Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon
PSALM 22 (Auslegung & Kommentar)
Überschrift
Ein Psalm Davids, vorzusingen (wörtlich: dem Sangmeister). Dieser einzigartige Psalm war dem Meister des heiligen Gesanges übergeben: kein Geringerer durfte sich an die hohe Aufgabe wagen, dies Lied in Töne zu setzen. Es gilt, dass auch wir unser bestes Können einsetzen, wo Jesus der Gegenstand unserer Lieder ist. - Die andern Worte der Überschrift sind rätselhaft. Die meisten Erklärer übersetzen: "Auf (die Weise): Die Hirschkuh der Morgenröte", verstehen also darunter die Angabe einer Volksweise, nach der das Lied gesungen werden sollte. Die Hirschkuh der Morgenröte ist nach orientalischem Sprachgebrauch die aufgehende Sonne, deren Strahlen mit den Hörnern der Gazelle, und deren Schnelligkeit mit der Behändigkeit dieses Tieres verglichen wird. Viele finden in der Hirschkuh eine Anspielung auf den Gegenstand des Psalms, nämlich auf den verfolgten Messias, was auch in der deutenden Übersetzung Luthers: "Von der Hirschkuh, die frühe gejagt wird" zum Ausdruck kommt.
Inhalt. Dieser Psalm ist vor allen andern der Kreuzespsalm. Es mag sein, dass unser Heiland ihn am Kreuz Wort für Wort wiederholte. Es zu behaupten, würde zu kühn sein; aber selbst wer den Psalm nur oberflächlich durchliest, kann erkennen, dass dem also gewesen sein mag. Beginnt der Psalm doch mit den Worten: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!" und sein Schluss: Er (Gott) hat’s getan oder vollbracht, erinnert unwillkürlich all Jesu Ruf: Es ist vollbracht. An herzerschütternden Klagelauten, die aus nicht zu ergründenden Tiefen unsagbaren Wehs aufsteigen, hat dieser Psalm seinesgleichen nicht. Er ist eine fotografisch getreue Darstellung der schwersten Stunden unseres Herrn, der Bericht über seine Sterbeseufzer, das Tränenkrüglein seiner letzten Tränen und das Denkmal seiner Freude in den Stunden, da er seinen Geist aushauchte. In beschränktem Sinne ist es wohl wahr, dass uns David und seine Leiden in dem Psalm entgegentreten; aber wie der Glanz der Sterne vor dem Sonnenlicht verschwindet, so wird, wer Jesus in diesem Psalm erblickt, David kaum sehen, noch zu sehen begehren. Wir haben vor uns eine Beschreibung sowohl der Dunkelheit als auch der Herrlichkeit des Kreuzes, der Leiden Christi und der Herrlichkeit danach (1. Petr. 1,11). O dass es uns gegeben werden möge, gläubig zum Kreuze zu nahen und diesen erhabenen Anblick recht zu schauen. Wir sollten den Psalm mit großer Ehrfurcht lesen. Lasst uns, wie Mose beim brennenden Busch, unsere Schuhe ausziehen; denn wenn irgendwo in der heiligen Schrift unsere Füße an heiliger Stätte stehen, dann hier in diesem Psalm.
Einteilung. V. 2-22 sind ein höchst klägliches Geschrei um Hilfe, V. 23-32 dagegen ein köstlicher Vorgeschmack der Errettung. Der erste Abschnitt kann beim 11. Vers noch einmal geteilt werden, da der edle Dulder V. 2-11 Gott auf Grund des innigen Bundesverhältnisses anruft, der eben so dringende Hilferuf V. 12-22 dagegen aus der Augenscheinlichkeit der Gefahr abgeleitet wird.
Auslegung
2. | Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich heule, aber meine Hilfe ist ferne. |
3. | Mein Gott, des Tages rufe ich, so antwortest du nicht; und des Nachts schweige ich auch nicht. |
4. | Aber Du bist heilig, der du wohnst unter dem Lob Israels. |
5. | Unsre Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfest du ihnen aus. |
6. | Zu dir schrieen sie und wurden errettet; sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden. |
7. | Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und Verachtung des Volks. |
8. | Alle, die mich sehen, spotten mein, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf: |
9. | "Er klage es dem Herrn, der helfe ihm aus und errette ihn, hat er Lust zu ihm." |
10. | Denn Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen; du warst meine Zuversicht, da ich noch an meiner Mutter Brüsten war. |
11. | Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an; Du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an. |
2. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Das war der welterschütternde Ruf auf Golgatha, den uns Matthäus und Markus möglichst ähnlich dem Originallaut der aramäischen Mundart überliefert haben: ynitIaq:ba$a)mfl: [yhilf)E yhilf)E] yli)" yli)" Eli, Eli (oder: Elohi, Elohi) lema schebaktani. Die Juden spotteten, aber die Engel beteten an, als Jesus in dem unvergleichlich bittern Weh seiner Seele diesen Ruf ausstieß. Wir sehen unseren hochgelobten Heiland ans Fluchholz genagelt, in der äußersten Not; und was nehmen wir da wahr? Haben wir Ohren zu hören, so lasst uns hören; haben wir Augen zu sehen, so lasst uns sehen! Lasst uns mit heiligem Staunen stillstehen und auf die Lichtstrahlen achten, die wie Blitze inmitten der schrecklichen Finsternis jener mittäglichen Mitternacht aufflammen. Zuerst strahlt der Glaube unseres Heilands hervor und fordert uns zu ehrfurchtsvoller Nachahmung auf. Mit beiden Händen hält Jesus sich an seinem Gott fest, indem er zweimal ausruft: Mein Gott, mein Gott. Der Geist der Kindschaft erwies sich mächtig in dem leidenden Menschensohne; dass er an Gott ein Anrecht habe, dass Gott sein Gott sei, darüber empfand er keinen Zweifel. Ach, dass wir es recht von ihm lernten, uns so an den Gott, der uns die Trübsal sendet, anzuklammern! Auch misstraute der große Dulder nicht im geringsten der Macht Gottes, ihn zu erhalten; denn der hier gebrauchte Gottesname El bezeichnet Gott als den Starken, Mächtigen. Er weiß, dass Jahwe sein allgenugsamer Helfer und Beistand ist; darum wendet er sich an ihn, gemartert von der Seelenangst des Kummers, doch nicht von der Pein des Zweifels. Er möchte wissen, warum er so verlassen ist, er stellt diese Frage und wiederholt sie mit andern Worten; aber bei alledem misstraut er weder der Macht noch der Treue Gottes. Was für eine Frage ist das doch, die wir hier vor uns haben: Warum hast du mich verlassen? Auf jedes Wort dieses traurigsten aller je erhörten Klagerufe müssen wir einen Nachdruck legen. Warum? Was ist die Ursache dieser seltsamen Tatsache, dass Gott seinen eingeborenen Sohn zu solcher Stunde, in solchem Zustand allein lässt? Er hatte doch keine Veranlassung dazu gegeben, warum war er denn verlassen? Hast du: Es ist geschehen! Der Heiland empfindet die schreckliche Wirklichkeit, während er die Frage ausspricht. Tatsache ist es, darüber kann kein Zweifel sein; aber wie rätselhaft ist das! Es war nicht etwa die drohende Gefahr, verlassen zu werden, was unserm Bürgen den lauten Schrei auspresste, sondern er erfuhr dies Verlassensein in voller Wirklichkeit. Du. Ich kann’s verstehen, warum der verräterische Judas und der furchtsame Petrus hinweg sind; aber Du, mein Gott, mein allezeit getreuer Freund, wie kannst du mich verlassen? Das ist das Schlimmste von allem, ja schlimmer als alles andere zusammen. In der Hölle selbst brennt von allen Höllenflammen diese am wütendsten, dass die Seelen von Gott geschieden sind. Verlassen: Hättest du mich gezüchtigt, ich könnte es wohl ertragen, denn dein Antlitz würde mir dennoch leuchten; aber mich gänzlich zu verlassen! O warum das? Mich: deinen unschuldigen, gehorsamen, leidenden Sohn, warum überlässt du mich dem Verderben? Ein Blick der Buße auf uns selbst und ein Blick des Glaubens auf Jesus als den für uns Gekreuzigten wird uns diese Frage um besten lösen. Jesus ist von Gott verlassen, weil unsere Sünden uns von Gott geschieden hatten.
Fern von meiner Hilfe (verhallen) die Worte meines Stöhnens. (Wörtl.) Der Mann der Schmerzen hatte gebetet, bis ihm die Sprache ausging 1; er konnte nur noch schreien und stöhnen, wie es Menschen etwa in schwerer Krankheit tun, oder wie ein verwundetes Tier, das vor Schmerz brüllt. Und dennoch war’s, als verhallte sein Geschrei ungehört, fern von seiner Hilfe, d. i. von seinem Helfer (Bäthgen). Bis zu welch äußerstem Grad des Wehs wurde unser Herr und Meister getrieben! Welch starkes Geschrei mit Tränen (Hebr. 5,7) muss es gewesen sein, das ihn so heiser machte, dass er nicht mehr sprechen konnte! Wie hoch muss seine Angst gestiegen sein, als er seinen geliebten Vater fern stehen sah, weder Hilfe gewährend noch auch, allem Anschein nach, auf sein Gebet merkend. Das war Anlass genug, ihn zum Stöhnen zu bringen. Dennoch war dies alles wohlbegründet, wie alle, die sich in Jesus als ihrem Stellvertreter bergen, gar wohl wissen.
3. Mein Gott, des Tages rufe ich, so antwortest du nicht, und des Nachts (rufe ich), ohne dass mir (durch Erhörung) Ruhe wird. (Grundtext) Wenn unsere Gebete etwa ungehört zu verhallen scheinen, so ist das keine unerhörte Prüfung: Jesus hat sie vor uns durchgemacht; und es ist bemerkenswert, dass er trotzdem im Glauben an Gott festhielt, wie das sein erneuter Ruf "Mein Gott" zeigt. Anderseits schwächte sein Glaube nicht die Dringlichkeit seines Bittens ab; denn inmitten des Getümmels und der Gräuel jenes Schreckens-Tages schrie er eben so unablässig zu Gott, wie er in der düstern Nacht Gethsemanes in seiner Todesangst mit Gott gerungen hatte. Unser Heiland hielt an am Gebet, wiewohl ihm keine tröstliche Antwort zuteil wurde. Darin hat er uns ein Beispiel der Befolgung seiner eigenen Worte gegeben, dass man allezeit beten und nicht müde werden solle (Lk. 18,1). Kein Tageslicht ist zu grell und keine Mitternacht zu dunkel zum Beten; und keine Verzögerung oder scheinbare Verweigerung der Antwort, so schmerzlich beides sein mag, sollte uns verleiten, vom dringenden Flehen abzulassen.
4. Aber Du bist heilig, der du wohnest unter dem Lob Israels. So böse immer die Dinge scheinen mögen, in dir, Gott ist dennoch nichts Böses! Wir sind sehr geneigt, von Gott Schlimmes zu denken oder zu reden, wenn seine Hand schwer auf uns drückt; aber nicht so der allezeit gehorsame Sohn. Er weiß zu wohl, wie gut sein Vater ist, als dass er sich durch äußere Umstände verleiten lassen könnte, an seiner Heiligkeit, d. i. an seiner unverbrüchlichen Wahrheit und makellosen Treue, zu zweifeln. Es ist kein Unrecht (Ps. 92,16) an Jakobs Gott, er verdient keinen Tadel. Er tue, was ihm beliebt; er ist dennoch würdig, gepriesen zu werden und über den Lobgesängen Israels, seines auserwählten Volkes, zu thronen. (Grundtext Man vergl. Gottes Thronen über den Cherubim Ps. 99,1; 80,2. "Die Loblieder, welche als Denkmäler seiner Heilstaten in Israel ertönen, sind wie Cherubsfittiche, auf welchen seine Gegenwart in Israel schwebt." Delitzsch.) Wenn auf unser Gebet keine Antwort kommt, geschieht es nicht, weil etwa Gott untreu wäre, sondern aus irgendwelchen anderen guten, wichtigen Gründen. Können wir keinen Grund für die Verzögerung entdecken, so müssen wir das Rätsel ungelöst lassen; aber wir dürfen nicht Gott Beleidigungen ins Angesicht schleudern, um dadurch eine Antwort zu erzwingen. Der Betrübte, der in unserm Vers redet, erkennt anbetend die Heiligkeit Gottes an; doch scheint er, während er dies tut, sinnend darüber zu staunen, wie der heilige Gott ihn allein lassen und zu seinem Schreien schweigen könne. Gerade mit der Heiligkeit des Herrn scheint er uns seine Klage zu begründen: Du bist doch heilig; warum lässt du denn deinen Heiligen in dieser Stunde der höchsten Angst so ganz außer Acht? Wir dürfen die Heiligkeit Gottes nicht in Zweifel ziehen; wohl aber dürfen wir aus ihr Schlüsse ziehen und uns in unseren Bitten auf sie berufen.
5. Auf dich vertrauten unsere Väter; sie vertrauten, und du befreitest sie. (Wörtlich.) Das ist die goldene Lebensregel aller, die zu der auserwählten Familie gehören. Dreimal nacheinander wird es (V. 5-6) hervorgehoben: sie vertrauten, sie vertrauten, sie vertrauten. Sie ließen sich vom Vertrauen nicht abbringen; denn das war ihr Lebenselement. Und sie fuhren dabei wohl, denn du machtest sie frei. Aus allen ihren Nöten und Trübsalen führte der Glaube sie heraus, indem er ihren Gott zu ihrer Rettung herbeirief; aber bei unserm Heiland schien es, als bringe der Glaube keine Hilfe vom Himmel herab. Es war, als sollte er allein von allen, die auf Gott trauten, ohne Errettung bleiben. Die Erfahrungen anderer Gotteskinder können uns, wenn wir in tiefen Wassern sind, ein großer Trost sein, solange der Glaube es festhält, dass ihre Erfahrung der Rettung auch die unsere sein wird; doch wenn wir fühlen, dass wir untersinken, ist es ein schlechter Trost, zu wissen, dass andere schwimmen. Unser Erlöser stützt sich hier daraus, wie Gott von alters her an den Seinen gehandelt hat, als auf einen Grund, warum Gott ihn nicht allein lassen könne. Darin gibt er uns abermals ein Beispiel von kunstgerechter Handhabung dieser Waffe, die wir in jedem Gebet gebrauchen sollten. Dass das Fürwort in der Mehrzahl steht, unsere Väter, zeigt, wie eins mit seinem Volke sich Jesus auch am Kreuz fühlte. Wir sagen: Unser Vater, der du bist in den Himmeln, - er nennt diejenigen unsere Väter, durch welche wir zur Welt gekommen sind, wiewohl er nach dem Fleisch keinen Vater hatte.
