Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 84 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Psalm der Kinder Korah oder, wie Eichhorn und andre es verstehen: den Kindern Korah zur Aufführung übergeben,1 auf der Gittith, vorzusingen. Der vorliegende Psalm verdiente es wohl, den edelsten Söhnen der Sangeskunst zur musikalischen Bearbeitung übergeben zu werden. Keine Musik konnte an lieblicher Innigkeit seinen Inhalt, an Wohlklang der Töne die Schönheit seiner Sprache übertreffen. Herrlicher als die Freuden der Weinlese (vergl. über Gittith die Vorbemerkung zu Ps. 81) ist die Freude, welche die heiligen Versammlungen im Hause des HERRN den Gläubigen gewähren; auch die bevorzugtesten Kinder der Gnade, wie die Kinder Korah solche waren (vergl. die Vorbemerkung zu Ps. 42), können für ihre Festgesänge kein besseres, inhaltsreicheres Thema haben als die lieblichen Gottesdienste Zions.
  Es hat wenig zu bedeuten, wann und von wem dieser Psalm geschrieben worden ist. Uns dünkt er davidischen Wohlgeruch auszuströmen; er riecht nach Heidekraut und Tannenduft, nach den einsamen Stätten, an denen der König David so oft in Kampfeszeiten geweilt hat. Diese geistliche Ode ist eine der auserlesensten der ganzen Sammlung; sie hat einen milden Glanz an sich, der sie berechtigt, die Perle der Psalmen genannt zu werden. Wenn der 23. der allbekannteste, der 103. der freudigste, der 51. der wehmütigste, der 119. der am tiefsten aus der Erfahrung geschöpfte Psalm ist, so ist dieser 84. wohl das lieblichste der Friedenslieder.
  Die Pilgerfahrten zum Heiligtum nahmen im israelitischen Leben eine bedeutsame Stelle ein. In unserem (englischen) Vaterlande waren die Wallfahrten zu dem Grabe des Erzbischofs Thomas von Canterbury2 und zu Unsern lieben Frauen von Walsingham so allgemein, dass sie die ganze Bevölkerung berührten und der Anlass wurden zum Anlegen von Straßen und Errichten von Herbergen, ja zum Entstehen einer besondern Literatur; und ebenso war es ja in andern Ländern. Das mag es uns erleichtern zu verstehen, welchen Einfluß die Pilgerfahrten nach Jerusalem auf die Israeliten ausübten. Verwandte und Bekannte wanderten miteinander und bildeten Haufen, die an jedem Rastort größer wurden; sie lagerten in lieblichen Lichtungen, stimmten gemeinsam beim Wandern Gesänge an, klommen miteinander über Hügel und durch Schluchten, halfen sich gegenseitig auf unwegsamen Pfaden und sammelten so allerlei Erinnerungen, die nie aus dem Gedächtnis weichen konnten. Einer, der die heilige Gemeinschaft der Pilgrime und die feierlichen Gottesdienste im Hause des HERRN entbehren musste, hat in diesem Psalme seinem betrübten und doch in der Erinnerung an das Heiligtum frohlockenden Geiste würdigen Ausdruck gegeben.

Einteilung. Wir machen da Rast, wo der Verfasser oder der Komponist der Musik die Pausen angedeutet hat, nämlich bei den Sela.


Auslegung

2. Wie lieblich sind deine Wohnungen, HERR Zebaoth!
3. Meine Seele verlanget und sehnet sich nach den Vorhöfen des HERRN;
mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott.
4. Denn der Vogel hat ein Haus gefunden
und die Schwalbe ihr Nest, da sie Junge hecken:deine Altäre, HERR Zebaoth, mein König und mein Gott.
5. Wohl denen, die in deinem Hause wohnen;
die loben dich immerdar. Sela.


2. Wie lieblich sind deine Wohnungen! Der Psalmdichter sagt uns nicht, wie lieblich sie sind; denn das konnte er nicht. Seine Ausdrucksweise zeigt uns, dass seine Gefühle unaussprechlich waren. Lieblich für Gedächtnis, Gemüt, Herz und Auge, für die ganze Seele sind die Versammlungen der Heiligen. Die Erde bietet keinen herzerquickenderen Anblick als die gottesdienstlichen Zusammenkünfte der Gläubigen. Das sind traurige Heilige, die in den Gottesdiensten des Hauses des HERRN nichts Liebliches sehen. Deine Wohnungen. Der Tempel bestand aus verschiedenen Räumen und Baulichkeiten, daher vielleicht die Mehrzahl hier (und im Grundtext noch an manchen anderen Stellen, 43,3; 46,5 usw.). Das ganze Heiligtum war dem Psalmisten lieblich. Ob er sich im Geiste in den äußern oder den inneren Vorhof versetzte, ob er des Heiligen oder des Allerheiligsten gedachte - er liebte jeden Teil des heiligen Baues; ja, jeder Balken, jede Säule war ihm teuer. Auch als er in der Ferne weilte, war es ihm eine Lust, des Heiligtums zu gedenken, in dem Jehova sich offenbarte, und er frohlockte laut, da er sich die weihevollen Gottesdienste mit den feierlichen Handlungen vor Augen stellte, wie er sie in vergangenen Zeiten geschaut hatte. Weil sie deine Wohnungen sind, HERR Zebaoth, darum sind sie deinem Volke so lieb. Dein Gezelt ist der Mittelpunkt des Heerlagers deiner Diener, um das sie sich alle sammeln und zu dem ihrer aller Augen gerichtet sind, wie irdische Heere nach dem Zelt ihres Königs schauen. Du beherrschest die mannigfaltigen Scharen deiner Geschöpfe mit solcher Güte, dass alle ihre Legionen deinen Herrschaftssitz lieben, und die Fähnlein deiner Gläubigen namentlich grüßen dich mit freudiger Ergebenheit als den HERRN der Heerscharen.

3. Meine Seele verlanget - sie schmachtet danach, mit den Frommen im Hause des Herrn zusammenzukommen. Der Psalmist war von tiefer, durch nichts zu beschwichtigender Sehnsucht ergriffen; seine innerste Seele begehrte nach seinem Gott. Und sehnet sich, wörtl.: verzehrt sich vor inbrünstigem Verlangen, als könnte sie es nicht länger aushalten, als müsste sie vergehen, wenn sich die Erfüllung ihres Verlangens noch mehr verzögerte. Heilige Liebessehnsucht brannte in ihm; er ward von einer innerlichen Schwindsucht verzehrt, weil es ihm versagt war, an der Anbetung Jehovas an der von Gott dazu bestimmten Stätte teilzunehmen. Nach den Vorhöfen des HERRN. Ach, dass er wieder in den heiligen Hallen stehen dürfte, die der Anbetung des einen wahren Gottes geweiht waren! Treue Untertanen lieben die Vorhöfe ihres Königs. Mein Leib und Seele (wörtl.: mein Herz und mein Fleisch) jubeln dem lebendigen Gott zu (Grundtext) oder, wie etliche übersetzen: schreien nach dem lebendigen Gott.3 Nach Gott selber, dem einzig lebendigen und wahren Gott, schmachtete er. Sein ganzes Wesen ward von dem Sehnen ergriffen. Selbst das erdkalte Fleisch wurde warm durch die heftige Erregung seines brünstigen Geistes. Das ist ja selten der Fall, dass sich unser Fleisch nach der rechten Richtung hinneigt; aber in Bezug auf die Gottesdienste des Sabbattages kommt der müde Leib doch oft unserm verlangenden Herzen zu Hilfe, indem er ebenso sehr nach der physischen Ruhe verlangt wie die Seele nach der geistlichen Erquickung. Der Psalmist konnte seine Sehnsucht nicht still im Herzen verbergen, sondern er fing an, nach Gott und Gottes Haus zu rufen; er weinte, seufzte und flehte um Gewährung dieses Vorrechts. Manche müssen gleichsam mit der Rute zur Kirche gepeitscht werden, während der Psalmist hier nach dem Hause Gottes schreit. Es bedurfte für ihn keines Geläutes vom Glockenstuhl, ihn zur Kirche zu rufen; er trug die Glocke in seinem eigenen Busen. Gesunder Seelenhunger ladet besser zum Gottesdienst als das feinste Glockenspiel.

