Galle zu essen und Essig zu trinken in meinem großen Durst; darum kann ich nicht Wein trinken, wo meinem Herrn Essig und Galle gereicht worden sind." Auf dem Schafott kniete er nieder und betete in tiefster Andacht: "Erbarme dich meiner!" K. Baumstark 1879.


V. 23-29. Die Lehre von der göttlichen Vergeltung ist von fern nicht auf das Alte Testament beschränkt, sondern wird auch in manchen Gleichnissen unseres Heilands klar bezeugt. Siehe z. B. Mt. 21,41; 22,7; 24,51. Joseph Addison Alexander 1850.
  Der Psalmdichter zählt zehn Plagen oder Wirkungen des göttlichen Zornes auf, welche über die Feinde für ihre Ruchlosigkeit kommen sollen. David Dickson † 1662.
  Man beachte, wie die Vergeltung der Sünde der Juden entspricht. Sie gaben Christus Galle und Essig als Speise und Trank; so sind ihnen ihre geistliche Speise und Trank zur Schlinge geworden. Seine Augen mussten verschmachten und sich im Tode schließen; so sind auch ihnen die Augen verdunkelt und verschlossen worden, dass sie sehend nicht sehen. Seine Lenden wurden gegeißelt; so müssen nun ihre Lenden beständig schlottern. Christopher Wordsworth 1868.


V. 23. Die erste Verwünschung schließt sich an V. 22. Galle und Essig haben sie dem Leidenden gegeben, darum soll ihr Tisch, der reichlich gedeckte, sich ihnen in eine Schlinge verwandeln, welcher sie sich nicht entwinden können, und zwar mitten in ihrem Wohlleben, während er vor ihnen gedeckt ist. Man muss die noch jetzt in der Wüste übliche Form des Tisches kennen: eine aufgerollte und auf dem Boden hingebreitete Lederdecke (Nxfl:$u, Tisch, von xla$f ausstrecken), um sich den Übergang des Tisches in eine Schlinge vorstellig zu machen. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Ihr Tisch. Es hat jemand gut gesagt: Licitis perimus omnes, das Verderben fängt gewöhnlich beim Gebrauch erlaubter Dinge an, indem die größte Gefahr meist da ist, wo man sie am wenigsten vermutet. Bei allem, woran wir uns erlaben, gibt es eine verbotene Frucht, die lieblich anzusehen ist und süß schmeckt, aber nicht angerührt werden darf. Henry Wilkinson 1675.
  Johann Heinrich Michaelis († 1738) weist darauf hin, wie genau sich diese Drohungen in der Geschichte der letzten Belagerung Jerusalems durch die Römer erfüllt haben. Viele tausend Juden waren in der Stadt versammelt, um das Passahlamm zu essen, als Titus sie unerwartet angriff. Bei dieser Belagerung kam der größere Teil der Bewohner Jerusalems um. William Walford 1837.


V. 24. mit Römer 11,10. In V. 10 folgt Paulus genau den LXX, die den Sinn des Urtextes treffend wiedergebend, übersetzen: Beuge ihren Rücken allezeit. Im Urtext steht dafür: Lass ihre Hüften beständig wanken. Wie erklärt sich der Übergang von der einen Phrase zur andern? Die wankenden, schlotternden Hüften, welche David seinen Feinden wünscht, besagen, dass diese nicht mehr wie Freie aufrecht und fest auftreten, sondern in beständiger Angst und einer geknickten Stellung sich befinden sollten (vergl. 3. Mose 26,36): also in der zitternden Stellung, in welcher sie ihn, den Verfolgten, so oft erblickt. Aus diesen wankenden Hüften resultiert mittelbar das Gebeugtsein des Rückens, welches Paulus hier, im Anschluss an die LXX, bietet. Unwillkürlich fühlt man sich gemahnt an den Anblick, welchen besonders die ungebildeten Juden in ihrem jetzigen sogenannten römischen Exil gewähren. Erfüllt hat sich an ihnen Pauli Wort, welches er diesen Verwünschungen entnahm (Röm. 11,9.10). Weil die Juden Christum verfolgt, wie die Saulischen David verfolgten: so ergeht es ihnen auch nach der Norm, zufolge welcher ihr eigner König (David) seine Feinde gestraft wissen wollte. Prof. Ed. Böhl 1878.