6. Zu dir schrieen sie und wurden errettet; auf dich vertrauten sie (wörtl.) und wurden nicht zuschanden. "Wie ist’s doch, dass ich in meinem überwältigenden Kummer ohne Beistand gelassen werde, während allen anderen Hilfe zuteil geworden ist?" Wir dürfen den Herrn an seine frühere Freundlichkeit gegen sein Volk erinnern und ihn anflehen, sich uns als denselben zu erweisen. Das heißt recht mit Gott ringen; lasst uns die Kunst lernen. Beachten wir, dass die Heiligen der Vorzeit zu Gott schrieen und auf ihn trauten, und dass wir in der Trübsal dasselbe tun sollen: dann werden wir auch dieselbe freudige Erfahrung machen, die ihnen ohne Ausnahme zuteil wurde, dass sie nämlich in ihrer Hoffnung nicht zuschanden wurden, weil die Errettung zur rechten Zeit kam. Das Gebet des Glaubens wirkt, wenn alles andre sich erfolglos erweist. Voll Verwunderung sehen wir Jesus hier in seinen Bitten dieselben Gründe vorbringen, wie wir, und in viel schwererem Leid, als das unsere es jemals ist.
7. Aber ich bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und Verachtung des Volks. Dieser Vers ist ein Wunder in Worten. Wie war es möglich, dass der Herr der Herrlichkeit in solche Tiefen hinabgeführt wurde, dass er nicht nur niedriger als die Engel, sondern sogar niedriger als die Menschen war? Welch ein Abstand zwischen "Ich bin" (2. Mose 3,14) und "Ich bin ein Wurm!" Und doch war in der Tat eine solche zwiefache Natur in der Person unsers Herrn Jesus zu finden, als er am Kreuzesstamm blutete. Er fühlte sich einem hilflosen, ohnmächtigen, in den Staub getretenen Wurme vergleichbar, der nicht widersteht, wenn er zerdrückt wird, und von denen, die ihren Fuß auf ihn setzen, nicht beachtet und verachtet wird. Er wählt zu seinem Gleichnis das schwächste aller Geschöpfe, das nichts als Fleisch ist und unter den Füßen der Leute eine sich windende, zuckende Fleischmasse wird, die gänzlich aller Macht entblößt ist, ausgenommen die Kraft zu leiden. Das war sein Bild, als Leib und Seele ihm in den Todesängsten des Kreuzes ein Haufen Elend geworden waren. - Der Mensch ist seit dem Fall von Natur nichts als ein Wurm (Hiob 25,6); aber unser Herr stellt sich sogar noch unter den Menschen, in Anbetracht des Hohnes, womit er überhäuft war, und der Schwachheit, die er fühlte. Darum fügt er hinzu: und kein Mensch. Die Vorrechte und Segnungen, die den Vätern zuteil geworden waren, konnte er nicht erlangen, da er von Gott verlassen war; und nicht einmal eine gemeinmenschliche Behandlung wurde ihm zuteil, denn er war von den Menschen verworfen. Er war ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft und ausgeschlossen schien er auch vom Himmel, denn kein freundlicher Blick von oben wurde ihm geschenkt. Wie völlig entäußerte sich der Heiland aller Herrlichkeit, wie unansehnlich wurde er um unsertwillen! Ein Spott der Leute - die Zielscheibe des Hohnes und des Witzes aller, ein Sprichwort für jedermann; die Belustigung des Pöbels und der Spott der Oberen. Wie beißend und brennend dringen Schmach und Hohn denen ins Herz, die sie schweigend erdulden und dennoch ein tiefes Gefühl dafür haben! Und Verachtung des Volks. Die vox populi, des Volkes Stimme, war wider ihn. Dieselben Leute, welche vor wenigen Monden ihn hatten krönen wollen (Joh. 6,15), verachteten ihn jetzt, und solche, die einst seine heilende Hand erfahren hatten, rümpften nun die Nase über ihn in seinem Weh. Siehe, die Sünde verdient das Vollmaß der Schmach und Verachtung; das ist der Grund, weshalb Jesus, der Sündenträger, in solch unwürdige, schmachvolle Behandlung dahingegeben wurde.
8-9. Alle, die mich sehen, spotten mein. Man lese die Berichte der Evangelien über all das Gespött, das der Gekreuzigte über sich ergehen lassen musste, und erwäge im Licht dieses Wortes, wie es ihn schmerzte. Das Schwert ging ihm durch die Seele. Die Spöttereien, welche unser Herr erduldete, waren von der grausamsten Art. Das Hohngelächter über ihn war allgemein; Menschen allerart waren darin ein Herz und eine Seele und überboten sich gegenseitig in Beleidigungen gegen ihn. Priester und Volk, Juden und Heiden, Soldaten und Bürger, alle vereinigten sich miteinander in der allgemeinen Verspottung des Herrn, und das, als er sich in der äußersten Schwachheit befand und im Begriff war, zu sterben. Worüber sollen wir uns mehr wundern, über die Grausamkeit der Menschen oder über die Liebe des blutenden Heilands? Können wir nach dem, was er uns zugut erduldet hat, je murren, wenn wir um seinetwillen Hohn und Schmach leiden müssen?
Sie sperren das Maul auf (reißen die Lippen auf, nach andern: verziehen die Lippen) und schütteln den Kopf - Gebärden des Hohnes. Sie werfen die Lippen auf, grinsen mit den Zähnen, schütteln das Haupt, strecken die Zunge heraus, - all solchen Hohn und anderen mehr muss der geduldige Heiland über sich ergehen lassen. Die Menschen schneiden Gesichter gegen ihn, vor dem die Engel anbetend ihr Antlitz verhüllen. Voll Schadenfreude überhäufen sie ihn mit den gemeinsten Zeichen der Entehrung, welche ihre Geringschätzung gegen ihn ausdenken kann. Auf seine Gebete machen sie witzelnde Wortspiele (Mk. 15,34-36), auf seine Leiden rohe Späße, sie lachen und scherzen, - so nichts, so gar nichts gilt er ihnen!
"Wälz’ (deine Sache) auf den Herrn, der helfe ihm aus und errette ihn, er (Jahwe) hat ja Gefallen an ihm." (Wörtl.2 Also rufen ihm die Spötter zu. Grausam richten sie ihre Sticheleien auf das Gottvertrauen des großen Dulders, wohl wissend, dass sie damit die zarteste Stelle seines Herzens treffen. Sie müssen diese teuflische Kunst vom Satan selbst gelernt haben, denn sie machen darin wunderbare Fortschritte. Nach Mt. 27,39-44 wurden fünferlei Schmähungen gegen den Herrn geschleudert. Der hier in unserm Psalm erwähnte Spott war der bitterste von allen. Er hat eine beißende Ironie in sich, die ihn ganz besonders giftig macht. Er muss den Mann der Schmerzen aufs empfindlichste verwundet haben. Werden wir etwa in ähnlicher Weise gequält, so lasst uns an ihn gedenken, der ein solches Widersprechen von den Sündern wider sich erduldet hat (Hebr. 12,3); das wird uns mächtig trösten. Beim Lesen dieser Vers ist man geneigt, mit John Trapp († 1669) zu fragen: "Ist das Weissagung, oder ist’s Geschichte? - so genau ist die Beschreibung. Auch dürfen wir die Wahrheit nicht übersehen, die die jüdischen Spötter, ohne es zu merken, verkündigen. Sie selbst sind Zeugen dafür, dass dieser Jesus von Nazareth auf Jahwe vertraut hat 3; warum wird er denn dem Tode überlassen? Jahwe hat doch von alters her alle errettet, die ihre Bürden gläubig auf ihn geworfen haben; warum ist denn dieser Mensch so gar verlassen? Ach, dass sie die Antwort begriffen hätten! Lasst uns ferner beherzigen, dass auch ihr spöttelnder Scherz: "Er hat ja Wohlgefallen an ihm!" die Wahrheit aussagt. Gott hatte in der Tat Wohlgefallen an seinem geliebten Sohne; auch da er an Gebärden wurde als ein Mensch erfunden und gehorsam wurde bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz, war er seines Herzens Lust. Wie seltsam: Jahwe hat Wohlgefallen an ihm - dennoch zermalmt er ihn; er hat seine Lust an ihm - und doch bringt er ihn um!
10. (Ja, ich will mein Anliegen auf dich wälzen,) denn Du bist’s, der mich aus dem Mutterschoß gezogen. (Grundtext) Freundlich waltet die Vorsehung, die zarte Hand des göttlichen Geburtshelfers, bei der Geburt eines jeden Menschenkindes; aber über dem Menschensohne, der in geheimnisvoller Weise gezeugt war von dem heiligen Geiste, wachte der Herr in außergewöhnlicher Weise, als er geboren wurde aus Maria, der Jungfrau. Der hilflose Zustand, worin sich Joseph und Maria fern von dem ihnen zur Heimat gewordenen Nazareth befanden, musste sie besonders dazu führen, in der glücklichen Entbindung der Mutter und der guten Geburt des Kindes die zart waltende Hand Gottes zu erkennen. Jenes Kind wendet nun, da es, zum Mann herangereift, den größten Kampf seines Lebens kämpft, die ihm bei seiner Geburt widerfahrene göttliche Güte zur Begründung seiner Bitten vor Gott an. Der Glaube findet überall Waffen des Gebets. Wer glauben will, dem wird es an guten Gründen für den Glauben niemals fehlen. - Du warest meine Zuversicht, wörtl.: Du bist es, der mich (auf Jahwe) vertrauen machte 4, da ich noch an meiner Mutter Brüsten war. War unser Heiland so früh schon bewusst gläubig? War er eines jener jungen Kinder und Säuglinge, aus deren Mund Gott sich eine Macht zurichtet? (Ps. 8,3) Es muss dem also gewesen sein. Und welch kräftiger Grund zum Bitten um Hilfe lag darin! Frömmigkeit in früher Jugend gibt in den Trübsalen des späteren Lebens ganz besonderen Trost; denn er, der uns geliebt hat, da wir Kinder waren, ist zu treu, als dass er uns in den reiferen Jahren verlassen könnte. - Welch besondere Fürsorge hatte der Heiland doch schon erfahren, da er noch an der Mutterbrust lag! Wie war er bewahrt worden vor der Wut des Herodes, in den Gefahren der Flucht und unter den Übeln der Armut.
11. Auf dich wurde ich geworfen schon gleich vom Mutterschoße aus. (Grundtext) Die Arme der Allmacht hatten als liebende Vaterarme ihn vom ersten Augenblick an aufgenommen. Das ist ein lieblicher Gedanke. Gottes Fürsorge waltet über uns von der ersten Stunde an. Er wiegt uns auf den Knien seiner Barmherzigkeit und liebkost uns in dem Schoße seiner Güte; seine Liebe überschattet unsre Wiege, und seine Fürsorge wacht über unseren ersten wankenden Schritten. Du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an. Der Psalm beginnt mit dem Ausruf: "Mein Gott, mein Gott", und nun wird der Anspruch auf Gott als seinen Gott nicht nur wiederholt, sondern auch der frühe Beginn dieses Verhältnisses geltend gemacht. Wie edel ist diese Ausdauer des Glaubens, die mit heiligem Scharfsinn einen Beweggrund zur Erhörung nach dem andern vorführt. Die Zeit unserer Geburt war die Zeit, wo wir am schwächsten waren und unser Leben am meisten gefährdet war; wurden wir damals durch die Sorgfalt der göttlichen Allmacht erhalten, so haben wir sicher keinen Grund, zu argwöhnen, dass uns Gottes Güte jetzt im Stich lassen werde. Er, der unser Gott war, als wir aus dem Mutterleib hervorgingen, wird mit uns sein, bis wir zum Mutterschoß der Erde zurückkehren, und wird uns bewahren, dass wir nicht im Bauch der Hölle umkommen.
12. | Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer. |
13. | Große Farren haben mich umgeben, gewaltige Stiere haben mich umringet; |
14. | ihren Rachen sperren sie auf wider mich wie ein brüllender und reißender Löwe. |
15. | Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. |
16. | Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen, und du legest mich in des Todes Staub. |
17. | Denn Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben. |
18. | Ich kann alle meine Gebeine zählen. Sie aber schauen, und sehen ihre Lust an mir. |
19. | Sie teilen meine Kleider unter sich, und werfen das Los um mein Gewand. |
20. | Aber Du, Herr, sei nicht ferne; meine Stärke, eile mir zu helfen! |
21. | Errette meine Seele vom Schwert, meine einsame von den Hunden! |
22. | Hilf mir aus dem Rachen des Löwen, und errette mich von den Einhörnern. |
Der gekreuzigte Davidssohn fährt fort, seine Klage und sein Gebet vor Gott auszuschütten. Wir bedürfen viel Gnade, um bei der Betrachtung dieser Vers in der Gemeinschaft seiner Leiden zu stehen. Möge der Heilige Geist uns einen recht klaren, lebendigen, das Herz in Wallung bringenden Einblick in das Leiden unseres Erlösers geben.