4. Denn der Vogel hat ein Haus gefunden. Er beneidete die Sperlinge, die am Hause Gottes wohnten und die verstreuten Brotsamlein in den Vorhöfen aufpickten; sein heißer Wunsch war, dass er doch auch die heiligen Hallen besuchen und nur ein wenig himmlische Speise hinwegtragen dürfte. Und die Schwalbe ihr Nest, da sie Junge hecken. Er beneidete auch die Schwalben, die ihre Nester unter dem Dach der Priesterwohnungen bauten, die da eine Ruhstätt hatten für ihre Jungen wie auch für sich selber. Wir freuen uns nicht nur über die uns zur eigenen Erbauung gebotenen Gelegenheiten, sondern ebenso sehr über den großen Segen, dass wir auch unsre Kinder zum Heiligtum mitnehmen dürfen. Die Gemeinde des HERRN ist ein Haus für uns und ein Nest für unsre Kleinen. Deine Altäre, HERR Zebaoth. Sogar an den Altar kamen diese freien Vöglein; niemand konnte sie daran hindern, und wer hätte das auch tun wollen? Ach, dass er, der Psalmdichter, auch so frei wie sie kommen und gehen könnte! Man merke, dass der Dichter den gebenedeiten Namen Jehova Zebaoth wiederholt; er fand in ihm eine Süßigkeit, die ihm den Hunger seiner Seele ertragen half. Vielleicht war David damals beim Heer und betonte darum so nachdrücklich diesen Gottesnamen, der ihm die tröstliche Wahrheit vor die Seele führte, dass der HERR auf dem von Kriegszelten bedeckten Kampfesfelde ebenso wahrhaft gegenwärtig war wie hinter dem heiligen Vorhang. Mein König und mein Gott. In diesen Worten bringt er aus der Ferne seinem göttlichen König die Huldigung seines Herzens dar. Ob er jetzt auch nicht am Hofe weilen darf, liebt er den König doch. Ist er ein Verbannter, so doch kein Empörer. Wenn wir auch nicht in Gottes Haus sitzen dürfen, so soll Gott doch einen festen Platz in unserm Gedächtnis und einen Thron in unserm Herzen haben. Das zweifache "mein" ist sehr köstlich; der Psalmist hält seinen Gott mit beiden Händen fest, entschlossen, ihn nicht loszulassen, bis er ihm die erbetene Gunst endlich gewährt.

5. Wohl denen, die in deinem Hause wohnen. Das sind ihm hochbegnadigte Leute, die stets am Dienste Gottes beschäftigt sind - die Stiftsherren, aber nicht nur sie, auch die Küster und die geringsten Kirchendiener, welche fegen und abstauben. Das Haus Gottes zu besuchen ist schon erquickend; aber die heilige Gebetsstätte zur Heimat haben, das muss der Himmel auf Erden sein. Gottes Hausgenossen zu sein, die Gastfreundschaft des Himmels auf Erden zu genießen, ausgesondert zu sein zum eiligen Dienst, beschirmt vor dem Lärm der Welt und in stetem vertrauten Umgang mit den heiligen Dingen - wahrlich, das ist das lieblichste Los, das einem Menschenkinde hienieden zufallen kann. Die loben dich immerdar. Wer Gott so nah ist, dessen Leben muss Anbetung sein. Wie könnten Herz und Mund solcher begnadigten Leute je aufhören Gott zu preisen! Wir fürchten freilich, der Dichter habe hier eher ein Bild dessen entworfen, wie es sein sollte, als wie es wirklich ist. Denn diejenigen, welche täglich mit den zur öffentlichen Gottesverehrung nötigen Diensten betraut sind, zählen nicht immer zu den Frömmsten; im Gegenteil gilt oft das Sprichwort: Je näher bei er Kirche, desto weiter von Gott. Aber im rechten, geistlichen Sinne verstanden, sind die Worte vollkommen wahr; denn diejenigen Kinder Gottes, welche im Geist allezeit im Hause des Herrn weilen, sind auch stets des Preises Gottes voll. Die Gemeinschaft mit Gott hat die Anbetung zur Tochter.
  Sela. Bei einer solchen Beschäftigung könnten wir ohne Aufhören bleiben. Es ist der Mühe wert, dass wir eine Weile still über die selige Aussicht nachsinnen, in alle Ewigkeit bei Gott wohnen und ihn preisen zu dürfen.


6. Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten
und von Herzen dir nachwandeln,
7. die durch das Jammertal gehen und machen daselbst Brunnen.
Und die Lehrer werden mit viel Segen geschmückt.
8. Sie erhalten einen Sieg nach dem andern,
dass man sehen muss, der rechte Gott sei zu Zion.
9. Herr, Gott Zebaoth, höre mein Gebet;
vernimm’s Gott Jakobs! Sela.


6. Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten. Nachdem der Dichter von der Glückseligkeit derer geredet hat, die im Hause Gottes wohnen, spricht er nun von denjenigen, welchen es vergönnt ist, das Heiligtum zu bestimmten Zeiten zu besuchen, wenn sie mit ihren Glaubensbrüdern die Wallfahrt nach Jerusalem machen. Doch dehnt er seine Seligpreisung nicht unterschiedslos auf alle Festpilger aus, sondern redet nur von denen, die von Herzen an den heiligen Festen teilnehmen. Die Segnungen des Hauses Gottes werden halbherzigen, gleichgültigen und gedankenlosen Kirchenbesuchern nicht zuteil, sondern nur solchen, die sich mit ganzer Seele und allen Kräften am Gottesdienste beteiligen. Weder Gebet noch Gesang noch das Hören des göttlichen Wortes wird solchen Kirchgängern, die ihr Herz nicht mitgebracht haben, lieblich und nützlich sein. Eine Gesellschaft von Festpilgern, die ihre Herzen daheim gelassen haben, würde nicht besser sein als eine Karawane von Leichnamen, ganz unfähig, sich mit lebendigen Gotteskindern in der Anbetung des lebendigen Gottes zu vereinigen. Und von Herzen dir nachwandeln. So deutet Luther die etwas schwer verständlichen Worte des Grundtextes: Bahnen (eigentl. Hochstraßen) in ihren Herzen, indem er unter den "Bahnen" oder "Straßen" die Wege Gottes versteht. Das sind in der Tat selige Leute, die Gottes Wege im Herzen haben, also Gottes Gebote lieben. - Eine andre Deutung, die weniger gezwungen, aber auch nicht sicher ist, versteht unter den gebahnten Straßen die nach Jerusalem führenden. Man übersetzt dann etwa: Wohl den Menschen, die in dir Kraft finden, wenn sie (behufs der Pilgerfahrt) Straßen (nach Jerusalem) im Sinne haben: solche werden alle Hindernisse, Beschwerden und Gefahren der Wanderung überwinden. Die folgenden Verse passen gut zu dieser Deutung. - Haben wir auch unser Angesicht gewendet, zu wandeln nach Jerusalem? Dann lasst uns auch die Kraft zu dieser unsrer Lebenswallfahrt täglich aufs Neue beim HERRN suchen.

7. Durch das Tränental4 gehend, machen sie es zum Quellort. (Grundtext) Indem sie voll frohen Glaubensmutes die Straße zum Heiligtum hinaufzogen, fanden die glücklichen Pilger selbst auf der ödesten Strecke des Weges Erquickung. Und zwar ist es ihr Glaube, der die öde Wüste zum Quellort macht. "Was nach anderen Stellen der Schrift (Jes. 35,7; 41,18)" sagt Delitzsch, "die Allmacht Gottes wirkt, der sein Volk gen Zion heimführt, das erscheint hier als Wirkung der Glaubensmacht derer, welche, das gleiche Wanderziel im Auge, das unfruchtbare Tal durchziehen." Das Jammertal wird ihnen zu einer lieblichen Oase, an deren klarem Quell sie ihren Durst löschen und sich lagern, um auszuruhen und miteinander liebliche Gespräche zu führen. So lässt der Glaube auch uns, die wir nach dem Himmel wallen, manche labende Quelle mitten im Tränental aufsprudeln; wir trinken am Born der göttlichen Verheißungen, lagern uns im brüderlichen Kreis um das frische süße Wasser und reden miteinander von den unaussprechlichen Freuden und Erquickungen, die unser in der Gottesstadt warten. Die Wallfahrt nach Zion bietet Freuden, welche uns die Beschwerden des Weges ganz vergessen lassen. Auch deckt es ein Frühregen mit Segen. (Grundtext) "Nicht allein", sagt Delitzsch schön, "dass ihr Glaube Wasser aus Sand und Gestein der Wüste schlägt, Gott kommt auch seinerseits ihrer Liebe liebend, ihrer Treue lohnend entgegen: ein milder Frühregen, das ist ein solcher wie der im Herbst die Saaten erfrischende, fällt von oben hernieder und hüllt das öde Tal in Segensfülle ein; die dürre Steppe prangt in blumenreichem Festgewande (Jes. 35,1 f.), nicht in äußerer, aber für sie in nicht minder wahrer geistlicher Wirklichkeit." So wird auch uns manch rauer Weg durchs Tränental zu einem lieblichen Gang durch grüne Auen.