V. 25. Gieße deine Ungnade auf sie. Gottes Rachgerechtigkeit werden Schalen zugeschrieben, die mit mancherlei Flüchen und Plagen angefüllt sind. Die gießt er aus, wenn er nicht nur die einen oder anderen Plagen über die Menschen führt, sondern auf einmal allen Jammer lässt losbrechen, Krieg, Hunger, Pestilenz usw., und so ward es den Juden verkündigt, aber auch wirklich an ihnen vollzogen. Johann David Frisch 1719.


V. 26. Ihr Lager- oder Wohnort (Grundtext): eine von den kreisförmigen Zeltlagern der Nomaden entnommene Bezeichnung. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Und sei niemand, der in ihren Hütten wohne. Als der Tempel genommen oder vielmehr eingeäschert war, baten die elenden Überbleibsel des jüdischen Volks, wie Josephus berichtet, den Titus, er möge ihnen erlauben, mit Weib und Kind durch die Mauerbreschen zu gehen und sich in die Wildnis zu begeben, - eine Bitte, die er zornig verweigerte. So gab es also buchstäblich keine Einwohner für ihre Zelte. John Mason Good 1827.


V. 27. Sie verfolgen, den Du geschlagen hast. Als das Unglück, in welchem David sich befand, das Mitleid herausforderte, bedeckte Simeis loses Maul ihn mit Flüchen. Es wird am jüngsten Tage nichts Seltenes sein, dass solche Flucher des Mordes angeklagt werden. Sie würden töten, wenn sie dürften; sie töten, soweit sie es vermögen. Bileam hätte ganz Israel schnell genug umgebracht, wenn seine Zunge oder sein Schwert seinen Willen hätten ausführen können. Thomas Adams 1614.
  Und erzählen usw. Schon das Aussprechen und Weiterverbreiten böser Reden über die Sache der Wahrheit und über den heiligen Wandel echter Christen ist, besonders wenn diese in Leiden und Trübsalen sind, eine starke Herausforderung des Zornes Gottes. David Dickson † 1662.
  Es wäre wahrlich zu wünschen, dass es keinem durch die Erkenntnis der Sünde doch schon genug verwundeten Reumütigen je widerführe, dass seine Seelenschmerzen ihn dem Spott und der Geringschätzung solcher, die als Christen angesehen sein möchten, aussetzen. Bischof George Horne † 1792.


V. 28. Füge Schuld zu ihrer Schuld hinzu. (Wörtl.) Das ist die gerechte Vergeltung, die Gott an denen übt, welche ihre Sünde nähren und pflegen. Wer den Fluch haben will, dem kommt er auch (Ps. 109,17). Gott fügt dem Menschen Schuld zu Schuld nicht durch Einflößen von Gottlosigkeit, sondern durch Entziehen seines Geistes. Wie die Sonne, wenn sie sich von uns abwendet, Finsternis hervorruft, so schafft die Entziehung der Gnade, dass die Gottlosigkeit überhandnimmt. In dem ganzen Zeughaus göttlicher Strafen gibt es keine größere als diese. Thomas Adams 1614.


V. 29. Sie mögen getilgt werden aus dem MyYixa rpes", dem Lebensbuche, 2. Mose 32,32, vergl. Jes. 4,3; Dan. 12,1, also gestrichen aus der Reihe der Lebendigen, und zwar der diesseits Lebendigen; denn erst im Neuen Testament erscheint das Lebensbuch als Namenliste der Erben der xwh` ai)w/nioj des ewigen Lebens. Erben des Lebens sind nach alt- wie neutestamentlicher Anschauung die Gerechten; darum wünscht V. 29b, dass sie diesen nicht beigeschrieben werden, welche nach Hab. 2,4 durch ihren Glauben "leben", d. h. erhalten bleiben. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 32. Gehörnt, mit gespaltenen Hufen. (Wörtl.) Diese Attribute bezeichnen nicht, wie Hengstenberg meint, die rohe, materielle Tiernatur, sondern die gesetzgemäße Opferbarkeit. Gehörnt heißt der junge Stier als nicht unter drei Jahre alt, mit gespaltenen Hufen als zu den reinen Vierfüßlern, nämlich den klauenspaltenden Wiederkäuern (3. Mose 11) gehörig. Selbst das stattlichste, vollständig ausgewachsene, reine Opfertier steht bei Jehova tief unter dem aus dem Herzen kommenden Opfer dankbaren Lobes. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 33. Man sagt vom Herzen, es lebe auf, wenn es erquickt und von seinen Schmerzen und Kümmernissen befreit wird. So heißt es von Jakob, dass sein Geist lebendig geworden sei, als ihm die gute Botschaft von Joseph gebracht worden (1. Mose 45,27). Dagegen wird von Nabal gesagt, sein Herz sei ihm im Leibe erstorben, dass er wie ein Stein geworden sei, als sein Weib ihm alles gesagt habe, was geschehen sei (1. Samuel 25,37). Joh. Lorinus † 1634.