12. Sei nicht ferne von mir. Das ist die Bitte, um derentwillen er so mannigfaltige und kräftige Gründe vor Gott geltend gemacht hat. Das große Weh seines Herzens ist, dass Gott ihn verlassen hat, - seine große Bitte, dass er ihm nahe sein möge. Eine lebhafte Empfindung der Gegenwart Gottes ist ein mächtiger Halt in Zeiten der Trübsal. Denn Angst, wörtlich: Drangsal, ist nahe (sie rückt mir auf den Leib, wie wir in volkstümlicher Sprache sagen); denn es ist hier kein Helfer. Zweimal steht hier denn. Es ist, als klopfte der Glaube zweimal an der Gnadentür. Solche Gebete sind wirksam, die voll heiliger Gründe und wohldurchdachter Beweise sind. Die Nähe der Bedrängnis ist ein starker Beweggrund für Gottes Eingreifen; sie bewegt das Herz unseres himmlischen Vaters und zieht seine helfende Hand herab. Das ist ja eben sein Ruhm, eine Hilfe zu sein, die in Nöten kräftig erfunden wird (Ps. 46,2 Grundtext). Unser Stellvertreter war in großer innerer Not, das Wasser ging ihm bis an die Seele (Ps. 69,2); da mochte er wohl rufen: Sei nicht ferne von mir. Dass sonst kein Helfer da war, verstärkt abermals die Dringlichkeit seiner Bitte. Niemand konnte und wollte unserm Heiland helfen. Er musste die Kelter allein treten (Jes. 63,3); doch gereichte ihm die Erfahrung, dass alle seine Jünger ihn verlassen hatten und Gott seine Freunde fern von ihm getan hatte (Ps. 88,9), zu besonders schmerzlicher Erschwerung seiner Leiden. Es ist etwas Furchtbares, sich von Freunden völlig verlassen zu finden. Es wirkt zerschmetternd auf das menschliche Gemüt: denn der Mensch ist nicht geschaffen zum Alleinsein, und er ist wie ein abgerissenes Glied, wenn er Herzensvereinsamung erdulden muss.
13. Große Farren haben mich umgeben, gewaltige Stiere (wörtlich: Starke Basans) haben mich umringt. Nun sind es die Mächtigen in der das Kreuz umstehenden Menge, auf die sich das tränenvolle Auge ihres Opfers richtet. Die Priester, die Ältesten, die Schriftgelehrten, die Pharisäer, die Obersten und Hauptleute, sie alle brüllten rings um das Kreuz her, als wären sie wilde Stiere voller Kraft und Wildheit, wohlgenährt auf den fetten Weiden Basans, des um dieser willen so berühmten nördlichsten Teiles des Ostjordanlandes. Sie stampften und schäumten rings um den Unschuldigen, voll Verlangens, ihm mit ihren Grausamkeiten das Herz zu durchbohren. Stelle dir’s vor: Jesus als ein hilf- und wehrloser Mensch mitten in eine Herde wütender Stiere hineingeworfen! An viehischer Rohheit waren sie Stieren gleich. Ihrer war eine ganze Herde 5; er, der Ausgestoßene, war ganz allein (V. 12 b), und nackt an das Kreuz geheftet, war er allen ihren Angriffen preisgegeben. Seine Lage verlieh der Bitte "Sei nicht ferne von mir" großen Nachdruck.
14. Ihren Rachen sperren sie auf wider mich - ein brüllender und reißender Löwe. Wie heißhungrige Menschenfresser sperren sie ihr Lästermaul auf, als wollten sie ihn lebendig verschlingen. Ein gewöhnliches Öffnen des Mundes genügt ihnen nicht, um ihren Wutgeifer schnell genug gegen ihn auszuspeien; darum reißen sie die Kiefer auseinander, wie man es sonst beim Gähnen tut. Wie ein brüllender Löwe stoßen sie ein Wutgeheul aus, und sie brennen vor Verlangen, den Heiland in Stücke zu reißen, wie wilde Tiere, die sich gierig auf ihre Beute stürzen. Der Glaube unseres Erlösers muss einen überaus schweren Kampf durchgemacht haben, als er sich seinen Feinden so gänzlich preisgegeben fühlte; aber durchs Gebet trug er den Sieg davon, indem er eben die Gefahren, denen er ausgesetzt war, dazu benutzte, sein Flehen übermächtig werden zu lassen.
15. Jetzt wendet sich der Herr von seinen Feinden ab und schildert seine eigene Leibes- und Gemütsverfassung in Worten, die bei denen, die ihn lieben, kein Auge trocken lassen sollten. Ich bin ausgeschüttet wie Wasser. (Vergl. Jos. 7,5; 2. Samuel 14,14; Hes. 7,17; 21,12.) All seine Kraft war zerflossen wie Wasser, das auf die Erde hingegossen wird. Sein Mut ließ ihn im Stich, sein Herz hatte nicht mehr Festigkeit als fließendes Wasser und sein ganzes Wesen war einem Trankopfer gleich geworden, das vor dem Herrn ausgegossen wird. Schon lange war er ein Tränenborn gewesen; in Gethsemane war sein Herzblut übergewallt in blutigem Schweiß und am Kreuz zerfloss er vollends in Blut. Mut und Kraft strömten ihm aus, so dass er in äußerste Schwäche und Erschöpfung versank. Alle meine Gebeine haben sich zertrennet, als wären sie auf der Folterbank auseinandergereckt worden. Ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass das Anheften der Hände und Füße, sowie die Erschütterung, die durch das (nach der Annagelung Jesu vorgenommene) Befestigen des Kreuzes in der Erde verursacht wurde, die Gebeine des Gekreuzigten tatsächlich aus den Fugen gerenkt haben? Sollte dies nicht der Sinn der Worte sein, dann müssen wir sie von jenem äußersten Grad der Schwäche verstehen, der ein Schlaffwerden der Muskeln und ein Allgemeingefühl, als ob der ganze Körper auseinander gehe, hervorruft. Mein Herz ist wie zu Wachs geworden, zerschmolzen in meinem Innern (wörtlich: inmitten meiner Eingeweide). Übermäßige Schwäche und heftige Schmerzen brachten in ihm die Empfindung hervor, als sei das Zentralorgan des Lebens wie zu Wachs geworden, das an der Hitze zerschmilzt. Die Glut der Angst hatte sein Herz zerfließen lassen. Die Liturgie der griechischen Kirche hat den Ausdruck: "Deine unbekannten (d. h. unbekannt großen) Leiden", und der Ausdruck ist sehr angemessen. Das Zornesfeuer des Allmächtigen würde unsere Seelen auf ewig in der Hölle verzehrt haben; es war für Jesus wahrlich nichts Leichtes, als unser Stellvertreter die Gluthitze des gerechterweise so schrecklich brennenden göttlichen Zornes zu ertragen. John Gill, der bekannte Kommentator († 1771), bemerkt: "Wenn Christus, dem Löwen aus dem Stamme Juda, deswegen das Herz zerschmolz, wessen Herz wird fest bleiben, wenn Gott seinen Grimm über ihn ausgießt?"
16. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe. Damit deutet er die äußerste Mattigkeit an. Jesus vergleicht sich mit einem zerbrochenen Stück Töpferware oder mit einem irdenen Geschirr, das so lange im Feuer gebrannt worden ist, bis der letzte Rest von Feuchtigkeit aus dem Ton herausgetrieben ist. Ohne Zweifel peinigte hochgradige Fieberglut den Leib des Herrn. Alle seine Kraft war in den fürchterlichen Flammen der rächenden Gerechtigkeit vertrocknet, wie ja auch das Passahlamm am Feuer geröstet wurde. Meine Zunge klebt an meinem Gaumen vor Durst und Fieberhitze. Trockenheit und eine schreckliche Klebrigkeit des Mundes quälten ihn, so dass er kaum die Zunge bewegen und sprechen konnte. Und du legst mich in des Todes Staub. Er litt solche Qual in jedem einzelnen Teil seines Körpers, dass er das Gefühl hatte, als sei dieser schon in lauter Atome aufgelöst und jedes dieser Atome voller Elend. Er musste das Lösegeld für unsere Loskaufung bis auf den letzten Heller bezahlen, und keinem Teil weder des Leibes noch der Seele unseres Bürgen wurde sein Anteil an dem Todeskampf erspart. Die Worte mögen auch darstellen, wie Jesus mit dem Fürsten des Todes rang, bis er mit seinem Widerpart in den Staub rollte. Wie tief wurde der Sohn Gottes erniedrigt! Der Herr der Herrlichkeit wird in des Todes Staub gebeugt! Er lässt sich herab, unter den in Staub zerfallenden Überresten der Vergänglichkeit zu wohnen.
17. Wir haben Zug um Zug dieser düstern Schilderung so aufzufassen, dass der Herr Jesus sie als Beweggrund für Gottes Hilfe geltend macht. Das gibt uns eine hohe Vorstellung von seiner Ausdauer im Beten. Denn Hunde haben mich umgeben. Damit bezeichnet er den Haufen gemeiner Leute, die zwar nicht so mächtig waren wie die unmenschlichen Leiter des Volks, an wildem Ingrimm ihnen aber nicht nachstanden; denn da waren sie, rings um das Kreuz her, und heulten und bellten wie die unreinlichen, heißhungrigen Hunde, die die Straßen der morgenländischen Städte rudelweise belagern. Die Jäger umstellen das Wild und kreisen es mit einem sich immer enger schließenden Ring von Menschen und Hunden ein. Auch das mag das Bild sein, das wir hier vor uns haben. Im Mittelpunkt befindet sich - nicht ein keuchender Hirsch, sondern ein blutender, verschmachtender Mensch, und rund um ihn her sehen wir, rasend vor Wut und ohne eine Spur von Mitleid, die Elenden, die ihn ins Verderben gehetzt haben. Da sehen wir vor uns "die Hirschkuh, die frühe gejagt wird" (Luther V. 1), von der der Psalm solch ein Klagelied singt; wir schauen sie, von Bluthunden gehetzt, deren jeglicher darnach dürstet, sie zu zerreißen. Und der Bösen Rotte hat mich umringt. Mit diesen Worten wird das jüdische Volk, das sich selber die Gemeinde der Gerechten nannte, um seiner vielen Sünden willen ganz gerecht als eine Rotte von Bösewichtern gebrandmarkt. Der Bann wird über sie verhängt. Es ist nicht der einzige Fall, dass Kirchen, die sich für Gemeinden Gottes erklärten, zu Synagogen des Satans (Off. 2,9) geworden sind und den Heiligen und Gerechten samt seinen Getreuen verfolgt haben. Sie haben meine Hände und Füße durchgraben.6 Dies kann im buchstäblichen Sinne weder auf David noch auf irgendeinen anderen, als auf Jesus von Nazareth, den einst gekreuzigten, jetzt aber zur Herrlichkeit erhöhten Sohn Gottes bezogen werden. Halt ein wenig inne, lieber Leser, und betrachte deines Heilands Wunden!
18. So abgezehrt war Jesus durchs Fasten und Leiden, dass er sagt: Ich kann alle meine Gebeine zählen. Bischof Horne († 1792) meint, die Körperlage am Kreuz müsse Fleisch und Haut so auseinandergezerrt haben, dass die Knochen sichtbar wurden, so dass man sie zählen konnte. Der Eifer um seines Vaters Haus hatte ihn also verzehret (Ps. 69,10). Ach, dass wir doch weniger auf unseres Leibes Ergötzen und Bequemlichkeit und mehr auf die Sache unseres Vaters bedacht wären! Besser wäre es uns, wir könnten am abgezehrten Leibe die Knochen zählen, als dass wir unsere Seele an der Auszehrung zugrunde gehen ließen.
Sie aber schauen und sehen ihre Lust an mir. Unheilige Augen begafften höhnisch und frivol den Heiland in seiner Nacktheit und verletzten tief das heilige Zartgefühl seiner keuschen Seele. Der Anblick seines mit dem Tode ringenden Leibes hätte das Mitgefühl der Menge wecken sollen; aber es vermehrte nur ihre wilde Lust, als sie den Herrn in seiner Pein mit Augen von Grausamkeit anglotzten. Lasst uns erröten ob der Unmenschlichkeit der menschlichen Natur und voll Mitleid über die Schmach unseres Erlösers trauern. Die Sünde des ersten Adams hat uns alle nackt gemacht; deshalb wurde der zweite Adam nackt, um unsere der Gerechtigkeit entblößten Seelen zu bekleiden.
19. Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand. Die Kleider der Hingerichteten fielen fast immer den Henkern zu; aber das andere war etwas ganz Außergewöhnliches, dass die die Hinrichtung Vollziehenden bei der Verteilung der Beute das Los warfen. Auch dieser Zug der Schilderung zeigt, wie klar Davids Geistesauge den Tag Christi sah und wie unbezweifelbar es Jesus von Nazareth ist, von dem die Propheten geredet haben. "Solches taten die Kriegsknechte" (Joh. 19,24). Er, der sein Blut dahingab zu unserer Reinigung, entäußerte sich seiner Kleider, damit wir bekleidet und nicht bloß erfunden würden. Wie Christopher Neß († 1705) sagt: "Das teure Gotteslamm gab sein goldenes Vlies für uns her." Wie ist doch jeder Zug der Leiden von Jesus hier in der Schatzkammer der von Gott eingegebenen Schrift aufbewahrt und gleichsam einbalsamiert worden mit der köstlichen Spezerei heiliger Dichtkunst! Das lehrt uns, treu beflissen auf alles zu achten, was unseren geliebten Heiland betrifft, und an alles, was zu ihm in irgendwelcher Beziehung steht, oft und viel zu denken. Wir können hier aber auch bemerken, wie die Gewohnheit des Spielens von allen Leidenschaften das Herz am meisten verhärtet; denn wir sehen hier Menschen, die es sogar am Fuße des Marterholzes, während das Blut des Gekreuzigten auf sie spritzt, über sich bringen, dem Spiel zu frönen. Kein Christ wird das Geklapper der Würfel ertragen können, wenn er daran denkt.
20. Aber Du, Herr, sei nicht ferne! Der unbesiegbare Glaube des Heilands geht abermals dazu über, den Himmel zu stürmen, und bedient sich dazu der nämlichen Waffe wie ehedem, nämlich den dringenden Flehens. Er wiederholt die Bitte, welche er schon vorher so herzbeweglich vorgebracht hatte. Nichts als seinen Gott begehrt er, selbst im größten Elend. Er bittet aber nicht einmal um eine besonders trostreiche, besonders nahe Offenbarung der Gegenwart Gottes; er will es schon zufrieden sein, wenn Gott nur nicht ferne von ihm ist. Solch demütig bescheidenen Bitten ist guter Erfolg am Thron der Gnade gewiss. Meine Stärke, eile mir zu helfen! Große Not erheischt schleunige Hilfe. Wenn die Notwendigkeit es rechtfertigt, dürfen wir Gott bestürmen, selbst was die Zeit der Hilfe betrifft, und dürfen rufen: Eile, mir zu helfen; aber nie ist es erlaubt, dies aus Eigensinn zu tun. Man beachte, wie der Herr Jesus in seiner äußersten Schwäche Jahwe seine Stärke nennt. Seinem Vorbild folgend dürfen auch wir im Glauben singen: Wenn ich schwach bin, so bin ich stark (2. Kor. 12,10).