8. Sie wandeln von Kraft zu Kraft. (Grundtext) Statt wie andre Wanderer ihre Kräfte zu verbrauchen und zu ermatten wallen sie mit immer gesteigerter Kraft dem Ziele zu. Jeder Einzelne wird immer frischer und fröhlicher beim Wandern, jede Pilgergesellschaft schreitet immer rüstiger aus, jedes Lied, das sie anstimmen, klingt immer lieblicher und voller. Wenn wir dem Himmel zustreben, wachsen uns Wanderlust und Wanderfrische, je näher wir dem Ziele kommen. Wenn wir unsre Kraft auf Gottes Wegen verbrauchen, werden wir erfahren, dass sie stets verjüngt und vermehrt wird. Sie erscheinen vor Gott zu Zion. Sie erreichen alle glücklich das Ziel. Zion ist der Sammelpunkt, wo alle sich vereinigen; dort wandelt sich die heilige Sehnsucht aller in Wonne seligen Genusses. Nicht nur an der Versammlung der Volksgenossen teilzunehmen, sondern vor Gott zu erscheinen, war der Zweck, den jeder wahre Israelit im Auge hatte, wenn er nach Jerusalem zog. Wollte Gott, es wäre das auch das aufrichtige Verlangen aller derer, die sich in unseren Tagen zu religiösen Zusammenkünften vereinigen! Wenn wir uns nicht der Gegenwart Gottes bewusst werden und aus ihr Nutzen ziehen, so haben wir mit dem "Gottesdienst" nur Zeit versäumt; das bloße Zusammenkommen hat nicht den mindesten Wert.

9. HERR, Gott Zebaoth, höre mein Gebet! O gewähre mir’s, dass ich zum Hause Gottes hinaufziehen dürfe; und kann das nicht sein, so lass doch wenigstens mein Flehen zu deinem Heiligtum dringen! Du achtest ja auf die vereinigten Gebete deiner Heiligen; aber verschließe doch auch meinem einsamen Flehen nicht dein Ohr, so unwürdig ich bin! Vernimm’s, Gott Jakobs! Wiewohl du der Herr der Heerscharen bist, bist du doch auch der Bundesgott einsamer Beter, wie Jakob einer war; so lausche denn auf mein klägliches Flehen! Ich ringe hier allein mit dir, während die Festscharen deines Volkes das Glück deines Hauses genießen; ich bitte dich, segne mich, denn ich bin entschlossen, dich nicht zu lassen, bis du meiner Seele das Wort der Gnade zusprichst. Dass der Psalmist das Begehren nach einer Antwort auf sein Gebet wiederholt, zeigt an, wie dringend er nach Gottes Segen verlangt. Welche Gnade ist es, dass wir, auch wenn es uns nicht vergönnt ist, uns mit Gottes Knechten und Mägden zu versammeln, doch mit deren Meister reden können!
  Sela. Ein Aufatmen tut Not nach einer so dringenden Bitte.

 

 

10. Gott, unser Schild, schaue doch;
siehe an das Antlitz deines Gesalbten!
11. Denn ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser denn sonst tausend.
Ich will lieber der Tür hüten in meines Gottes Hause
denn wohnen in der Gottlosen Hütten.
12. Denn Gott der HERR ist Sonne und Schild,
der HERR gibt Gnade und Ehre;
er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.
13. HERR Zebaoth,
wohl dem Menschen, der sich auf dich verläßt!

 


10. Gott, unser Schild, schaue doch; siehe an das Antlitz deines Gesalbten! Dieser Vers ist ein Gebet Israels für David oder den auf Davids Thron sitzenden Gesalbten Gottes und ein Gebet der Gläubigen aller Zeiten für den wahren Davidssohn. Wenn Gott nur auf unseren Herrn Jesus sieht, so sind wir vor allem beschützt, das uns schaden könnte. Sieht Gott das Antlitz seines Gesalbten an, so werden wir imstande sein, auch sein Antlitz mit Freuden anzublicken. Auch wir sind durch Gottes Gnade Gesalbte des HERRN, und unser Wunsch ist, dass er uns in Christus Jesus mit liebendem Auge anblicke. Unsre besten Gebete sind diejenigen, welche unseren glorreichen König und den Genuß der Huld seines erhabenen Vaters zum Gegenstand haben.

11. Denn ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser denn sonst tausend. Und ob wir alle Genüsse, welche die Erde zu bieten vermag, in vollen Zügen unter den denkbar günstigsten Umständen auskosten könnten, sind sie doch auch nicht im Verhältnis von tausend zu eins zu vergleichen mit den Freuden, welche der Dienst Gottes gewährt. Des HERRN Liebe schmecken, sich des Heilands freuen, den seine Gnade uns zum König gesalbt hat, die Verheißungen im Glauben beschauen, die Kraft fühlen, mit der der Heilige Geist die kostbare göttlich Wahrheit dem Herzen nahebringt - das alles sind Freuden, für welche Weltmenschen kein Verständnis haben, welche wahren Gläubigen aber unaussprechlich köstlich sind. Ja, ein Blick in Gottes Liebe ist besser als ein ganzes Menschenleben, verbracht in sinnlichen Vergnügungen. Ich will lieber der Tür hüten (wörtl.: an der Schwelle liegen oder stehen) in meines Gottes Hause denn wohnen in der Gottlosen Hütten. Die geringste Stellung in Verbindung mit dem Haus des HERRN ist besser als der höchste Stand unter denen, die ohne Gott dahinleben. Wenn wir nur an der Schwelle des Heiligtums stehen und einmal einen Blick hineinwerfen dürften, um Jesus zu sehen, so wäre das schon Wonne. Für den HERRN Holz und Wasser tragen, wie die Gibeoniten (Jos. 9,27), oder die Tür öffnen, ist eine größere Ehre als unter den Gottlosen als König herrschen. Jedermann hat seine Liebhaberei; nun wohl, dies ist die unsre. Die geringste Stelle in Gottes Dienst ist noch immer besser als die beste im Dienst des Teufels. Auf Gottes Türschwelle läßt es sich süßer ruhen als auf dem weichsten Daunenkissen in Königsschlössern, wo die Sünde wohnt, ob wir da auch ein ganzes Leben lang schwelgen dürften. Man beachte, wie der Psalmdichter das Heiligtum nennt: meines Gottes Haus. In diesem mein liegt die Süßigkeit. Ist Jehova unser Gott, dann wird uns sein Haus, sein Altar, seine Türschwelle, alles köstlich. Wir wissen aus Erfahrung, dass es außen vor einem Hause, wo Jesus drinnen weilt, noch immer besser ist als in den prunkvollsten Gemächern, wo der Sohn Gottes nicht zu finden ist.