V. 34. Es liegt ein viel größerer Trost darin, dass Gott, wie es hier heißt, die Armen hört, als wenn dastände: Gott hörte den armen David. Wolfgang Musculus † 1563.


Homiletische Winke

V. 2. Unsere Trübsale gleich den Wassern. 1) Wir sollten sie uns aus dem Herzen halten. 2) Doch gibt es Lecke, die sie hineinlassen. 3) Achte darauf, wenn sich der Kielraum füllt. 4) Brauche die Pumpen und rufe um Hilfe.
V. 3.4. angewandt auf den erweckten Sünder, der gewahr geworden ist, in welcher Lage er sich befindet, so dass er, von Furcht überwältigt, keine Hoffnung fassen kann, auch im Gebet keine Beruhigung findet und alles göttlichen Trostes ermangelt.
V. 4. Hier finden wir: 1) Glauben mitten in Drangsal (mein Gott), 2) Hoffnung mitten in Enttäuschung (meine Augen verschmachten vom Harren aus meinen Gott), 3) Gebet mitten in der höchsten Ermattung (ich bin müde vom Rufen, meine Kehle ist ausgedörrt). George Rogers 1871. Oder: Wir finden hier: 1) Gebet, wo das Beten ausgeht, 2) Hoffnung, wo die Hoffnung erlischt. George Rogers 1871.
V. 5c. Christus als der Erstatter.
V. 6. Unsere Torheit. Worin äußert sie sich im Allgemeinen, wie kann sie sich in den Einzelnen zeigen, was ist ihre Ursache, und wie hat Gott Vorsorge getroffen sie zu heilen?
  1) Dass Gott unsere Sünde weiß, sollte uns zur Buße treiben, weil a) jeder Versuch, irgendeine Sünde vor ihm zu verbergen, töricht ist und weil es uns b) unmöglich ist, ihm alle unsere Sünden zu bekennen. 2) Dass Gott unsere Sünde weiß, kann uns aber auch ermutigen, auf Vergebung zu hoffen, weil er a) bei voller Kenntnis unserer Sünde erklärt hat, dass er gnädig sei und bereit, uns zu vergeben, und er b) für die Vergebung Anstalt getroffen hat, nicht nach unserer, sondern nach seiner Erkenntnis der Sünde. George Rogers 1871.
V. 9.10. 1) Ein schmerzliches Seelenleiden. 2) Der ehrenhafte Grund desselben (um deinetwillen). 3) Trost in solchem Leiden.
V. 10. 1) Der Gegenstand des Eifers Jesu: dein Haus, dein Zion, deine Gemeinde. 2) Der Grad seines Eifers: hat mich verzehret. Unser Erlöser ward von seinem eigenen Eifer verzehrt. 3) Die Äußerungen dieses Eifers. George Rogers 1871.
V. 11-13. Eine Weissagung auf 1) die Tränen des Heilands, 2) sein Fasten, 3) seine Schmach, 4) seine Erniedrigung (Sack angezogen), 5) die Verdrehung seiner Worte, 6) den Widerstand der Pharisäer und Obersten gegen ihn (die im Tor sitzen), 7) die Verachtung, welche er auch von den Verkommensten erfuhr (in den Zechen singt man von mir). G. Rogers 1871.
V. 14. Die angenehme Zeit. Sie ist gewöhnlich da, solange wir noch in diesem Leben sind, besonders wenn wir bußfertig sind, unseren Sündenjammer fühlen, brünstig beten können, Gott alle Ehre geben, seinen Zusagen glauben und eine gnädige Antwort erwarten.
V. 15-17. 1) Die Tiefe, aus der das Gebet aufsteigen kann. 2) Die Höhe, zu der es emporsteigen kann. Vergl. Jonas Gebet. George Rogers 1871.
V. 16c. Eine schreckliche Gefahr, unser Entrinnen aus derselben, unsere Hoffnung wider sie, unsere Furcht vor ihr und die Gründe, die uns gegen sie sichern.
V. 18. 1) Die Bitte: Verbirg dein Angesicht nicht. 2) Der Beter: Dein Knecht. 3) Die Begründung: Denn mir ist angst. 4) Das Dringen auf Erhörung: Erhöre mich eilend.