21. Errette meine Seele vom Schwert. Mit dem Schwert, das seine Seele bedroht, ist wahrscheinlich das gänzliche Unterliegen gemeint, vor dem er als Mensch zurückschreckte; oder vielleicht suchte er Rettung von den ihn umringenden Feinden, deren tödlicher Hass ihm wie ein scharfes, todbringendes Schwert in die Seele drang. Der Herr Zebaoth hatte gesagt: "Schwert, mache dich auf über meinen Hirten und über den Mann, der mir der nächste ist" (Sach. 13,7); und nun bittet der Hirte, dass er von diesem grausen Schwert errettet werden möge, sobald die Gerechtigkeit es zulässig finde. Meine einzige7 von den Hunden (wörtl.: von der Tatze, d. i. von der Gewalt des Hundes). Mit seiner einzigen meint er seine Seele, sein Leben, als das Unersetzliche; denn wir haben nur eine Seele, ein Leben zu verlieren. Ach, dass doch alle Menschen ihre Seele so teuer achteten! Aber viele gehen mit ihrer einzigen Seele um, als wäre sie nicht so viel wert als der Kot auf der Gasse. Unter dem Hund mögen wir den Satan verstehen, den höllischen Zerberus; oder aber die ganze Meute der Feinde Christi, die trotz ihrer großen Menge so einmütig waren, als wären sie einer, alle nur von dem Verlangen beseelt, ihn zu zerfleischen. Wenn Jesus um Hilfe rief wider den Höllenhund, wie viel mehr sollten wir’s. Cave canem: Nehmt euch in Acht vor dem Hund! Denn seine Gewalt ist groß, Gott allein kann uns von ihm erretten. Ob er uns auch anwedelt, lasst uns ihm nicht zu nahe kommen; und wenn er uns anheult, lasst uns eingedenk sein, dass Gott ihn an der Kette hält.
22. Hilf mir aus dem Rachen des Löwen, und von den Hörnern der Wildochsen8 - hast du mich erhört! (Grundtext) Der letzte Hilferuf des Erlösers, mit dem er zugleich zur Gewissheit der Erhörung durchdringt. Der Tod ist grimmig und gewaltig wie ein Löwe, und unser Heiland fühlte sich schon in dieses Löwen Rachen. Aber er flehte zu dem, der ihm von dem Tode aushelfen konnte. Seine Feinde waren wild und wütend wie die Wildochsen, und es war ihm, als sei er von ihnen schon auf die Hörner genommen; aber der den Jonas auf sein Gebet aus dem Bauch des Fisches errettet hatte, konnte auch ihn noch erlösen. Und siehe, der kühlte Beter wird von der Gewissheit erfüllt, dass sein Gebet erhört ist, und damit bricht wie mit einem Schlage das Licht durch die Finsternis, die das Kreuz bisher umnachtet hatte. So gewinnt der Glaube, wiewohl er aus vielen Wunden blutet und sogar die Füße der Feinde auf ihm herumgestampft hatten, schließlich den Sieg. Unser Haupt hat überwunden und wir, die Glieder, werden auch des Glaubens Kraft erfahren und dem Feind nicht erliegen, sondern über ihn triumphieren.
23. | Ich will deinen Namen predigen meinen Brüdern; ich will dich in der Gemeinde rühmen. |
24. | Rühmet den Herrn, die ihr ihn fürchtet; es ehre ihn aller Same Jakobs, und vor ihm scheue sich aller Same Israels. |
25. | Denn er hat nicht verachtet, noch verschmähet das Elend des Armen, und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen; und da er zu ihm schrie, hörte er’s. |
26. | Dich will ich preisen in der großen Gemeine; ich will meine Gelübde bezahlen vor denen, die ihn fürchten. |
27. | Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden; und die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen; euer Herz soll ewiglich leben. |
28. | Es werden gedenken und sich zum Herrn bekehren aller Welt Enden, und vor ihm anbeten alle Geschlechter der Heiden. |
29. | Denn des Herrn ist das Reich, und er herrschet unter den Heiden. |
30. | Alle Fetten auf Erden werden essen, und anbeten; vor ihm werden Knie beugen alle, die im Staube liegen, und die, so kümmerlich leben. |
31. | Er wird einen Samen haben, der ihm dient; vom Herrn wird man verkündigen zu Kindeskind. |
32. | Sie werden kommen und seine Gerechtigkeit predigen dem Volk, das geboren wird, dass er’s getan hat. |
Der Wechsel ist stark. Auf den furchtbaren Sturm folgt plötzlich große Stille. Wie die Finsternis ringsum in der Natur weicht, so auch in der Seele des Erlösers, und ein freundliches Lächeln erhellt sein Antlitz, da er die ersten Lichtstrahlen des Sieges und seiner weit reichenden Folgen erblickt.9 Wir sind unserm Heiland durch das Dunkel gefolgt; so lasst uns ihn auch begleiten, da das Licht wiederkehrt. - Wir werden gut tun, auch die nun folgenden Verse als einen Teil des Selbstgesprächs des am Kreuz hangenden Erlösers aufzufassen, als den Ausdruck seiner Gedanken in den letzten Augenblicken vor seinem Tode.
23. Ich will deinen Namen predigen meinen Brüdern. Jesu Herzenslust ist seine Gemeinde; darum kehren seine Gedanken, die vordem durch so vieles in Anspruch genommen waren, sofort, da Erleichterung eintritt, in ihre gewohnte Bahn zurück: Er fasst neue Pläne zum Besten der Seinen. Er schämt sich nicht, sie Brüder zu heißen, und spricht: Ich will verkündigen deinen Namen meinen Brüdern und mitten in der Gemeinde dir lobsingen. (Hebr. 2,11 f.) Eins der ersten Worte des Auferstandenen war: "Gehe hin zu meinen Brüdern" (Joh. 20,17). In dem vor uns liegenden Vers freut sich Jesus zum voraus auf die Gemeinschaft mit den Seinen. Er nimmt sich vor, ihr Prediger und Lehrmeister zu sein, und richtet seine Gedanken auf den Gegenstand, über den er zu ihnen reden will. Der Name Gottes, d. i. sein Wesen und sein Walten, wird durch das Evangelium Jesu Christi der ganzen heiligen Bruderschaft kundgemacht. Sie nehmen die Fülle der Gottheit wahr, die in ihm leibhaftig wohnt, und freuen sich hoch, alle die unermesslichen Vollkommenheiten des Ewigen in einem Wesen sich offenbaren zu sehen, das da ist Bein von ihrem Bein und Fleisch von ihrem Fleisch. Welch köstliches Predigtthema ist der Name Gottes! Es ist einzigartig des eingeborenen Sohnes würdig, dessen Speise und Trank es war, den Willen seines Vaters zu tun. Aus diesem Entschluss unseres Heilands mögen wir die Lehre entnehmen, dass eine der vorzüglichsten Weisen, uns für die erfahrene Errettung dankbar zu erzeigen, die ist, unseren Brüdern kundzumachen, was der Herr an uns getan hat. Unsere Kümmernisse andern zu erzählen, sind wir schnell genug bereit; warum sind wir denn so säumig, wenn es gilt, die uns widerfahrene Hilfe zu rühmen? Inmitten der Gemeinde (Grundtext) will ich dich rühmen. Nicht nur in kleiner häuslicher Zusammenkunft will der Herr seines Vaters Liebe lobpreisend verkündigen, sondern in der großen Gemeinde der Seinen. Das tut er auch jetzt fortwährend durch seine Stellvertreter, die Herolde des Heils, deren Wirken dahin zielt, dass Gott gepriesen werde. In der großen allgemeinen Kirche ist Jesus der eine maßgebende Lehrer; alle anderen Prediger sind, sofern sie diesen Namen überhaupt verdienen, nur der Widerhall seiner Stimme. In diesem zweiten Satz legt Jesus den Zweck klar, den er bei dem Verkündigen des göttlichen Namens im Auge hat, nämlich, dass Gott gepriesen werde. Die Gemeinde des Herrn lobpreist Jahwe beständig dafür, dass er sich in Jesu geoffenbart hat, und Jesus selbst hebt den Lobgesang an: Er ist beides, der Vorsänger und der Prediger, in seiner Gemeinde. Das sind genussreiche Stunden, wenn Jesus unseren Herzen die göttliche Wahrheit enthüllt. Da kann es nicht anders sein, als dass Frohlocken und Lobgesang folgen.
24. Rühmet den Herrn, die ihr ihn fürchtet. Der Leser muss sich hier den Heiland als die Versammlung der Seinen anredend vorstellen. Er fordert die Gläubigen auf, sich mit ihm im dankenden Lobpreis zu vereinigen. Die Beschreibung der Gläubigen als solcher findet sich häufig in der Schrift und ist höchst lehrreich. Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang und ein wesentliches Merkmal des Gnadenstandes. "Ich bin ein Hebräer und fürchte Jahwe", war Jonas Glaubensbekenntnis (Jona 1,9). Heilige, demütige Scheu vor dem Ewigen ist so notwendig zur rechten Bereitung auf den Lobpreis Gottes, dass niemand tauglich ist, des Herrn Ehre zu besingen, als wer sein Wort ehrt. Diese Furcht aber ist vereinbar mit der höchsten Freude und darf nicht mit der knechtischen Furcht verwechselt werden, die vielmehr von der völligen Liebe ausgetrieben wird (1. Joh. 4,18). Heilige Ehrfurcht sollte den Sängern allezeit ihre Kirchenstühle ausschließen. Wo Jesus den Gesang anhebt, dürfen nur heilige Lippen es wagen, mit einzustimmen. Es ehre ihn aller Same Jakobs. Alle, die durch die freie Gnade Gottes errettet sind, Juden und Heiden, sollen in dem beseligenden Dienst geschäftig sein, den Gott ihres Heils zu ehren. Und vor ihm scheue sich aller Same Israels. Es gibt eine Scheu des Misstrauens gegen Gott, die uns von Gott ferne wegtreibt; die Gottesfurcht aber, welche hier gemeint ist, ist sowohl die Vorbedingung als auch die Frucht des Glaubens und knüpft uns fest an Gott. Sie findet sich bei allen, die zu dem geistlichen Israel gehören, und wir hoffen, der Tag werde bald anbrechen, wo auch das Israel nach dem Fleisch desselben Sinnes wird. Je mehr wir Gott preisen, desto ehrerbietiger wird unsere Furcht vor ihm sein, und je tiefer unsere Ehrfurcht, desto lieblicher wird unser Gesang sein. So hoch schätzt Jesus das Lobpreisen Gottes, dass wir es hier von seiner sterbenden Hand versiegelt sehen, dass alle Heiligen Jahwe ehren und verherrlichen sollen.
25. Denn er hat nicht verachtet, noch verschmäht (Grundtext stärker: verabscheut) das Elend des Elenden (Grundtext). Wahrlich, hier bietet sich uns reicher Stoff zum Preise Gottes. Die Erfahrungen unseres Bundeshauptes und Stellvertreters sollten uns alle ermuntern, den Gott aller Gnade zu erheben. Nie sind einem Menschen solche Leiden Leibes und der Seele, von Freund und Feind, aus Himmel und Hölle, im Leben und im Sterben widerfahren, wie unserem Erlöser. Er war der Vorderste in der Reihe der Dulder. Aber trotz all des Elends, worin er sich befand, war er dennoch der Geliebte Gottes. Die Liebe sandte ihm das Leiden, und nicht etwa wurde er deshalb damit überhäuft, weil sein Vater ihn verachtet oder verabscheut hätte. Wohl erforderte es die Gerechtigkeit, dass Christus völlig die Bürde trage, welche er als unser Stellvertreter auf seine Schultern genommen hatte; aber Jahwe liebte ihn allezeit und legte ihm aus Liebe diese Last auf, mit dem Blick auf seine schließliche Verherrlichung und auf die Erfüllung seines eigenen teuersten Herzenswunsches. Bei allem Elend war unser Heiland in den Augen des Vaters hochgeehrt, ja das unvergleichliche Kleinod seines Herzens. Und hat sein Antlitz vor ihm nicht verborgen. Das will sagen: Das Verbergen währte nur eine kleine Zeit und wurde bald aufgehoben; es war nicht ewig und endgültig. Und da er zu ihm schrie, hörte er’s. Jesus wurde erhöret von dem Zagen. Er schrie zu Gott in extremis und de profundis (im äußersten Elend, aus tiefer Not), und eilends wurde ihm Antwort. Darum fordert er die Seinen auf, mit ihm vereint das gloria in excelsis (Ehre sei Gott in der Höhe) anzustimmen.
Jedes Gotteskind darf und soll seinen Glauben an diesem Zeugnis aus dem Munde des Mannes der Schmerzen erfrischen. Was Jesus hier als seine Erfahrung bezeugt, ist heute so wahr, wie damals, als es zuerst niedergeschrieben wurde. Nie wird man sagen können, dass Leiden und Elend für irgendjemand ein Hindernis sei, an Jahwes Gnadenthron Erhörung zu finden. Auch der geringste Bittsteller findet ein freundliches Willkommen; keiner, der sich Gottes Thron naht, wird Gott untreu oder ungütig finden.