12. Denn Gott der HERR ist Sonne und Schild. Pilger brauchen dies beides, je nach den Umständen; denn die Kälte würde sie lähmen, wenn die Sonne keine Wärme ausstrahlte, und Feinde möchten der Karawane auflauern und sie wohl gar vernichten, wenn der Schild sie nicht schützte. Wenn wir dem Himmel zuwandern, werden wir weder der Erquickung noch des Schutzes ermangeln. Als Israel durch die Wüste zog, hatte es beides, Sonne und Schild, in der feurigen Wolke, welche das Sinnbild der Gegenwart Jehovas war; und auch der Christ findet noch heute beides, Licht und Schutz, in dem HERRN, seinem Gott. Der HERR ist uns eine Sonne für Zeiten des Glücks, ein Schild für Zeiten der Gefahr. Eine Sonne von oben, ein Schild rings umher. Ein Licht, das uns den Weg zeigt, und ein Schild, der die Gefahren, die auf dem Wege drohen, abwehrt. Wohl denen, die mit solchem Geleit reisen; die sonnige und die dunkle Seite des Lebens sind ihnen gleich heilvoll. Der HERR gibt Gnade und Ehre, beides zu seiner Zeit, wie wir es bedürfen, beides in vollem Maße, beides mit unbedingter Gewissheit. Der HERR hat Gnade und Ehre oder Herrlichkeit in unbegrenzter Fülle; Jesus ist beides, voller Gnade und voller Herrlichkeit, und wir werden als sein auserwähltes Volk auch beides als freie Gabe von dem Gott unsers Heils empfangen. Was kann der HERR Größeres geben oder wir je erlangen oder begehren? Er wird kein Gutes mangeln lassen denen, die unsträflich wandeln. (Grundtext) Die Gnade wirkt es in uns, dass wir unsträflich wandeln, und dieses wiederum sichert uns alle versprochenen Segnungen. Wie umfassend ist diese Verheißung! Wohl mag uns dies und jenes, das uns gut dünkt, vorenthalten werden, aber nichts, das wirklich gut ist, auch nicht ein einziges wahres Gut. "Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes." (1. Kor. 3,22 f.) Gott hat alles Gute, es gibt nichts Gutes abgesondert von ihm, und es gibt nichts Gutes, das er für sich zurückbehalten müsste oder uns aus irgendeinem Grunde versagen wird, wenn wir nur bereit sind es zu empfangen. Wir müssen aufrichtig sein und uns keinerlei Bösem zuneigen; und diese Aufrichtigkeit der Gesinnung muss im Leben betätigt werden: wir müssen in Wahrheit und Heiligkeit wandeln, dann werden wir Erben sein über alles, und wenn wir das mündige Alter erreicht haben, wird auch alles in unserm tatsächlichen Besitz sein. Und schon mittlerweile wird der HERR uns je nach unsrer Fähigkeit zu empfangen Gutes austeilen. Dies gilt nicht von einigen wenigen Bevorzugten, sondern von allen Gläubigen.

13. HERR Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verläßt! Hier ist der Schlüssel zu dem Psalms. Der Gottesdienst, von welchem der Psalm redet, ist der des Glaubens, und das Glück des Hauses Gottes ist nur den Gläubigen bekannt. Keiner, der Gott nur mit den Lippen ehrt, kann in dies Geheimnis eindringen. Es muss jemand den HERRN im lebendigen Glauben kennen, sonst kann er weder an Gottes Anbetung noch an seinem Hause, seinem Heile oder seinen Verordnungen und Wegen Wohlgefallen und Herzensfreude haben. Wie steht es mit deiner Seele, lieber Leser?

 

 


Erläuterungen und Kernworte

Zur Überschrift. Dass die Kinder Korah eine Ehrenstellung in Gottes heiligem Dienst einnehmen, daran sehen wir, allen gottesfürchtigen Kindern zum Trost, das Wort des HERRN bewahrheitet, dass der Sohn nicht die Missetat des Vaters tragen solle, wenn er nicht also tue wie sein Vater (Hes. 8,14.17.20). Thomas Pierson † 1633.
  Zum ganzen Psalm vergl. man die schöne Nachbildung von Matthias Jorissen († 1823): "Wie reizend schön, HERR Zebaoth usw."
  Die meisten Ausleger halten den Psalm für ein Pilgerlied, bestimmt, bei oder nach der Wallfahrt zu einem der drei großen Feste gesungen zu werden. Dabei sind aber verschiedene Auffassungen möglich. Es ist von entscheidender Bedeutung, ob man das Sehnen und Schmachten nach dem Heiligtum des HERRN, das der Psalmist V. 3a schildert, mit Luther (und Spurgeon und vielen andern) in die Gegenwart legt, oder ob man die Perfekta des Grundtextes V. 3a von der Vergangenheit deutet, wozu dann V. 3b. 4 als Schilderung der Gegenwart in Gegensatz treten. (Vergl. die 3. Fußnote S. 725.) - Keßler (1899) meint, der Psalm sei überhaupt kein Pilgerlied. Diese Auffassung sei namentlich durch "gebahnte Straßen" V. 6 hervorgerufen, wofür wohl mit Hupfeld nach dem Targum, Vertrauen, zu lesen sei. V. 4 spreche deutlich gegen die Auffassung des Psalms als Pilgerlied. Der Dichter halte sich überhaupt nicht bloß vorübergehend in Jerusalem auf, sondern gedenke dauernd dort zu bleiben. Aber allerdings habe er eine Zeit des Fernseins von Zion hinter sich, wo er unter Frevlern V. 10 weilen musste. Der Psalm handle von der Rückkehr eines Verbannten. Man vergl. den folgenden Absatz, welcher die Grundgedanken des Psalms von diesem Gesichtspunkt aus wiedergibt. - James Millard
  Zum ganzen Psalm. Einst fern vom Hause Gottes, hat der Dichter nunmehr seines Herzens Sehnsucht stillen können und weilt nun fröhlich im zionitischen Heiligtum, das seiner Seele Heimat ist (V. 2-4). Indem er das Glück solcher preist, die ständig hier wohnen dürfen, erinnert er sich derer, die, wie er selbst, nicht immer dieses Glück, wohl aber im Vertrauen auf Jahve dessen segnende Hilfe auch im Leide erfahren durften; solche gelangen schließlich doch nach Zion (V. 5-8). Es folgt ein - wohl beim Heiligtum gesprochenes - Gebet für den König (V. 9.10) und dann nochmals ein Ausbruch inniger Freude über die Heilsgüter, welche jedem zuteil werden, der Jahve nahe bleibt (V. 11-13). Lic. Hans Keßler 1899.
  Die drei Strophen des Psalms, deutlich durch Sela V. 5.9 bezeichnet, sind so miteinander verknüpft, dass jeweilen der Schlußgedanke der einen Strophe in der folgenden wieder angenommen und frei weiter ausgeführt wird. Vergl. V. 5.6 und V. 9.10. G. T. 1882.


V. 2. Wie lieblich sind deine Wohnungen, HERR Zebaoth! Was die Stiftshütte lieblich machte war nicht das Äußere, denn das war sehr gering, gerade wie die Gemeinde Gottes dem Äußern nach unansehnlich ist, sondern das, was darinnen war, die mancherlei goldenen Geräte, die Opfer, der Dienst der Priester und Leviten, und dies alles wiederum nicht in seiner äußeren Herrlichkeit für Auge und Ohr, sondern in seiner Innerlichkeit, seiner sinnbildlichen und vorbildlichen Bedeutung. John Gill † 1771.


V. 3. Meine Seele schmachtet und verzehrt sich usw. Nicht alles, was lieblich ist, ist es in dem Grade, dass wir darob von sehnsüchtigem Verlangen ergriffen werden, und nicht jede Sehnsucht bringt uns zum Verschmachten. So merke denn, wie lieblich die Wohnungen des HERRN mir sind, dass sie meine Seele mit so tiefer Sehnsucht erfüllen! Ja, wenn mir das angeboten würde, was Christus einst vor Augen geführt wurde, dass ich alle Königreiche der Welt und alle ihre Herrlichkeit haben und genießen soll unter der Bedingung, dass ich dann nimmer die Wohnungen des HERRN betreten sollte, so würde diese Entbehrung meine Seele mit tieferem Schmerz erfüllen, als alle jene Genüsse mir Freude bereiten könnten. Sir Richard Baker 1640.
  In dem lebendigen Gott. So wird Gott in den Psalmen nur noch in der ähnlichen Stelle Ps. 42,3 genannt; außerdem noch zweimal, Jos. 3,10 und Hos. 1,10 [2,1] J. J. Stewart Perowne 1864.