V. 20. 1) Gott weiß, was seine Kinder leiden, wie viel, wie lange, von wem und weswegen. 2) Gottes Kinder sollten in diesem göttlichen Wissen Trost finden. a) Die Prüfung ist von ihm zugelassen, b) von ihm bemessen, c) hat ihren Zweck von ihm, und wird d), wenn dieser Zweck erreicht ist, von ihm weggenommen werden. George Rogers 1871.
V. 21. Das gebrochene Herz des Heilandes.
  Gebrochene Herzen: gebrochen durch Willensschwäche, durch verletzten Stolz, durch Reue, durch Verfolgung, durch Mitleid usw.
V. 22. Das Verhalten der Menschen gegen Jesus während seines ganzen Erdenlebens. Sie vergalten ihm Böses um all das Gute, das er ihnen erwies, auch da, wo es ganz undenkbar scheinen sollte, dass man ihm anderes als Gutes vergolten haben könnte.
V. 23. Der Tisch eine Schlinge. Unmäßige Tafelgenüsse, lose Tischgespräche, ehrlose Beratschlagungen am Ratstisch, abergläubische Religionsbräuche.
V. 24. Der gerichtliche Fluch, der über manche Verächter Christi kommt: Ihre Verstandskräfte werden unfähig, die Wahrheit zu erkennen, und sie zittern und wanken, weil sie keinen stärkenden Trost aufnehmen können.
V. 30. 1) Die Erniedrigung, welche der Erhöhung vorhergeht: a) Sie ist tief: Ich bin elend und mir ist wehe; b) sie wird eingestanden: Ich bin usw. 2) Die Erhöhung, welche der Erniedrigung folgt: Sie ist a) göttlich: Deine Hilfe; b) darum völlig und herrlich: Entrücke mich doch (wörtl.). Gott tut nichts halb. George Rogers 1871.
V. 31.32. 1) Die Wirkung der Befreiung auf die Kinder Gottes: Sie erfüllt sie mit Loben und Danken. 2) Die Wirkung dieses Lobpreisens auf Gott: Es gefällt ihm besser als irgendwelche äußerlichen Opfer. Ps. 50,14. George Rogers 1871.
V. 33. Die Erfahrungen, die der Gläubige in seinen Prüfungen von Gottes Hilfe und Schutz macht, und der Dank, den er dafür dem HERRN darbringt, dienen anderen gläubigen Duldern zur Freude und Belebung.
V. 34. 1) Wie unwert sind die Kinder Gottes vor den Augen der Welt: arm und gefangen. 2) Wie wert sind sie aber in Gottes Augen: nicht unbeachtet, nicht ungehört, nicht verachtet.
V. 35. Das Meer usw. Wie Gott durch das Meer gepriesen wird, gepriesen werden sollte und gepriesen werden wird.
V. 36.37. Man beachte die Folge der Worte: erretten, bauen, wohnen und besitzen, ererben, lieben, drinnen bleiben.
V. 37. 1) Das Bundeserbteil. 2) Was für Leuten gehört es? 3) Wie gewiss werden diese es erlangen, und 4) wie beständig werden sie es besitzen!

Fußnoten

1. Die Übersetzung ist unsicher. Keßler: ihren Befreundeten = ihren Tischgenossen; Bäthgen nach dem Targum: ihre Opfermahlzeiten (Mheym"l:$ay:). Luthers Übers.: zur Vergeltung und zu einer Falle, schließt sich an die LXX an, welche MymiWlI$il: vermutet: haben werden. Danach auch Röm. 11,9.

2. Die hervorgehobenen Eigenschaften sollen wohl eher die Opferfähigkeit des Tiers bezeichnen. Vergl. die Erläuterungen S. 471 unten.

3. D. h. dass die Sakramente und gottesdienstlichen Übungen (in der Zeit des neuen Bundes) an sich wirken, abgesehen von dem Verdienst oder Glauben des sie Gebrauchenden oder Darbringenden.