26. Von dir geht mein Lobpreis aus (Grundtext) in der großen Gemeine. Der echte Lobpreis ist himmlischen Ursprungs. Die wunderbarsten Harmonien der Tonkunst haben im Hause Gottes keinen Wert, wenn sie nicht aufrichtig Gott geweiht sind von Herzen, die der Heilige Geist geheiligt hat. Der Pfarrer sagt wohl: "Lasst uns zum Preise Gottes das und das Lied anstimmen", aber der Sängerchor singt nur zu oft zu seinem eigenen Preise. Ach, wann werden unsere Gesänge ein reines Opfer sein! Man beachte in diesem Vers, welches Wohlgefallen der Herr Jesus an den öffentlichen Lobgesängen seines Volkes hat und mit welcher Freude er an die "große Gemeine" denkt. Es würde unsrerseits ein Verbrechen sein, die "zwei oder drei", die sich hier oder da im Namen des Herrn versammeln, zu verachten. Mögen aber auf der anderen Seite auch die kleinen Häuflein nicht die größeren Gemeinden scheel ansehen, als wären diese mit Naturnotwendigkeit weniger rein und weniger gottgefällig; denn der Herr Jesus erfreut sich an dem Lobpreis Gottes in der großen Gemeine. Ich will meine Gelübde bezahlen vor denen, die ihn fürchten. Aufs Neue weiht sich Jesus zur Ausführung des göttlichen Vorsatzes in Erfüllung der Gelübde, welche er in der Angst seiner Seele gelobt hatte. Hat der Herr etwa, als er gen Himmel fuhr, unter den Erlösten, die schon in die Herrlichkeit eingegangen waren, den Ruhm Jahwes verkündigt? Ist dies das Gelübde, welches er hier meint? Jedenfalls ist die Verkündigung des Evangeliums die fortwährende Erfüllung der Bundesverpflichtungen, welche unser Bürge in den Ratsversammlungen der Ewigkeit übernommen hat. Der Messias hat es gelobt, dem Herrn einen geistlichen Tempel aufzubauen, und er wird sein Wort halten.
27. Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden. Siehe, wie die sterbende Liebe sich an der Frucht ihres Todes erquickt! Den geistlich Armen ist in Jesus ein Fest bereitet; sie nähren sich an ihm, seiner Person und seinem Werk, bis zur vollen Herzenssättigung. Sie waren am Verhungern, ehe er sich für sie dahingab; jetzt aber werden sie mit königlicher Kost bewirtet. Der Gedanke an die Freude der Seinen stärkte den Erlöser bei seinem Verscheiden. Beachten wir aber auch, welcher Art Leute die Frucht seines Leidens genießen: die innerlich Gebeugten, die Demütigen, die geistlich Armen. Herr, mache uns zu solchen! Man beachte ferner, dass das Lebensbrot, das Gott im Evangelium darbietet, nicht umkommen soll: Sie sollen essen und welch gute Wirkung dieses Essen hat: dass sie satt werden. - Und die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen. Eine Weile mögen sie fasten und trauern müssen; aber der Tag soll und wird kommen, wo freudiger Dank ihre Herzen höher schlagen lässt. Euer Herz soll ewiglich leben --: es lebe auf (Grundtext Optativ) in geistlicher, unzerstörbarer Freude und labe sich auf ewig an der Frucht meines Leidens! Keine Trübsal wird hinfort eure Lebensgeister dämpfen, kein Kummer euch töten können, unsterbliche Freude wird euer Teil sein. So spricht Jesus vom Kreuz herab den Betrübten zu, die nach Gott fragen. Wenn seine Sterbensworte so ermutigend sind, welch reichen Trost mögen wir erst in der Wahrheit finden, dass er immerdar lebt, um für uns einzutreten! Die an Jesu Tisch essen, erfahren die Erfüllung der Verheißung: Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit (Joh. 6,58).
28. Es werden gedenken und sich zum Herrn bekehren aller Welt Enden. Beim Lesen dieses Verses tritt einem in überwältigender Weise entgegen, wir sehr der Messias vom Missionsgeist erfüllt war. Das ist augenscheinlich sein großer Trost im Leiden, dass durch dasselbe die Erkenntnis Jahwes in seinem ganzen Reich ausgebreitet werden wird. Von dem kleinen Kreis des Jüngerhäufleins aus soll sich der Segen mit immer zunehmender Macht ergießen, bis sich die Bewohner der entferntesten Erdteile ihrer Götzen schämen, indem sie des allein wahren Gottes, den sie vergessen haben (Ps. 9,18), gedenken, für ihre Missetaten Buße tun und sich einmütig mit Gott zu versöhnen suchen. Dann wird aller falsche Gottesdienst ein Ende haben: Und vor dir, heißt es weiter (nach dem Grundtext), dem einen lebendigen und wahren Gott, werden sich niederwerfen und anbeten alle Geschlechter der Heiden. Diese Aussicht war für Jesus der Lohn seiner Schmerzen. Er kann in seiner Glaubenserwartung nicht getauscht werden. Das ist ein mächtiger Ansporn für alle, welche gewürdigt werden, als seine Krieger im Felde zu stehen.
Wir wollen nicht außer Acht lassen, wie hier die Ordnung der Bekehrung angedeutet ist: Sie werden gedenken - nämlich Gottes, den sie vergessen haben, wie der verlorene Sohn, da er zur Selbstbesinnung kommt, des gütigen Vaters wieder gedenkt (Lk. 15,17), den er schnöde verlassen hatte; sodann werden sie sich wieder zu Jahwe kehren in aufrichtiger Buße, wie Manasse, der die Götzen wegtat (2. Chr. 33,15); und endlich werden sie sich vor Jahwe niederwerfen, ihn anbeten und sich ihm zu heiligem Dienst weihen, wie Paulus sich vor Jesus, den er früher verabscheut hatte, niederwarf und ihm mit Wort und Tat fortan huldigte.
29. Denn des Herrn ist das Reich - ihm allein gebührt das Zepter. Als unterwürfiger Sohn freute sich der sterbende Erlöser in der Gewissheit, dass durch sein Leiden der Vater geehrt und dessen Königreich ausgebreitet werden würde. Jahwe ist König: Das war sein Freudengesang und ist auch der unsere. Er, der kraft seiner eigenen Machtvollkommenheit in Majestät herrscht im Reich der Schöpfung und der Vorsehung, hat ein Gnadenreich aufgerichtet, und dies Reich wird sich durch die siegreiche Kraft des Kreuzes ausbreiten, bis alle Völker sich zu seinem Zepter bekennen und verkündigen, dass er herrscht (Gebieter ist) über die Heiden, d. h. die Nationen. Bei all dem Getümmel und Gewirr der gegenwärtigen Zeit sitzt der Herr dennoch im Regiment; es kommt aber eine stille Zeit des Friedens, wo die reiche Frucht seiner Herrschaft für aller Augen sichtbar sein wird. Großer Hirte, lass dein herrliches Reich bald anbrechen!
30. Alle Fetten auf Erden werden essen und anbeten: Die Reichen und Großen sind nicht ausgeschlossen. Jetzt findet die Gnade die meisten ihrer Kleinode unter den Armen; aber in den letzten Tagen werden auch die Reichen und Mächtigen der Erde, die sonst nur an dem, was ihren Gaumen kitzelte, Geschmack fanden, an Gottes Tisch essen, ihre bei aller Wohlhäbigkeit des Leibes ausgehungerten Seelen an der erlösenden Gnade und der bis in den Tod getreuen Liebe sättigen und von ganzem Herzen den Gott anbeten, der uns in Christus Jesus so überreiche Gnade zuteilwerden lässt. Wir dürfen das hier Gesagte vielleicht auch auf die geistlich Fetten anwenden, die innerlich wohl gedeihen. Die sollen an dem fetten Mark der Gemeinschaft mit dem Herrn sich ergötzen und mit besonderer Inbrunst den Herrn anbeten. In dem Bund der Gnade hat Jesus uns für die guten Tage ein reiches Mahl bereitet und er hat gleich gute Vorsorge getroffen, um uns in der Erniedrigung zu trösten, wie die folgenden Worte zeigen: Vor ihm werden Knie beugen alle, die in den Staub sinken, und wer sein Leben nicht fristete. (Wörtl.) In der Beugung vor Gott finden wir Erleichterung und Trost, wenn unsere Sachen am schlechtesten stehen; sogar inmitten des Grabesstaubs zündet das Gebet die Lampe der Hoffnung an. Aber freilich nur, wer sich huldigend beugt, empfängt das Leben; es gibt keine andere Weise, wie wir uns das Leben fristen und das ewige Leben gewinnen können.
31. Ein Same (Grundtext) wird ihm dienen; vom Herrn (Adonai) wird man verkündigen zu Kindeskind. Die Nachkommenschaft wird die Anbetung des Hocherhabenen beständig fortpflanzen. Das Königreich der Wahrheit wird niemals untergehen. Sowie ein Geschlecht zur Ruhe des Volkes Gottes eingeht, wird ein anderes an seiner Stelle aufstehen. Um die wahre apostolische Sukzession brauchen wir uns keine Sorge zu machen; die ist sicher genug.
32. Sie werden kommen. Die souveräne Gnade wird aus der Menschheit alle die bluterkauften Seelen hervorkommen lassen. Nichts wird den göttlichen Vorsatz durchkreuzen. Die Erwählten werden zum geistlichen Leben, zum Glauben, zur Vergebung, zur himmlischen Herrlichkeit kommen. In dieser Aussicht findet der sterbende Erlöser heilige Befriedigung. Du Diener Gottes, der du dich um die Seelen mühst und dabei zuzeiten denkst, du arbeitetest vergeblich (Jes. 49,4), fasse frohen Mut: Der ewige Ratschluss Gottes kann durch nichts gehemmt oder gar zunichte gemacht werden. Und sie werden seine Gerechtigkeit predigen dem Volke, das geboren wird. Keiner von allen denen, die durch die unwiderstehliche Anziehungskraft des Kreuzes zu Gott geführt werden, wird stumm sein. Sie werden im Stande sein, von der Gerechtigkeit des Herrn zu zeugen, so dass die zukünftigen Geschlechter die Wahrheit kennen werden. Die Väter werden ihre Söhne unterweisen, und diese werden die selige Kunde wieder ihren Kindern überliefern. Und der Refrain (der immer wiederkehrende Schluss) der heiligen Erzählung wird stets sein: dass er’s getan oder ausgeführt, vollbracht hat. Das herrliche Heilswerk ist getan; nunmehr ist Friede auf Erden und Ehre in der Höhe. Es ist vollbracht: dieser letzte Ruf des sterbenden Erlösers au die Welt (Joh. 19,30) klingt an den letzten Gedanken dieses Kreuzespsalmes an. Möge es uns gegeben werden, durch den lebendigen Glauben unsere Erlösung als in Jesu Tod vollbracht zu schauen.
Erläuterungen und Kernworte
Zur Überschrift. Die Hirschkuh der Morgenröte. Es wird sich nicht leugnen lassen, dass die Hirschkuh ein sehr passendes Emblem (Sinnbild) des leidenden und verfolgten Gerechten ist, der uns in dem Psalm entgegentritt. Dass unter der Hirschkuh die leidende Unschuld zu verstehen ist [wofür Hengstenberg manche Belege aus arabischen Schriftstellern anführt], wird dadurch über allen Zweifel erhoben, dass die Bösen und Verfolger in diesem Psalm, zu dessen eigentümlicher Physiognomie gerade die Tiersymbolik gehört, unter dem Bilde der Hunde, der Löwen, der Stiere, der Büffel erscheinen. Prof. E. W. Hengstenberg 1843.
Einer früh gejagten Hirschkuh oder (wörtl.) einer Hirschkuh der Morgenröte wird er (Christus) verglichen, weil die letzte Todesjagd frühmorgens mit ihm vorgenommen wurde, sobald es Tag wurde (Lk. 22,66). Ja schon an dem frühen Morgen seines Lebens angegangen, da er von Herodes zum Tod gesucht wurde (Mt. 2). Johann David Frisch 1719.
Die Alten, wie z. B. Hieronymus, haben über die Hirschkuh mancherlei merkwürdige Dinge zu sagen gewusst. Nach ihrer seltsamen Naturgeschichte besteht eine tödliche Feindschaft zwischen dem Hirsch und der Schlange. Der Hirsch soll durch seinen warmen Odem die Schlangen aus ihren Löchern locken, um sie zu vertilgen. Gewisse alte Grammatiker leiteten e}lafoj (Hirsch) harmlos von e)lau/nein tou`j o}feij (die Schlangen vertreiben) ab. Sogar das Verbrennen eines Stückes von einem Hirschgeweih vertreibt der Sage nach alle Schlangen. Wenn eine Schlange dem Hirsch entkommt, nachdem er sie durch seinen Hauch aus der Erde hervorgeht hat, sei sie noch viel giftiger als zuvor. Die Schüchternheit des Hirsches wird der absonderlichen Größe seines Herzens zugeschrieben, in dem man einen Knochen voll der Gestalt eines Kreuzes wähnte. Nach J. G. Wood 1869.
Die Worte "Hirschkuh der Morgenröte" werden einfach eine bekannte Melodie angeben; so bedarf es keiner allegorischen Künsteleien. Jean Calvin † 1564.
Zum ganzen Psalm. Dieser Psalm scheint eher Geschichte als Weissagung. M. A. Cassiodorius † um 675.
Eine Prophezeiung von den Leiden Christi und der Berufung der Heiden. Bischof Eusebius von Cäsarea † 340.
Dieser Psalm muss Wort für Wort, ganz und in jeder Hinsicht, allein von Christus ausgelegt werden, ohne Allegorie, Tropologie oder Anagoge. Reinhard Bake (Bakius) † 1657.
Wie dieser Psalm die Leiden des Messias wunderbar klar darstellt, so auch seine drei Ämter. Vom Anfang des Psalms bis zu V. 22 werden die Leiden Christi weitläufig beschrieben; das prophetische Amt Christi von V. 23-26. Was V. 26 von seinen Gelübden gesagt ist, hat Bezug auf sein priesterliches Werk; und im letzten Teil des Psalms wird das königliche Amt Christi enthüllt. William Gouge † 1653.
Als Luther diesen Psalm ergründen wollte, schloss er sich bei Salz und Brot drei Tage lang in seinem Zimmer ein. Die Seinen fragen, klopfen, rufen; der Tischler wird geholt und bricht die Tür auf. Zürnend fragt Luther, weshalb man ihn bei so wichtiger Arbeit störe. "Meinet ihr denn, es sei etwas Schlechtes, was ich vorhabe?" Reinhard Bake † 1657.