V. 4. Der Vogel hat ja ein Haus gefunden usw. Der Sinn ist: Obwohl ein schwaches Vögelein (als besitzloser Levit), habe ich doch, und zwar nicht bloß für mich, sondern auch für die Meinen ein Haus usw., nämlich deine Altäre, gefunden. Dass sich der Hebräer geradezu als einen Vogel bezeichnet, ist bei der üblichen Tiersymbolik nicht ungewöhnlich. Vergl. 1. Samuel 24,15; 26,20; Ps. 11,1; 74,19. Übrigens standen ganz besonders die Vögel im Schutze der Gottheit, vergl. Herodot I, 159. - Kommentar von Prof. Fr. W. Schultz 1888.
  In den Tempeln der Alten nisteten Vögel, ja sie wurden sogar gehegt, selbst bei den Arabern. Der salomonische Tempel wird keine Ausnahme gemacht haben, da es ohnehin schwer ist, Sperlinge und Schwalben von Gebäuden abzuhalten. Die Stacheln, die auf dem Dache des zweiten Tempels angebracht waren, sind wahrscheinlich nicht auf dem salomonischen Tempel gewesen, und wenn auch, so konnten sie das Nisten der Vögel nicht hindern. Prof. Wilhelm Martin Leberecht de Wette 1836.
  Dass die Ausdrücke nicht im eigentlichen Sinn zu verstehen sind von den im Tempel und auf den Altären nistenden Vögeln, zeigt der Ausdruck Haus; auch bemerkt Kimchi († um 1235) mit Recht, dass die Vögel wegen der Verunreinigung im Tempel nicht geduldet sein würden. - hyxrp) (ihre Jungen) deutet Rabbi Arama wohl zu speziell auf die hnIfhuk: yx"r:pIi, d. i. die Söhne der Priester, welche sich beständig beim Tempel aufhielten wie die Vögel im Nest. - Kommentar von Prof. Frdr. Bäthgen 1892.
  Der Psalm spielt hier in lieblicher Weise auf die Fürsorge Gottes auch für die geringsten seiner Geschöpfe an. Er bewundert diese Fürsorge mit Herzenswonne. Gott läßt, hat jemand schön gesagt, auch den wertlosesten Vogel ein Haus und den ruhelosesten Vogel ein Nest finden. Welche Zuversicht und Seelenruhe sollte uns dies geben! Sperling und Schwalbe kennen den nicht, dessen Fürsorge sie genießen; du aber, meine Seele, lass dir nicht an den Wohltaten Gottes genügen, sondern freue dich in dem lebendigen Gott, genieße seine Gemeinschaft! Altes und Neues 1866.
  Deine Altäre ist ein dichterischer Ausdruck für: dein Tempel. Man hat im Ernst darauf hingewiesen, dass Vögel doch auf dem Altar keine Nester hätten bauen können oder dürfen. Aber diese Ausdrucksweise, die einen Teil für das Ganze setzt, ist doch gebräuchlich genug. Wir sagen: "Da geht ein Segel." Was würden wir von jemand denken, der einwerfen würde, ein Segel könne doch nicht gehen? Übrigens mag auch daran erinnert werden, dass in dem Gebiet des Heiligtums wahrscheinlich Bäume wuchsen. J. J. Stewart Perowne 1864.
  Als Hieronymus sich mit einer Anzahl Gleichgesinnter in Bethlehem niedergelassen hatte, da überkam sie ein heimatliches Gefühl, das ihre Herzen mit süßer Wonne erfüllte beim Gedanken an das nun endlich erreichte Ziel ihre Sehnens und Hoffens, ein Gefühl, das sie einzustimmen trieb in den frohlockenden Ruf des Psalmisten: Der Vogel hat usw. Prof. O. Zöckler 1865.
  Mit diesen Psalmworten: Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Nest, da sie Junge hecken, erhob am 17. Juni des Jahres 1722 der Zimmermann Christian David seine Axt und führte den ersten Streich gegen einen Baum auf dem Hutberge, als die Ankömmlinge, Reste der alten böhmischen und mährischen Brüderkirche, dort den Bau des ersten Hauses beginnen wollten. Daraus ist Herrnhut geworden. Nach David Cranz 1722.


V. 5. Was dem Psalmisten dies Haus so lieb und wert machte, war die Gegenwart Gottes. Er begehrte, allezeit in Gottes Gemeinschaft zu weilen, sein ganzes Leben mit Gott zuzubringen. Und warum sollte diese Gesinnung in den helleren Tagen des Evangeliums als etwas Unerreichbares angesehen werden? Träge Mutlosigkeit und der niederträchtige Betrug, dass es bescheiden sei, sich kein so hohes Ziel zu setzen, entkräftet unser geistliches Leben und erstickt alle edlen, hochherzigen Wünsche. John Howe † 1705.
  Die loben dich immerdar. Es ist sonst doch selten, dass Knechte so darauf aus sind, ihren Meister zu loben. Ja, liebe Seele, die Ursache ist nicht sowohl das gute Gemüt der Knechte, als vielmehr die unermessliche Würdigkeit dieses Meisters. Wenn die Knechte Gottes sehen, wie weise er regiert, wie leutselig und fürsorglich er alles einrichtet, wie er sie mehr als Kinder denn als Knechte behandelt - welches Herz könnte dann so undankbar sein, dass es diesen Herrn nicht lobte? Und da die, welche in Gottes Haus wohnen, beständig diese Dinge vor Augen haben, ist es natürlich, dass sie den HERRN auch beständig preisen. Sir Richard Baker 1640.
  Ihr Herz ist ja voller himmlischer Freuden, ihr Gewissen voll göttlichen Trostes. Im Tempel des Heiligen Geistes kann die Musik nimmer schweigen. John Trapp † 1669.


V. 6. In deren Herzen Straßen sind, d. i. die die Wege lieben, die zu deinem Hause führen. Ernest Hawkins 1859.
  Es liegt doch am nächsten, die ohne Artikel erwähnten Bahnen nicht konkret und speziell zu fassen, überhaupt nicht auf die Wege zu Gott und seinem Hause, sei es im sinnlichen oder geistlichen Verstande, zu beziehen, sondern so allgemein, wie es ausgedrückt ist, von Mitteln und Wegen, durch welche innerhalb des Herzensgebietes die Zuführung der Kraft (V. 6a) von Gott zu dem Menschen bewirkt wird, zu verstehen, und nicht sowohl Jes. 40,3, als besonders Ps. 50,13 zu vergleichen. General-Sup. K. B. Moll † 1878.
  Das natürliche Herz ist eine pfadlose Wildnis voller Klüfte und Abgründe. Wenn das Herz durch die Gnade erneuert wird, wird ein Weg gemacht, eine Hochstraße gebahnt für unseren Gott. Jes. 40,3 f. Frederik Fysh 1850.


V. 7. Das Baka-Tal. Man vergleiche Bochim Richt. 2,1.5 und Bekaim 2. Samuel 5,24. Beides wird von den LXX mit Klauqmw/n, Ort der Tränen, übersetzt. Merkwürdig ist noch, wenn man den Psalm mit etlichen Erklärungen in die Zeit Josaphats verlegt, dass das Tal, in welchem sich Josaphats Heer nach dem Sieg über die Moabiter und Ammoniter versammelte und den HERRN lobte oder segnete, daher den Namen das Lobetal, Tal der Beraka, erhielt. (2. Chr. 20,26, vergl. V. 21 f.) Vielleicht haben wir in Berakot (Segen) V. 7 b hier eine Anspielung darauf und hieß eben jenes Tal, das hernach Beraka-Tal, Lobetal, genannt wurde, vordem Bakatal, Tränental. Richard Dixon 1811.
  )kbh qm(, muss wegen des Artikels Eigenname sein und kann nicht wie 23,4 twmlc)yg (finsteres Tal) verstanden werden, obgleich diese Stelle in andrer Beziehung eine treffende Parallele bildet. Jedoch ist die Lage dieser Örtlichkeit nicht mehr sicher nachweisbar. Alle Alten übersetzen "im Tal des Weinens", wie auch die Massora noch erklärt. Theodoret kombiniert dies mit der Ortschaft Bochim (LXX Klauqmw/n) Richter 2,1-5 auf dem Wege von Gilgal bei Jericho nach Bethel. Das Tal konnte seinen Namen führen wegen der Gefahren, die mit dem Passieren verbunden waren, wie Bab el Mandeb = Tor der Todesklage. Auf dem Wege von Jericho nach Bethel zur Rechten von Wady Nawacime musste Robinson am Rande fürchterlicher Abgründe entlanggehen; der Landstrich bot den Anblick einer furchtbaren Wüste: "Es war eine der wahrhaftigsten Wüsten, welche wir bis jetzt besucht hatten." (Hitzig.) Der Dichter will sagen: Auch wenn die Pilger durch ein Tal, wie dies ist, ziehen, so usw. Die meisten Neueren stellen den Namen mit den 2. Samuel 5,24 zusammen und übersetzen "Balsamtal ". Da die Balsamstaude nur auf dürrem Boden wächst, so wäre der Ausdruck eine typische Bezeichnung öder Gegenden. Mir scheint diese Erklärung nicht so viele Vorzüge zu haben, um ihretwegen in Gegensatz zu der gesamten alten Tradition treten zu müssen, zumal da es sehr zweifelhaft ist, ob die My)kb im Tal Rephaim westlich von Jerusalem wirklich Balsambäume waren. Wenn das Klima in der Umgegend von Jerusalem sich seit Davids Zeiten nicht vollständig geändert hat, ist es ganz unmöglich, dass Balsamstauden, die nur in den heißesten Gegenden Arabiens gedeihen, dort sollten fortgekommen sein. Dass die Vokalisation My)kb die Übersetzung "Balsam(tal)" nicht fordert, zeigt die Massora, welche bemerkt, dass ) für h stehe, also = Esra 10,1. Nötigenfalls wäre so zu punktieren. Prof. Friedrich Baethgen 1904.