Hat David den 18. Psalm auf dem Gipfel seiner königlichen Macht und Herrlichkeit gedichtet, so hat er den 22. Psalm wahrscheinlich geschrieben zu jener Zeit, wovon er Ps. 18, V. 5-7 spricht, in einem Augenblick, wo das Leiden aufs Höchste gestiegen war und der Glaube zu erliegen drohte. - Wie hat David aber diesen Psalm beten und niederschreiben können? Dass diese Frage nicht so leicht zu beantworten sei, ergibt sich daraus, dass fast alle Exegeten für diesen Psalm ein anderes Subjekt suchen, orthodoxe sowohl wie heterodoxe. Alle diese Konjekturen beweisen nur, dass man Davids Leiden nicht zu würdigen versteht, weil man die Leiden des Exils oder die Leiden eines Jeremia zu Hilfe nimmt, um den Psalm zu erklären: dass man ebenso wenig den Glauben Davids versteht, weil man nicht begreifen kann, dass er an seine Errettung so große Hoffnungen geknüpft habe, wie sie im dritten Teil ausgesprochen sind, und dass man in David die vor Gott geltende Gerechtigkeit nicht erkennt, indem man zu dem Phantom eines "idealen Gerechten" die Zuflucht nimmt. Laut der Überschrift ist aber der 22. Psalm ein Lied von David und der alttestamentliche Exeget hat die Aufgabe, den ganzen Psalm Vers für Vers so zu erklären, wie er aus Davids Munde hervorgegangen ist. - Was von den Gläubigen des neuen Testaments gilt, dass sie gleich gestaltet sind dem Sohne Gottes (Röm. 8,29), dass Christus in ihnen lebt und eine Gestalt gewinnt; was Paulus von sich sagt, dass er die Ertötung des Herrn Jesu an seinem Leibe trage, auf dass auch das Leben desselben an ihm offenbar werde (2. Kor. 4,11), dasselbe gilt von den Gläubigen des alten Testaments. Paulus bedient sich Kol. 1,24 des eigentümlichen Ausdrucks, dass er auf der andern Seite das vollmache, was noch fehlt an den Trübsalen Christi in seinem Fleisch: Damit gibt er zu verstehen, dass alle Leiden um des Wortes der Gerechtigkeit willen "Leiden Christi" sind, dass die Propheten solche Leiden nach ihrer Seite hin getragen haben, dass sie in ihrem ganzen Wesen und Umfang hervorgetreten sind an Jesus Christus, und dass nun nach Christi Erscheinung dieselben Leiden sich aufs Neue wiederholen. So fremd der modernen Betrachtungsweise der Satz erscheinen mag, dass in David der Geist Christi gewesen und durch ihn geredet hat, so ist doch ohne diese Anerkennung ein Verständnis der Psalmen unmöglich. Ohne diesen Geist hätte David kein Typus von Christus sein können, so wenig wie Mose ohne diesen Geist hätte sagen können: Einen Propheten wie mich usw. Denn es hat kein Mensch an und für sich selbst irgendeine Ähnlichkeit mit Christus, dem Sohne Gottes, wenn nicht der Geist Gottes in ihm wohnt. Die Antwort auf obige Frage ist demnach gegeben durch folgende Schriftstellen: 2. Samuel 23,1.2; 1. Petr. 1,11.12; 2. Petr. 1,20.21; Prof. Johannes Wichelhaus † 1858.
Wie kann ein vom Geiste Gottes beseeltes Buch ohne diesen Geist verstanden werden? Kann doch ohne poetischen oder musikalischen Sinn niemand die Schönheit der Poesie würdigen oder edle Musik wahrhaft verstehen; eben so unmöglich ist es, dass ein psychischer (seelischer, natürlicher) Mensch (1. Kor. 2, 14), der Gottes Geist nicht hat, sein Wort verstehen sollte. Er mag mit den Grundsprachen, der Geschichte und den Altertümern der Bibel wohl vertraut sein, - dies alles bezieht sich nur auf ihren äußeren Leib. Er mag fähig sein, ihre hehre Schönheit zu würdigen, und von dem echt menschlichen Element in ihr, auch im Unterschied zu der griechischen und römischen klassischen Literatur, entzückt werden: ihre so treue, wahre Schilderung der mannigfachen Lebenserfahrungen mag sein Gemüt tief ergreifen, - dies alles geht gleichsam nur ihre Seele an; der Geist der Schrift ist Gottes Geist, der heilige Geist. Deshalb betete der Psalmist, wiewohl er mit der Sprache und den Ordnungen des Pentateuchs wohl vertraut war: Herr, öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz! (Ps. 119,18) Und daraus folgt, dass der "geistliche Mensch gerade das Wesentliche der Schrift wohl verstehen kann, auch wenn ihm in anderer Hinsicht, in Bezug auf das Verständnis dessen, was wir das Leibliche und das Seelische der heiligen Schrift nennen können, vieles mangelt, und ferner, dass alles bloß kritische (das Äußere erforschende), sprachliche, historische, ästhetische und menschliche Verständnis der Schrift - so wertvolle Dienste es dem geistlichen Verständnis derselben leisten kann - außer Stande ist, den wahren Gehalt des Wortes zu erfassen.
Ein unstudierter, einfältiger Christ wendet z. B. den 22. Psalm ohne weiteres auf Christus an und beachtet vielleicht kaum seine nächste Beziehung zu David. Er meint wahrscheinlich, David habe ohne irgendwelche vermittelnde Umstände und ohne Einschränkung einfach im Geiste die Leiden Christi gesehen. Eine solche Anschauung ist unvollkommen, aber sie ist nicht falsch; sieht sie die Sache doch gerade von dem Hauptgesichtspunkt aus an. Sie ist die vornehmste und wahre Anschauung, auf die Gottes Plan und Wille schließlich abzielt, wohingegen eine rein historische Erklärung dieses Psalms (wie treffend immer die psychologische Analyse ausfallen möge), die nicht den leidenden und triumphierenden Christus darin sieht, oberflächlich ist und ein falsches Bild gibt. Ohne Zweifel hat schon mancher unstudierte, aber vom Geist gelehrte Mann eine richtigere Exegese gegeben, als wohl unterrichtete, aber unerleuchtete Gelehrte. Doch müssen wir da ein Wort beifügen. Es gibt eine Gefahr der die Wahrheit vergewaltigenden Herrschsucht und des Eigendünkels bei Ungelehrten ebenso wie bei Gelehrten. Jemand kann ohne gelehrtes Wissen und zugleich ohne geistliche Einsicht und ohne Demut sein. Die Männer, die am demütigsten und am meisten geistlich gesinnt sind, werden höchst wahrscheinlich zugleich fleißige und gewissenhafte Forscher sein und sich mit Dankbarkeit alles dessen bedienen, was über die Schrift nach ihren verschiedenen Seiten Licht verbreiten kann. Und diejenigen, welche das tiefste Interesse für das wahre Wohlergehen der Gemeinde des Herrn haben, begehren in erster Linie eine wahrhaft geistliche, dann aber auch gleich in zweiter Linie eine gründlich unterrichtete und geistig regsame Predigerschaft. Adolph Saphir † 1891.
Es gibt eine Überlieferung, dass unser Herr am Kreuz diesen Psalm sowie die nächstfolgenden durchgebetet habe und dass er seinen Geist aufgegeben habe, als er bis zum sechsten Vers des 31. Psalms gekommen war. Wie dem immer gewesen sein mag, das ist klar, dass Christus, indem er die ersten Worte dieses 22. Psalms in seinen Mund nahm, den Psalm als auf ihn sich beziehend gestempelt hat. Ludolph der Kartäuser, um 350.
V. 2. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Wir stellen dem Joh. 16,32 gegenüber: "Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir", und Joh. 8,29: "Der mich gesandt hat, ist mit mir. Der Vater lässt mich nicht allein. Beides, die Worte hier wie die dort in Johannes, sind Worte Christi; und doch, wie scheinen sie sich zu widersprechen! William Streat 1654.
Dies Wort kann kein Mensch gründlich ausdenken und auslegen, sagt der selige Arnd, weil dergleichen Angst und Seelennot nie kein Mensch erfahren hat. Johann David Frisch 719.
Dass ein sonderlicher Verstand oder Meinung in diesen Worten ist, ist ein gewisses Zeichen, dass die Evangelisten mit Fleiß den Anfang dieses Verses anziehen, wie er in hebräischer Sprache steht, eine sonderliche Kraft dieser Worte anzuzeigen. Darüber kann ich mich nicht erinnern, dass ich irgend an einem andern Orte der Schrift gefunden hätte, dass dies Wort Eli, Eli, mein Gott, mein Gott, zweimal nacheinander wiederholt wäre. Martin Luther 1519.
Die Evangelien geben uns nur hie und da einen Wink, dass Jesus in der (palästinensisch-aramäischen) Volksmundart redete. Wir haben etliche Stellen, wo die Macht des aramäischen Wortes so unabweislich sich geltend machte, dass der in griechischer Sprache schreibende Verfasser nicht anders kann, als das wirklich gesprochene Wort wiederzugeben. So Talita kumi, Ephphata u. Das letzte Wort, dessen Markus am Kreuz gedenkt, ist: Eloi, Eloi, lima sabachtani (15,34). Es ist, um einen Stein erweichen zu machen, schon bloß diese Worte zu hören. Malerischeres, Majestätischeres ist nie über die Erde hingerufen worden. Auch Matthäus 27,46 gibt den verbis ipsis (den ureignen Worten) von Jesus Ausdruck. Von diesem (Gebrüll des Löwen aus Juda erzittert die Welt, - und keine andere Sprache kann solches in sich fassen, als eben die auf solche erschütternden Wirkungen allein angelegte hebräische Sprache. Eine Sprache, in der so viel gerungen und die so vielen Leidenden sich anpasst, ist allein weit genug, um die Größe der Schmerzen Jesu in sich aufzunehmen. Prof. Eduard Böhl 1873.
Warum. Der Dichter fragt nicht nach dem Grund oder Zweck seines Leidens, sondern drückt die Unbegreiflichkeit desselben aus. Obwohl er Gott festhält, ihn yli)" (mein Gott) anredend, und ihn nicht entbehren kann, hat doch Gott ihn zeitweilig verlassen, d. i. der Macht der Leiden preisgegeben, - nicht scheinbar, sondern wirklich, alle Erweisungen seiner hilfreichen Gemeinschaft einstellend und dadurch die Not und die Anfechtung aufs äußerste Steigernd. Lic. Hans Keßler 899.
Dies Warum ist nicht das der Ungeduld oder der Verzweiflung, nicht das sündige Fragen eines Menschen, der sich gegen seine Züchtigung auflehnt, sondern gleicht eher dem Schrei eines verlorenen Kindes, das nicht begreifen kann, warum der Vater es allein gelassen hat, und das sehnlich seines Vaters Angesicht wieder zu sehen begehrt. J. J. Stewart Perowne 1864.
Während die Heftigkeit seines Schmerzes und die Schwachheit des Fleisches dem David die Klage auspressten: "Ich bin von Gott verlassen" - gab der Glaube ihm ein, damit er dem Druck nicht unterliege, den Gott, von dem er sich verlassen fühlte, getrost als seinen Gott anzurufen. Ja wir sehen, dass er dem Glauben den Vorzug gibt; denn bevor er seiner Klage freien Lauf lässt, bricht er ihr schon die Spitze ab, indem er sich trotzdem zu seinem Gott flüchtet. Hätte er nur gesagt: "Warum hast du mich verlassen, Gott?" - so konnte es den Anschein haben, als mache er dem Herrn Vorwürfe und murre wider ihn. Ja dann wäre zu fürchten gewesen, dass die unmäßige Bitterkeit seines Schmerzes sein Herz vergifte. Nun legt er sich aber durch den Glauben einen Zügel an und nimmt sich zusammen, damit er das rechte Maß nicht überschreite. Es ist keine überflüssige Wiederholung, wenn er Gott zweimal seinen Gott nennt und auch zum dritten Male (V. 3) diese Anrede wiederholt. Der Glaube gewinnt nicht gleich beim ersten Ansturm den Sieg, sondern er geht erst nach langem, hartem Ringen als Sieger aus diesem Kampfe hervor. Jean Calvin † 1564.
Dies Wort "mein Gott" hat mehr in sich, als alle Weisen in aller Welt daraus herausbringen können. Alexander Wedderburn 1701.
Wenn Christus hier klagt, dass er von Gott verlassen sei, so haben wir das nicht so zu verstehen, als ob er wirklich von der ersten Person der Dreieinigkeit verlassen oder die hypostatische (Wesens-) Gemeinschaft zwischen der ersten und zweiten Person aufgehoben gewesen wäre oder Christus die Huld und Freundschaft des Vaters verloren hätte; sondern er zeigt uns damit, dass Gott es zugelassen habe, dass seine menschliche Natur jene schrecklichen Qualen durchmachte und einen schimpflichen Tod erlitt, wovon er ihn, wenn es ihm beliebt hätte, so leicht hätte erlösen können. Auch gingen diese Klagen nicht aus Ungeduld hervor, noch haben wir anzunehmen, dass Christus etwa Grund und Zweck seiner Leiden nicht gewusst hätte oder nicht voll Herzen willig gewesen wäre, solch Verlassensein in seinem Leiden zu tragen. Mit diesen Klagen will der Erlöser vielmehr nur die Bitterkeit seiner Leiden bezeugen. Und während der Herr im ganzen Verlauf seines Sühnleidens alles mit solcher Geduld ertrug, dass ihm nicht ein einziger Laut des Murrens oder Seufzens entfuhr, erklärt er nun, da sich seine letzten Augenblicke nahen, damit nicht etwa die Umstehenden denken, er sei durch eine höhere Macht gegen das Leiden unempfindlich gemacht, durch den Klageruf feierlich, dass er wahrer Mensch sei und als solcher wirklich leidensfähig, von seinem Vater verlassen in seinem Leiden, dessen Bitterkeit und Heftigkeit er aufs Stärkste empfand. Kardinal Robert Bellarmin † 1621.
Hat Gott wirklich Jesus am Kreuze verlassen? Dann entspringt aus dieser Verlassenheit Christi dem Volke Gottes einzigartiger und mannigfaltiger Trost, vornehmlich in zwei Beziehungen. 1) Weil Christus eine Zeitlang vom Vater verlassen war, werden wir nicht auf ewig verstoßen werden: denn um unsertwillen wurde er verlassen. 2) Christus’ zeitweilige Gottverlassenheit und sein Verhalten während derselben ist ein trostreiches Vorbild für betrübte Seelen, die sich auch von Gott verlassen fühlen. Mögen solche dies Vorbild gläubig anschauen. Wiewohl Gott den Herrn Christus verließ, stützte er ihn dennoch zur selben Zeit mächtig. Gottes freundlichen Blick musste er entbehren, nicht aber seine tragende Kraft. So wird es auch bei dir sein, lieber Christ. Dein Gott mag sein Angesicht von dir wenden, seinen Arm wird er dir nicht entziehen. Als jemand einen Knecht Gottes (Baines) fragte, wie es ihm innerlich gehe, antwortete er: "Dass Gott mich hält, erfahre ich, wiewohl ich alle lieblichen Gefühle entbehre." Unser himmlischer Vater verfährt darin mit uns, gerade wie wir manchmal mit einem Kinde, das eigensinnig und widerspenstig ist. Wir setzen es vor die Tür und befehlen ihm, uns aus den Augen zu gehen, und wiewohl es da draußen nun schluchzt und weint, rufen wir es doch nicht gleich wieder herein, bezeigen ihm nicht alsbald wieder Freundlichkeit, sondern lassen es zu seiner Demütigung eine Weile draußen. Trotzdem ordnen wir an oder lassen wir wenigstens zu, dass die Dienstboten es mit Speise und Trank versorgen. Da ist väterlich fürsorgliche Liebe, wiewohl kein freundlicher Blick wie früher. - Wiewohl Gott Christus verließ, vermochte dieser doch zur selben Zeit Gottes Tun als gerecht zu bezeugen (V. 4). Bist du nach deinem Maße in ähnlicher innerer Verfassung, wie Christus es in dieser Lage war? Kannst du nicht, auch wenn Gott dich tief verwundet, bekennen, dass er trotz alledem ein heiliger, treuer und guter Gott ist? Ich bin verlassen, aber ich bin nicht ungerecht behandelt. Nicht ein Tropfen von Ungerechtigkeit ist in dem ganzen Meer meiner Schmerzen. Wiewohl er mich verurteilt hat, muss und will ich ihm Recht geben. Siehe, wenn du so sprichst, - das ist auch Christus ähnlich. Joh. Flavel † 1691.
Durch den Glauben war es Christus möglich zu wissen, dass er von Gott geliebt war, und er wusste es, obwohl er den Sinnen und Gefühlen nach Gottes Zorn kostete. Glaube und Mangel an Empfindung der Nähe und Liebe Gottes sind miteinander nicht unvereinbar. Es mag jemand in gewissen Augenblicken und Zeiten nichts von Gottes Liebe fühlen, ja er mag Gottes Zorn empfinden, und doch kann zur selben Zeit Glaube vorhanden sein. John Row 1680.
Verlassenheit ist an sich nicht unbedingt ein Zeichen besonderer Sünde; denn Christus selbst erfuhr ihre ganze Bitterkeit. Eine gänzliche, ewige Verlassenheit ist die unsere nicht; eine zeitweilige haben die Besten dann und wann durchgemacht. Der Gerechte wird seines Glaubens leben, nicht seiner Gefühle. Richard Capel † 1656.
O wie müssen unsere Herzen vor Liebe schmelzen, wenn wir dessen gedenken, in welchen Seelennöten Christus für uns war! Gott hob die Wirkungen seiner Gnade in jener Stunde so auf, dass Jesus nichts von ihrer Kraft verspürte. Er empfing keinerlei Trost von seinem himmlischen Vater, keinen von seinen Engeln, keinen von seinen Freunden, und das in jener Stunde der größten Betrübnis, da er des Trostes so hoch bedürftig war. Timothy Rogers 1729.
Herr, du weißt, was es für ein Menschenherz bedeutet, verlassen zu sein: Du hast es selbst einst durchgemacht, als du klagen musstest: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! Wohl hattest du in der Tat göttlichen Beistand, aber wie es scheint, nicht jene innere Freude, die dich sonst erfüllte. Jetzt, da du in der Herrlichkeit bist, hab’ Erbarmen mit einem elenden Wurm, der nach dir mehr verlangt, als nach irgendetwas anderem. Herr, du hast schwer gebüßt zu meinem Besten; lass mir reichen Segen daraus zufließen! Joseph Symonds 1658.
V. 3. Der königliche Prophet sagt: Mein Gott, des Tages rufe ich. Manchen würde es als eine große Torheit erscheinen, zu jemand zu rufen und zu schreien, der sich die Ohren zuhält und nicht zu hören scheint. Dennoch ist diese Torheit des Glaubens weiser als alle die Weisheit der Welt. Denn wir wissen gut genug, dass der Herr, mag er zuerst noch so sehr nicht zu hören scheinen, eine sichere Zuflucht ist in der Not. Thomas Playfere 1604.
Wie kindlich ist dieser Ruf! Nur kindliche Herzen können ihn zu dem ihren machen. Das Kind weiß, dass des Vaters Herz sich sein erbarmen muss. Gerade das Vertrauen auf die Liebe des Vaters macht sein Bitten ungestüm. Es schweigt nicht, es lässt dem Vater keine Ruhe, weil es unbedingtes Vertrauen hat zu seiner Macht und seiner Willigkeit, die begehrte Hilfe zu gewähren. Das ist natürlich. Es ist die Schlussfolgerung des Herzens, die Berufung auf die innersten Naturempfindungen. Es ist auch schriftgemäß, nach den Worten des Heilands Lk. 11,13: So denn ihr, die ihr arg seid, könnet euren Kindern gute Gaben geben, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den heiligen Geist geben denen, die ihn bitten! John Stevenson 1842.
V. 3-4. Was hört Gott nun aus seinem Munde, jetzt, da Gott nichts von sich hören lässt, trotz allem Flehen um Erlösung? Kein Ton des Murrens über Gottes seltsames Verhalten entfährt ihm: Nein, Gott vernimmt ganz das Gegenteil, der edle Dulder rechtfertigt und rühmt den Herrn: Aber Du bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels! William Gurnall † 1679.
Hier sehen wir den Triumph des Glaubens. Der Heiland stand in dem wild bewegten Meer der Anfechtung fest wie ein Fels. Mochten sich die Wogen auch türmen, sein Glaube wuchs dennoch, gleich einem Korallenriff inmitten der Brandung, und wurde immer größer und stärker, bis er zu einer Rettungsinsel wurde für unsere schiffbrüchigen Seelen. Es ist, als sagte er: Es macht nichts, was ich auch leide: Mögen Stürme mich umtosen, die Menschen mich verschmähen, der Teufel mich versuchen, die Umstände mich überwältigen, ja Gott selbst mich verlassen: Gott ist und bleibt dennoch der Heilige, und ist kein Unrecht an ihm. John Stevenson 1842.
Wer die Wasserleitung im Hause hat, denkt, wenn das Wasser einmal ausbleibt, nicht, dass die Quelle versiegt sei, sondern dass die Röhren irgendwo verstopft oder zerbrochen sein müssen. Wenn unser Beten erfolglos ist, können wir sicher sein, dass der Fehler nicht bei Gott, sondern bei uns liegt. Wären wir innerlich reif für die Gnade, um die wir bitten, so würde er ohne allen Zweifel sie uns zu gewähren bereit sein; wartet er doch darauf, dass er uns gnädig sei. John Trapp † 1669.
V. 4. Erscheint es nicht seltsam, dass das Herz mitten in Dunkelheit und tiefer Bekümmernis in der Heiligkeit Gottes Trost finden sollte? Nein, denn Gottes Heiligkeit ist nur gleichsam eine andere Ansicht seiner Treue und Gnade. Und der bemerkenswerte Name "der Heilige Israels", der Gott so oft in der Schrift beigelegt wird, lehrt uns, dass er, der der Heilige ist, auch der Gott ist, der mit seinen Erwählten einen Bund geschlossen hat. Es wäre einem rechten Israeliten unmöglich gewesen, an Jahwes Heiligkeit zu denken, ohne sich auch dieser Bundesgemeinschaft mit Jahwe zu erinnern. "Ihr sollt heilig sein, denn Ich bin heilig, Jahwe, euer Gott", das waren die Worte, durch die die Kinder Israel an ihr Verhältnis zu Gott erinnert wurden, vergl. besonders 3. Mose 19,2 Wir merken etwas von dieser Empfindung in solchen Stellen wie Ps. 89,16-19; 99,5-9; Hos. 11,8 f.; Jes. 41,14; 47,4; J. J. Stewart Perowne 1864.
Mögen die Versuchungen noch o fürchterlich sein, so wird der Glaube dennoch nie einem bösen Wort wider Gott Gehör schenken, sondern Gott allezeit rechtfertigen. David Dickson † 1662.
Die kühne Metapher "der auf den Lobliedern Israels thront" knüpft an die ständige Benennung Jahves als des auf den Cherubim Thronenden an, 80,2; 99,1. Die Loblieder Israels auf seinen hilfreichen Gott sind der Thron, von welchem Jahve getragen wird. Eine richtige Sinnerklärung gibt die Nachbildung in 71,6: Von dir ertönt mein Loblied stets. Dem Flug des hochpoetischen Ausdrucks konnten allerdings schon die LXX nicht folgen. Prof. Friedrich Baethgen 1904.
V. 6. Zu dir schrieen sie und wurden errettet: in der Wüsten- und Richterzeit, für die das Schreien und Erhörtwerden charakteristisch war, vergl. Ps. 78. Lic. Hans Keßler 899.
V. 7. Ich aber bin ein Wurm - so unter die Füße getreten, ja zerstampft, misshandelt und gemartert, verspottet und verspien, dass ich mehr einem Wurm als einem Menschen gleiche. O Christ, nimm es zu Herzen, welch schmähliche Behandlung der Herr der Herrlichkeit erduldet hat, auf dass aus seiner Pein unser Heil, aus seiner Schmach unsere Herrlichkeit, aus seinem Strafleiden unsere ewige Wonne erwachse! Ohne Unterlass präge dieses Schauspiel deiner Seele ein. Dionysius der Kartäuser 1471.
Wenn unter den Hindus jemand über sich wehklagen und seinem Abscheu vor sich selber Ausdruck geben will, sagt er: "Was bin ich? Ein Wurm, ein Wurm! Ähnliche Redensarten sind: "Ha, der Stolze! Er verachtet mich wie einen Wurm: Ich möchte wohl zu ihm sagen: Wir alle sind Würmer." "Wurm, kriech aus meiner Gegenwart! Joseph Roberts, Bilder aus dem Morgenland 1835.
V. 8. Alle, die mich sehen, spotten mein . Stelle dir die schreckliche Szene vor Augen. Siehst du diesen buntscheckigen Haufen von Vornehmen und Geringen, von Juden und Heiden? Die einen stehen in Gruppen um das Kreuz und gaffen; andere sitzen gemächlich da und betrachten ebenfalls höhnisch den Gekreuzigten; wieder andere gehen hin und her: die Freude über das Geschehene lässt ihnen keine Ruhe. Ein Zug der Befriedigung ist auf jedem Antlitz zu lesen. Keiner schweigt; ja das schnellste Sprechen erscheint noch zu langsam. Des Redestoffs ist viel zu viel, als dass ein Glied ihn bewältigen könnte: Jede Lippe, jeder Kopf, jeder Finger ist jetzt eine Zunge. O ihr grausamen Römer, und ihr Juden, die ihr euern König mordet: Ist euch sein Tod nicht genug? Müsst ihr auch noch Spott und Hohn hinzufügen? An diesem Tage seid ihr eins geworden! Schreckliche Einheit, die euch als die vereinten Mörder des Herrn der Herrlichkeit brandmarkt! John Stevenson 1842.
Es hat in unseren Tagen Menschen gegeben, deren Verbrechen solche Entrüstung erregten, dass der Pöbel sie in Stücke zerrissen hätte, wenn er sie in seine Gewalt bekommen hätte. Doch wenn diese nämlichen gemeinschädlichen Verbrecher dem Urteilsspruch gemäß hingerichtet wurden, so fand sich, wenn auch nicht einer der Zuschauer gewünscht hätte, dass sie der gerechten Vergeltung entrinnen würden, doch auch keiner, der so alles Gefühl verloren gehabt hätte, dass er sie in ihren lezten Augenblicken noch verhöhnt hätte. Aber da Jesus leidet, spotten sein alle, die ihn sehen, verziehen die Lippe, nicken mit dem Kopf, lästern ihn, den Heiligen, als Übeltäter und verhöhnen sein Gottvertrauen! John Newton † 1807.
Verziehen die Lippe. Das Vorstrecken der Unterlippe gilt im Morgenlande als ein starkes Zeichen der Verachtung. In der Regel gebrauchen nur einfache Leute diese Gebärde. C. H. Spurgeon 1869.
V. 8-9. Wiewohl alle Qualen, die der Herr erduldete, sehr groß waren, so dass jede derselben die größte zu sein scheint und ein Vergleich zwischen ihnen nicht wohl angestellt werden kann, so scheint es doch vielen, und mit Recht, als sei diese Art des Leidens, nämlich die Marter, den Hohn und Spott zu sehen und zu hören, den man mit seiner Person und seiner Lehre trieb, die allerschmerzlichste gewesen; denn im Allgemeinen werden die Dinge als am schwersten zu tragen angesehen, für die wir das feinste Gefühl haben. Diese Leiden aber mussten das Zartgefühl des Herrn am tiefsten verwunden. Andere Leiden mögen wir begehren, um darin unsere Liebe zu beweisen; denn sie sind oft ein Mittel, Gottes Ehre zu vermehren, und diese geht dem Gläubigen über alles. Aber Gott gelästert, die ewige Wahrheit in Lüge verkehrt und die höchsten Erweisungen der Göttlichkeit und Majestät des Sohnes Gottes entstellt und geschändet zu sehen, das sind ihrer Natur nach Dinge, die, wenn sie auch etwa ertragen werden müssen, doch eben, weil sie die Ehre Gottes so stark angreifen, nie von jemandem zu leiden begehrt werden können, sondern von allen verabscheut werden müssen. Unser Erlöser, der von Eifer für Gottes Ehre beseelt war wie sollst keiner, fand demnach in dieser Art Leiden, mehr als in allen andern, viel zu verabscheuen und nichts zu begehren. Darum mag dieses Leiden für das größte von allen gehalten werden und für das, worin er die allergrößte Geduld erwiesen hat. Fra Thomé de Jesu † 1582.