V. 6.7. Wohl den Menschen, denen in dir Stärke zuteil wird, die Zugänge dazu in ihrem Herzen haben. Wenn sie durch einen Tränengrund ziehen, machen sie ihn zu einem Quellenort usw. Selbst ein solch Tal, dessen Name schon an Weinen erinnert, verwandeln sie, wenn ihr Weg sie hindurchführt, in einen Quellenort, der liebliche Auen hat und einen befruchtenden Quell von sich ausgehen lässt, als wären seine Tränen durch sie oder um ihretwillen zu einem Lebenswasser geworden; denn sie ziehen, wie sonst schon immer, so besonders, wenn sie nach Jerusalem pilgern, zu dem HERRN, ihrer Kraft, und wissen ihn auch vermöge der Straßen des Glaubens und der Hingebung zu finden. Sachlich vergl. man Hos. 2,17 [15] - Kommentar von Prof. Fr. W. Schultz 1888.


V. 8. Sie erscheinen, oder wie andre übersetzen: ihrer jeglicher erscheinet vor Gott zu Zion. Nicht einer ist auf dem Wege umgekommen, keiner ist von wilden Tieren zerrissen oder von den lauernden Räubern weggeschnappt worden, und keiner hat den Mut verloren und ist umgekehrt. Alle sind versammelt, Junge und Alte, Schwache und Starke; alle antworten beim Namenaufruf und geben der Güte des HERRN Zeugnis, die sie herauf und hindurch gebracht hat. William Makelvie 1863.


V. 9. Zwei Gedanken von großem praktischem Wert liegen in dieser kurzen Bitte: die Empfindung der göttlichen Erhabenheit und das Bewusstsein der engen Verbindung mit Gott. Als Jehova der Heerscharen ist Gott allmächtig an Kraft, als der Gott Jakobs ist er unbegrenzt an Erbarmen und Huld für die Seinen. Altes und Neues 1866.


V. 11. Ich will lieber an der Schwelle liegen usw. Ich glaube nicht, dass die übliche Auffassung dieser Worte, nämlich: ein Türhüter sein, ihrem Sinn entspricht, weil der Psalmdichter offenbar davon redet, dass er einer sehr geringen Stellung im Hause Gottes den Vorzug gebe, während die Stellung des Türhüters im Morgenland ein geachteter Vertrauensposten ist. Dagegen an der Schwelle liegen ist dem Morgenländer ein Bild tiefer Erniedrigung. Sieh den Zöllner (Lk. 18,13); er stellt sich an der Schwelle des Tempels hin. Sieh den Bettler; er sitzt oder liegt an der Schwelle der Tür, bis man seine Bitte erfüllt. Joseph Roberts 1844.
  Vom Tür Hüten, welches ein hohes Ehrenamt war, ist hier ebensowenig die Rede wie vom lange (Luther) Wohnen. Es ist der Gegensatz des Wohnens und des an der Schwelle Liegens, Ersteres in der Doppelbeziehung zum Hause Gottes und zu den Zelten des Frevels, Letzteres nicht im Sinne des Verachtetseins (Augustin) infolge gewaltsamer Niederstreckung (LXX) oder als Liegen vor der Tür wie Lazarus (Hengstenberg), sondern als Ausdruck persönlicher Empfindung von dem hohen Gut, Glück und Wert der Zugehörigkeit zum Gotteshause, deren geringstes Maß und äußerste Grenze der Psalmist höher achtet und mehr liebt als jede Fülle außerhalb derselben. Vor der Seele des Psalmisten steht das anbetende Liegen auf der Schwelle; er spricht aber nur seine Auffassung und Empfindung dieses Verhältnisses aus, nicht seine geschichtliche Stellung und Lage. Gen-Sup. K. B. Moll † 1878.
  Im nachexilischen Jerusalem waren Korahiten Torwärter des Tempels (1. Chr. 9,17; Neh. 11,19, vergl. 2. Könige 22,4), und der Chronist belehrt uns dort, dass sie schon in Davids Zeit Hüter der Schwellen des (über der Bundeslade auf Zion errichteten) Zeltes und in noch älterer, der mosaischen Zeit, an dem Lager Jehovas als Wächter des Eingangs angestellt waren. Diesen altherkömmlichen Beruf, auf welchen Ps. 84,11 angespielt wird, behielten sie bei den neuen Einrichtungen Davids; zwei korahitischen Familienzweigen nebst einem meraritischen wurde der Pförtnerposten am Tempel zugeteilt (1. Chr. 26,1-19). - Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Als der Kirchenvater Augustin († 430) zum Bischof erwählt wurde, schrieb er darüber: "Ich habe nicht Bischof werden wollen, habe nie danach gestrebt, es zu sein! Ich will lieber der Tür hüten in meines Gottes Hause denn lange wohnen in den Palästen der Gottlosen. Ich habe nicht begehrt, obenan zu sitzen an der Tafel Gottes, sondern habe den untersten Ort erwählt. Aber es hat dem Herrn gefallen, zu mir zu sagen: Freund, rücke hinauf, und der Knecht soll dem Herrn nicht widersprechen." Th. Zinck im Freimund 1887.
  Haus Gottes - Hütten des Frevels. Man beachte den Gegensatz! Die Freuden der Sünde sind nur für eine kurze Zeit; die Welt vergeht mit ihrer Lust. Arthur Pridham 1869.


V. 12. Gott der HERR ist eine Sonne. Diese Worte enthalten schon eine auffallende und bedeutsame Wahrheit, wenn wir an die Sonne nur in ihrer bekannteren Eigenschaft als Quelle des Lichtes und der Wärme denken. Aber welche neue Kraftfülle wird diesem großartigen Sinnbild gegeben, wenn wir uns von der Sternkunde belehren lassen, dass die Sonne der Herd der Anziehungskraft ist, und wenn wir ferner dazunehmen, dass die Sonne die Urquelle jedweder in der Welt vorhandenen Kraft ist. Der Wind führt den Handel aller Nationen über das tiefe Weltmeer; aber die Hitze der Sonne hat die Luft verdünnt und dadurch den Wind in Bewegung gesetzt. Der Strom leiht uns die Kraft seines Gefälles, dass sie uns das Korn mahlt, die Spindeln dreht, die Webstühle treibt, die Schmiedehämmer führt; aber er kann das nur tun, weil die Sonne aus dem Ozean den Dunst aufzog, der dann wieder als Regen oder Schnee auf die Berge fiel und nun als Fluß wieder dahin zurückkehrt, wo er hergekommen war. Die Ausdehnungskraft des Dampfes treibt unsre Maschinen; aber die Kraft, mit welcher er arbeitet, ist in den Kohlen eingeschlossen (den versteinerten Überresten ausgestorbener Wälder) oder dem Holz der jetzt unsre Hügel schmückenden Wälder. Sowohl jene vorgeschichtlichen als diese jetzt noch grünenden Wälder haben ihr Vorhandensein der Sonne zu verdanken; denn es ist die den Sonnenstrahlen innewohnende chemische Kraft, welche den Kohlenstoff der Luft freigemacht und als Kraft für zukünftige Zeiten aufgespeichert hat. Das Tier übt durch Zusammenziehung der Muskeln eine Kraft aus; es entnimmt diese Kraft den Pflanzen, von welchen es sich nährt, die Pflanze aber bekommt die Kraft von der Sonne, von deren Strahlen ihr Wachstum abhängt. Sooft du den Arm aufhebst oder einen Schritt machst, zehrst du von der Kraft, welche die Sonne dir gegeben hat. Wenn du mit der Eisenbahn fährst, so ist es die Kraft der Sonne, welche dich mit solcher Schnelligkeit durch die Lande führt. Ob ein mildes Lüftchen deine nach Kühlung lechzenden Wangen fächelt oder die unwiderstehliche Windsbraut ganze Städte dem Boden gleichmacht - beide stehen im Dienst der Sonne. Welch ein treffendes Sinnbild ist doch die Sonne von dem, in welchem wir leben, weben und sind! Prof. Green.
  Gott der HERR ist ein Schild: für unsre Personen. "Tastet meine Gesalbten nicht an und tut meinen Propheten kein Leid!" (Ps. 105,15) "Der HERR behüte deinen Ausgang und Eingang!" "Er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest." "Hast du wohl achtgehabt auf meinen Knecht Hiob?" fragt Gott den Satan. "Ja," erwidert der Satan, "hast nicht du selbst ihn und sein Haus und alles, was er hat, rings umher verwahrt?" (Hiob 1,8 ff.) Ja, liebe Brüder, Gott der HERR ist ein Schild! Er ist ein Schild auch unsers geistlichen Lebens. Der Haß und die Bosheit Satans richten sich auf uns, wenn wir unter Gottes Einfluß stehen. "Simon, Simon," sagte unser Heiland, "siehe, der Satanas hat euer begehrt, dass er euch möchte sichten wie den Weizen." "Ich aber," fügte er hinzu, "habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre." (Lk. 22,31 f.) Hätte dieser Schild den Petrus nicht gedeckt, so wäre er verloren gewesen. Ja, der HERR wird auch ein Schild sein für das, was du besitzest. "Hast du nicht rings umher verwahrt alles, was er hat?" Wiewohl Hiob eine kleine Zeit schwer geprüft ward, wurde sein Vermögen doch währenddessen nur zinstragend angelegt; nach und nach ward es ihm mit hundert Prozent Zinsen zurückgegeben, und außerdem gewann er einen großen Zuwachs an Erkenntnis und Gnade. Matthew Wilks † 1829.
  Diese Worte tönen wie eine Stimme vom Himmel, die alle Zweifel und Befürchtungen bei denjenigen, welche ihr glauben und folgen, beschwichtigt. Bin ich in Finsternis und fürchte ich, dass ich den rechten Weg nicht finden werde? Mache die Augen auf, meine Seele, und blicke auf zu dem Vater des Lichts: Gott der HERR ist eine Sonne, deren beständig leuchtende Strahlen deine Schritte leiten werden. Oder liegt auf meinem Gemüt ein Nebelschleier? Wohlan, Gott, der da hieß das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, kann einen hellen Schein in das Herz geben; er kann im Herzen den Tag anbrechen und den Morgenstern aufgehen lassen und also unsre Füße auf den Weg des Friedens leiten. Enthüllt dasselbe Licht, welches mir den Weg erhellt, auch die Feinde und Gefahren, welche mich bedrohen? Höre, meine Seele: Gott der HERR ist ein Schild! Licht und Kraft sind in ihm vereinigt; niemand kann unter seiner Führung verunglücken, niemand hat irgendwelchen Grund, mutlos zu werden. Damit tröstete er Abraham: Fürchte dich nicht, ich bin dein Schild (1. Mose 15,1). Seufze ich unter dem Gefühl, wie wenig ich für das Himmelreich passe? Dann stärke dies Wort. meine Seele: Der HERR gibt Gnade. Bin ich einer so herrlichen Seligkeit gänzlich unwert? Sie ist ein Geschenk seines freien Liebeswillens: Der HERR gibt Herrlichkeit. Bin ich bedrückt von tausend Mängeln, die gebieterisch Abhilfe fordern? Was könnte noch hinzugefügt werden zu der Verheißung: Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen? Was mir schlecht ist, begehre ich doch nicht; und nichts, das mir gut ist, soll mir versagt bleiben. Hier quillt dir, meine Seele, eine reiche Quelle, an der du deinen brennenden Durst völlig stillen kannst. Deine weitgehendsten Wünsche sollen befriedigt werden und dein Gemüt für immer zur Ruhe kommen. Daniel Wilcox † 1733.


Homiletische Winke

V. 2. 1) Warum bezeichnet der Psalmdichter das Heiligtum als Wohnungen? Weil er a) das Allerheiligste, b) das Heilige, c) den Vorhof und den ganzen Bezirk des Heiligtums einschließen will. Jeder dieser Teile ist ihm lieblich (geliebt und liebenswert). 2) Warum nennt er das Heiligtum die Wohnungen des HERRN Zebaoth? Um a) die Verbindung, in welcher das Heiligtum mit dem großen Weltall steht, aber auch b) die einzigartige Stellung desselben im Weltall zu bezeichnen. Gott ist überall gegenwärtig, doch besonders an dieser Stätte. 3) Warum nennt er es lieblich? a) Weil in den hier sich entfaltenden göttlichen Eigenschaften (Herablassung, Liebe, Gnade, Erbarmen usw.) sich Gottes Lieblichkeit in besonderer Weise offenbart. b) Wegen des Zweckes, zu welchem Gott da wohnt: um die Sünder selig zu machen und die Gläubigen zu erquicken. George Rogers 1874.
V. 3. 1) Der Gegenstand der Sehnsucht: a) das Haus des HERRN, b) der Herr des Hauses: dass Gott in uns lebe und wir in ihm. 2) Die Ursache der Sehnsucht: dass der Gottesmann vom Hause Gottes ausgeschlossen war. David sagt nicht: "O wie ich mich nach meinem Palast, meiner Krone, meinem Zepter, meiner Königsherrschaft sehne!" sondern: "O wie ich mich sehne, zu Gottes Haus zurückkehren zu dürfen!" 3) Die Stärke der Sehnsucht. a) Es war ein tief innerliches Verlangen: meine Seele verlangt, b) ein schmerzliches, aufreibendes Verlangen: schmachtet, verzehrt sich, c) ein seliges Verlangen: jubeln dem lebendigen Gott zu (Grundtext), d) ein alles beherrschendes Verlangen: Leib und Seele. George Rogers
  Den Wert des Hauses Gottes erkennt man, 1) wenn man es fleißig besucht, doch 2) besser, wenn man hernach eine Zeitlang davon entfernt sein muss, und 3) am besten, wenn man dann wieder darin heimisch sein darf. George Rogers
V. 2-4. Die Namen, welche Gott in diesen Versen beigelegt werden: Herr Zebaoth, der lebendige Gott, mein König und mein Gott, sind der Betrachtung wert. George Rogers
V. 4. 1) Die Beredsamkeit des Kummers. David beneidet in der Verbannung die Sperlinge und die Schwalben, die ihre Nester am Hause Gottes gebaut hatten, mehr als den Absalom, der ihm Palast und Thron geraubt hatte. 2) Die Findigkeit des Gebets: Warum sollten Sperlinge und Schwalben deinen Altären näher sein als ich, HERR Zebaoth, mein König und mein Gott? "Fürchtet euch nicht, ihr seid besser denn viel Sperlinge!" (Lk. 12,7.) George Rogers
V. 5. 1) Was begehrt der Psalmist? Im Hause Gottes wohnen zu dürfen. Manche Vögel fliegen über das Haus Gottes hin, andre lassen sich gelegentlich darauf nieder; etliche aber bauen ihre Nester am Hause Gottes und hecken daselbst ihre Jungen. Dies ist das Vorrecht, welches der Psalmist begehrt. 2) Warum begehrt er dieses Vorrecht? Weil diejenigen, die im Hause Gottes ihr und ihrer Kinder geistliches Heim haben, so glückliche Leute sind. 3) Worin erweist sich das Glück derselben? In dem beständigen Lobpreisen. "Die loben dich immerdar." a) Sie haben Gott für viel Gutes zu danken. b) Sie finden in Gott selbst viel des Preisens Würdiges. George Rogers
V. 6-8. Die Beschreibung der gesegneten Menschen. 1) Sie hatten ein ernstes Verlangen, ja den festen Entschluss, die Reise nach dem Heiligtum zu unternehmen, wiewohl sie fern davon wohnten, V. 6. 2) Ihre Wallfahrt ist beschwerlich, doch nicht ohne reiche Erquickungen, V. 7. 3) Sie schreiten beständig fort, bis sie das Ziel erreicht haben, V. 8. Thomas Manton † 1677.
V. 7. Wie das Tränental ein Bild unsrer Trübsale ist, so sind die Quellen, die darin aufsprudeln, ein Bild von dem immerströmenden Born des Heils und des Trostes. (Vergl. Joh. 4,14 u. Jes. 12,3.)
  1) Das Jammertal. a) Es wird viel begangen; b) es ist für Fleisch und Blut beschwerlich; c) doch ist es sehr gesund, d) ganz sicher und e) sehr fruchtbar. 2) Was macht der Glaube der Pilger aus diesem Tränental? Einen Quellort. a) Wir können auch in der tiefsten Trübsal Trost erlangen. b) Doch muss er erarbeitet werden. 3) Was gibt Gott vom Himmel dazu? Auch deckt es ein Frühregen mit Segen. Alles kommt von Gott; eigene Anstrengung nützt uns nichts ohne Gottes Segen.
V. 8. 1) Fortschritt: Sie gehen. a) Gottes Kinder können nicht stillstehen. b) Sie dürfen nicht zurückweichen. c) Sie sollen stets vorwärts gehen. 2) Kräftigung: Von Kraft zu Kraft. a) Von einer Freude zur andern. b) Von einer Pflichterfüllung zur andere. c) Von einer Tugend zur andern. d) Von einem Maß der Gnade zum andern. Sie wachsen an Glauben, Tugend, Erkenntnis usw. 3) Vollendung: Sie erscheinen vor Gott zu Zion. George Rogers
V. 9. Weder 1) das Gebet, noch 2) die Hilfe, noch 3) die Gnade sind auf das Heiligtum beschränkt. Zu 1): In der Verbannung sagt der Psalmist: Höre mein Gebet! Zu 2): Der HERR der Heerscharen ist auch dort, wo der Psalmist betet, so gut wie im Heiligtum (V. 2). Zu 3): Auch in der Einöde ist der Bundesgott, der Gott Jakobs. George Rogers
  Auf Gottes Namen gestützte Erhörungsgründe: 1) Gott ist Jehova, der lebendige, allweise, allmächtige, gnädige und treue Gott. 2) Er ist der Gott der Heerscharen, dem alles zu Gebot steht. Er kann Engel senden, Teufel im Zaum halten, fromme Menschen anregen, böse übermeistern und alle Mächte und Kräfte beherrschen. 3) Er ist der Gott Jakobs, des Auserwählten, wie dieser ihn im Traumgesicht sah; der Gott Jakobs in dessen Verbannung, dessen Gebetskampf (ein Gott, der sich durch Flehen überwinden lässt), der Gott, der Jakobs Sünde vergibt und der Jakob und seinen Samen nach ihm bewahrt.
V. 11. 1) Eine Gegenüberstellung von Stätten. Ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser usw. Wieviel mehr ein Tag im Himmel! Und was muss dann eine Ewigkeit im Himmel sein! 2) Eine Gegenüberstellung von Ständen: Ich will lieber ein Türhüter sein usw. Lieber der Kleinste in der Gemeinde des HERRN, als der Größte in der Welt. Wenn nach Milton (Verl. Paradies I, 263) des Satans erster Gedanke in der Hölle war: "Besser der Hölle Fürst als Knecht dem Himmel sein," so war das nur sein erster Gedanke. George Rogers
  1) Tage in den Vorhöfen Gottes. Tage des Hörens, Bereuens, Glaubens, Anbetens, Genießens der Gemeinschaft, der neubelebenden Kraft des Heiligen Geistes usw. 2) Wie köstlich sind sie? Besser als tausend Tage der irdischen Lust, des Gelderwerb Erntens, Siegens, Reisens in den schönsten Gegenden usw. 3) Warum sind sie so köstlich? Sie bieten schon jetzt mehr Vergnügen und Vorteil und bereiten uns besser für die Zukunft und den Himmel. Beschäftigung, Gesellschaft, Genuss, Nutzen, alles ist besser.
V. 12. 1) Was ist Gott den Seinen? Sonne und Schild. a) Quelle alles Guten, b) Schutz vor allem Bösen. 2) Was gibt Gott den Seinen? a) Gnade hier, b) Herrlichkeit hernach. 3) Was enthält Gott den Seinen vor? Alles, was nicht gut ist. Wenn er uns Gesundheit, Reichtum oder das freundliche Leuchten seines Antlitzes versagt, so geschieht es deshalb, weil sie uns zu der betreffenden Zeit nicht gut wären. George Rogers
V. 13. Wieviel glücklicher ist das Leben des Glaubens als ein Leben fleischlicher Genüsse, frommer Gefühlserregungen, des Selbstvertrauens, des Vertrauens auf allerlei Zeichen, auf Menschen usw.!
  1) Was allein einen Menschen glücklich macht: wenn er sich auf den HERRN verlässt a) in Bezug auf alles, b) zu aller Zeit, c) in allen Lagen. 2) Das Glück, das in dem einen enthalten ist: Gott selbst wird unser Teil: a) mit seiner Gnade, die vergibt, b) seiner Macht, die uns schützt, c) seiner Weisheit, die uns leitet, d) seiner Treue, die uns erhält, und e) seiner Allgenügsamkeit, die allen unseren Mangel deckt. 3) Die Gewissheit dieses Glückes. Bestätigt a) aus der Erfahrung des Psalmisten, b) durch seine feierliche Berufung auf Gottes Majestät: HERR Zebaoth. George Rogers
V. 12.13. "Ein Fest für die Aufrichtigen." Predigt von C. H. Spurgeon. Siehe Schwert und Kelle 2. Jahrg. S 337, Baptist. Verlag, Kassel, 1882.

Fußnoten

1. Man vergl. jedoch hierzu die 1. Fußnote zu Ps. 42.

2. Thomas Becket, ermordet 1170, der berühmte Märtyrer des englischen Ultramontanismus.

3. Nnr heißt zunächst schreien überhaupt, vergl. Spr. 1,20; 8,3. Es wird im piel allerdings immer vom freudigen Aufschreien gebraucht; doch heißt das kal Klgl. 2,19 Klageschreie ausstoßen. (Man vergl. hfn/ri Freuden und Klagegeschrei.) Nnr könnte also doch nach der Parallele des 1. Versgliedes, und besonders da es hier, wie sonst die Verba des Sehnens, mit ... konstruiert ist (Hupf.) auch als klagendes Rufen der Sehnsucht gedeutet werden. De Wette deutet es an unserer Stelle mit psychologischer Feinheit: zu jemand hin jubeln mit Sehnsucht. - Aber sind die beiden Vershälften überhaupt als Schilderungen gleichzeitiger Seelenbewegungen zu fassen? Es liegt doch näher, mit Beachtung des Tempuswechsels nach Bäthgen zu übersetzen: Meine Seele hat geschmachtet und sich verzehrt nach den Vorhöfen des HERRN (als ich noch fern war). Mein Herz und Leib jubeln (aber jetzt) dem lebendigen Gott zu. Damit verändert sich die ganze Auffassung des Psalms. Sehr natürlich schließt sich dann V. 4 an. Mit Vogel und Schwalbe bezeichnet der Sänger dann bildlich unmittelbar sich selbst.

4. Wörtl.: Das Baka-Tal. )kb ist entweder gleich hkb Weinen, so dass mit allen Alten Tränental (vergl. Luther: Jammertal) zu übersetzen wäre, oder es ist der Singular My)kb von 2. Samuel 5,23 f. und Name eines Balsambaumes, der wohl ebenfalls mit Anspielung auf ......., Weinen, so genannt ist (Tränenbaum), weil er das Balsamharz gleichsam weint. Der Balsam wächst meist in dürren Tälern (wiewohl auch in dem fruchtbaren Rephaimtal westlich von Jerusalem, 2. Samuel 5,22 ff.); daher wäre hier das Balsamtal typische Bezeichnung eines dürren Tales. - Der Name bezeichnet ohne Zweifel eine bestimmte, von uns nicht mehr sicher nachzuweisende Örtlichkeit; doch will der Dichter jedenfalls sagen: Auch wenn die Pilger durch ein Tal, wie dieses ist, ziehen, machen sie es zum Quellort.