V. 8-19. Von jeher hat die christliche Kirche in dem Psalm die Stimme ihres leidenden Herrn und Heilands gehört. Sie hatte gegründete Veranlassung dazu, weil der Dulder ohnegleichen seinen Schmerz am Kreuz in das Anfangswort des Psalms ausgeschüttet hat und weil außerdem die Einzelheiten der Leidensgeschichte mit den Schilderungen V. 8-19 so frappierend übereinstimmen, dass David Strauß in den letzteren das im Voraus fertige "Programm der Kreuzigung Christi" hat sehen können. Mag für die nachgeborenen Generationen in der Kirche der Zusammenhang der weissagenden "Schrift" mit den Einzeltatsachen der Erfüllungsgeschichte selbst in scheinbar geringfügigen Äußerlichkeiten ihres Vollzugs nicht so wichtig sein wie die großartige Harmonie im Gesamtverlauf der Heilsgeschichte, - die Anfangsjahrhunderte der Kirche, welche den letzteren zu übersehen weniger als wir im Stande waren, haben mit gutem Recht ihr Glaubensleben mehr an dem ersteren genährt und gestärkt. Das Neue Testament aber, das der Gemeinde Gottes auf allen Stufen ihres Lebens- und Entwicklungsganges zur Leuchte gegeben ist, enthält eben darum zahlreiche Hinweise auf beides, unterlässt also auch nicht, die Beziehungen des 22. Psalms zu Jesus’ Erlösungswerk aufzudecken: Mt. 27,35 ff.: Mk. 15,34; Joh. 19,24; Hebr. 2,11 ff. Lic. Hans Keßler 1899.
V. 9. Da sind ja genau die Worte angeführt, womit die Widersacher des Herrn ihrem Spott und ihrer Verachtung gegen ihn Ausdruck gaben (Mt. 27,43). Wie merkwürdig, die selben Worte in einem viele Jahrhunderte zuvor geschriebenen Psalm zu finden! John Stevenson 1842.
V. 10. Ja, Du bist ’s, der mich hervorzog aus dem Schoße usw. Was die Feinde (V. 9) höhnend rieten, nimmt die Glaubenserfahrung des Dichters ernsthaft an und auf. V. 10 begründet letzteres; so gewinnt ykIi affirmative Bedeutung: Ja. Lic. Hans Keßler 1899.
V. 10-11. In den Worten "Auf dich wurde ich geworfen gleich vom Mutterschoß" finden manche Ausleger (Keßler, Bäthgen) eine Anspielung auf den Brauch, ein neugeborenes Kind auf die Knie des Vaters zu legen, der es dadurch anerkannte, Hiob 3,12; 1. Mose 50,23: also so viel als: "Auf deine Vatersorge und -liebe bin ich angewiesen". James Millard
Zweimal nennt er seine Mutter. Überhaupt ist im Alten Testament nie von einem menschlichen Vater, d. i. Erzeuger, des Messias, immer nur von seiner Mutter oder Gebärerin die Rede. Und die Worte des hier Betenden, dass er vom Mutterschoße an mit all seinem Bedürfnissen und Anliegen einzig und allein auf Jahve gewiesen gewesen sei, besagen, dass sein Lebensanfang, auf die äußeren Umstände gesehen, ein armseliger war, was gleichfalls mit dem alt- wie neutestamentlichen Christusbilde übereinstimmt. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
Fortgesetzte Erweise der göttlichen Huld stärken den Glauben mächtig. Damit hielt auch Er sein Vertrauen aufrecht, der zu Gott sprach: Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen usw. Man vergleiche Ps. 71,5 f.: "Du bist meine Zuversicht, Herr, Herr, meine Hoffnung von meiner Jugend an. Auf dich hab ich mich verlassen von Mutterleibe an: Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen. Mein Ruhm ist immer von dir." Und was Obadja bewog, so zuversichtlich zu Elia zu sagen: "Ich fürchte den Herrn von meiner Jugend auf", 1. Könige 18,12), war nicht nur seine Gesinnung gegen Gott, sondern auch die Gewähr für Gottes Gunst gegen ihn, die darin für ihn lag. Wo altbewährte Freundschaft und Huld beharrlich fortdauert, kommt es zu mannigfaltigen Erweisen starker und standhafter, ja unauslöschlicher Liebe, so dass, auch wenn uns infolge voll Versuchungen der eine oder andere Beweis fraglich werden sollte, noch andere bleiben und den Glauben aufrecht halten. Es ist, als wenn ein Haus von vielen Säulen getragen wird: Werden auch etliche weggenommen, so bleibt es doch mit Hilfe der übrigen stehen. William Gouge † 1653.
Dankbar erkennt David Gnadenerweisungen an, die ihm vor langer Zeit erwiesen worden. Sie waren noch frisch in seinem Gedächtnis. Das ist ja gerade die Eigentümlichkeit und die Neigung eines dankbaren Herzens, solcher Wohltaten zu gedenken, welche anderen ganz aus dem Gedächtnis entschwinden oder für die sie überhaupt kein Auge haben. Die Wohltaten, welche Gott ihm in seinem ersten Lebensanfang, dann in seiner Kindheit und seinen jungen Jahren erwiesen hatte, und von denen man denken könnte, dass sie ihm jetzt, in seinem reifen Alter, ganz aus dem Sinn wären, die frischt er hier wieder in seiner Erinnerung auf. "Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen": Wie lange mochte das her sein? Vielleicht waren, als David den Psalm schrieb, schon sechzig Jahre seither vergangen. Er gedenkt der Gnadenerweisungen, die Gott ihm gewährt hatte, als er noch gar nicht zu denken oder die ihm erwiesene Güte zu erkennen fähig gewesen war. Das lehrt uns, in Nachahmung dieses heiligen Beispiels, die Wohltaten, die Gott uns, da wir noch unmündig waren, erzeigt hat, in den reiferen Jahren uns ins Gedächtnis zu rufen und dankbar anzuerkennen. Thomas Horton † 1673.
Hier beginnt nun die Anfechtung nachzulassen und gelinder zu werden und die Hoffnung sich auf den Sieg zu wenden, doch also, dass er einen sehr geringen und mit großer Mühe ersuchten Behelf und Aufenthalt gefunden hat. Denn weil er fühlte, dass sein Leiden ganz anders beschaffen war als aller Väter Leiden, so vor ihm gewesen, und er gar kein Exempel gleichen Leidens vor sich hatte, also, dass ihm dazumal nichts halfen die wunderlichen Taten Gottes, die er denen Vätern erzeigt hatte, kommt er auf sein eigen Tun, was ihm Gott sonderlich etwan hat getan, darinnen spürt er Gottes Gnade und Güte: Auf dass auch der sonderlich errettet würde, der da etwas Sonderliches gewesen wäre vor dem ganzen Israel unter allen andern auch sonderlich gelitten hätte. Darum findet er zuletzt, da er alles durchsichtet hat, Gottes wunderbare Taten an ihm selbst, mit denen er sich stärkt und einen Mut fasst, mit einem großen Vertrauen zu bitten und zu flehen, wie folgen wird. So scharf und genau lernt die Angst und Not zu suchen, auch die allerkleinsten Risse und Spältchen. Martin Luther 1519.
Alle die heftigen Schmähungen, womit die Feinde über unseren Herrn Jesus herfielen, hatten keine andere Wirkung als die, dass sie ihn bewogen, sich unmittelbar an seinen Vater zu wenden. Diese Berufung auf den Vater in den vorliegenden beiden Versen ist merkwürdig. Der Beweis, auf dem sie ruht, ist stark und folgerichtig. Er ist zugleich der vernunftgemäßere und der passendste, der nur geltend gemacht werden kann. Wir können ihn so umschreiben: Es ist jetzt mit mir als Menschen aufs Äußerste gekommen. Man sagt, Gott verleugne mich: Aber das kann nicht sein. Über dem ersten Augenblick meines Daseins waltete er mit zarter Fürsorge. Als ich ihn noch nicht einmal um Erweise seiner Güte bitten, noch gar nicht an solche denken konnte, überschüttete er mich schon damit. Hat er mich rein aus seinem Wohlgefallen ins Leben gerufen, so wird er mich sicher nicht im Stich lassen, da ich nun aus diesem Leben scheide. An ihren Schmähungen zum Trotz darf und will ich mich daher an ihn wenden. O Gott, meine Feinde erklären, du habest mich von dir gestoßen: Aber Du bist es, der mich aus meiner Mutter Leibe gezogen hat. Sie versichern, ich traute nicht auf dich und dürfe es auch nicht: aber Du bist es, der mich auf dich vertrauen ließ, da ich noch an meiner Mutter Brüsten war. Sie wollen mir eingeben, du erkenntest mich nicht als deinen Sohn an: Aber auf dich bin ich geworfen gleich vom Mutterschoß: Du bist mein Gott von meiner Mutter Leibe an. John Stevenson 1842.
Bei dem Kirchenvater Euseb von Cäsarea († 340) findet sich eine schöne Stelle, worin er zeigt, welch inniger Zusammenhang zwischen der Menschwerdung und dem Leiden des Herrn bestand und mit welch gutem Grunde der Heiland, als er am Kreuze hing, aus dem Gedanken Trost schöpfte, dass der Leib, dessen Gestalt jetzt hässlicher war, als der anderer Leute, und sein Ansehen wie der Menschen Kinder (Jes. 52,14), eben derselbe war, der durch den Vater mit solch einziger Ehre verherrlicht worden war, als der heilige Geist über Maria gekommen war und die Kraft des Höchsten sie überschattet hatte, und dass dieser jetzt so zerfleischte und entstellte Leib, wie er einst die Verwunderung der Engel gewesen war, so auf immer die Freude der Engel und, nachdem er die Unsterblichkeit angezogen, die Lebenskraft der Seinen bis ans Ende der Zeiten sein würde. John Mason Neale 1860.
V. 11. Vom Mutterleibe an bist Du mein Gott. In Israel erhalten schon Kinder den Namen hYfli)" (Ella) "mein Gott ist Jahve". Prof. Friedrich Baethgen 1904.
V. 12. Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe. Profanen Menschen scheint das ein seltsamer Grund, sagt ein lateinischer Ausleger; aber es ist ein trefflicher. Das wusste der Prophet, und darum machte er ihn geltend. John Trapp † 1669.
Diese Bitte, Ergebnis und Abschluss alles Vorhergehenden und insbesondere auf den Anfang zurückblickend, bereitet in ihrer Begründung (denn Drangsal ist nahe) den folgenden Abschnitt vor, der fast ausschließlich eine Schilderung der "nahen Drangsal" ist. Im Zusammenhang des Ganzen stellt sie sich als ein momentanes Aufatmen des Bedrängten dar. Lic. Hans Keßler 1899.
V. 2-12. Die Hauptwendungen des Gedankens in diesem 1. Teil zeichnen sich ab V. 4 durch das "Und du", V. 7 "Und ich", und V. 10 ein abermaliges "Ja, du". Prof. Johannes Wichelhaus † 1858.
V. 13. Zu dem Ausdruck "die Starken = die Stiere Basans" vergleiche man, wie Amos (4,1) die üppigen Frauen Samarias mit "ihr Kühe Basans" anredet. - Unter den Stieren Basans verstand der Prälat Ötinger die "dicken, fetten Hohenpriester". - James Millard
V. 13-14. Ein hilfloses Kind oder ein harmloses Lamm, von wütenden Stieren und heißhungrigen Löwen umgeben, - das ist ein passendes Bild des Erlösers, da er von seinen blutdürstigen Feinden umringt war. Thomas Scott † 1821.
V. 15. Alle Kraft hatte ihn verlassen. Es war solch ein Gefühl der äußersten Entkräftung, Mattigkeit und Ohnmacht über ihn gekommen, dass Worte nicht hinreichen und ein Bild angewendet wird, um es zu veranschaulichen. Wasser, das auf die Erde hingegossen wird, ist ein treffendes Bild der äußersten Schwäche, die unser Herr am Kreuz erduldete. Er war im Begriff, vor Schwäche ohnmächtig zu werden. Die Empfindungen beim Ohnmächtigwerden sind überwältigend. Eines Gefühls nur sind wir uns bewusst, nämlich unserer Schwäche. Alle unsere Gebeine sind schlaff: Es ist uns, als hätten wir nichts Festes mehr im ganzen Körper. Die Kraft der Knochen ist dahin, die Verbindung der Gelenke ist lose geworden, und die Muskelkraft ist geschwunden. Schrecklicher Schwindel erfasst uns. Wir sind unvermögend, uns aufrecht zu halten. Aller Mut hat uns verlassen. Unsere Kraft schwindet wie Wachs, das beim Zerschmelzen hinabtropft und verloren geht. So beschreibt Daniel (10,8), was er empfand, als er das große Gesicht schaute: "Es blieb keine Kraft in mir, und ich wurde sehr entstellt, und hatte keine Kraft mehr." Was jedoch das Schwächegefühl betrifft, das unser Erlöser empfand, gilt es, den erschwerenden Umstand zu beachten, dass ihm die Sinne nicht schwanden. Er verschmähte es, sein Leiden dadurch zu erleichtern, dass er sich der Bewusstlosigkeit in die Arme warf, wie er ja auch bei der Kreuzigung den Betäubungstrank von sich gewiesen hatte. Wenn das Bewusstsein aufhört, ist augenblicklich jedes Schmerzgefühl zu Ende. Unser Erlöser aber behielt sein Bewusstsein völlig und ertrug geduldig während langer banger Stunden die uns schon für Minuten unerträglichen Empfindungen, welche dem Ohnmächtigwerden vorhergehen. John Stevenson 1842.
Die Folter ist eine entsetzliche Erfindung und das Kreuz war eine Folter. Auf diese war er gespannt, bis, wie der Psalm sagt, alle seine Gebeine sich zertrennet hatten. Drei lange Stunden in der Lage zu stehen, in der er am Kreuze hing, die Arme in die Höhe gereckt, muss - ich habe es von solchen bestätigen hören, die es durchgemacht haben - eine fast unglaubliche Pein sein. Dass aber die Hände und Füße, diese wegen der in ihnen besonders stark zergliederten Nervenstränge so überaus empfindlichen Teile, so grausam angenagelt waren, musste seine Schmerzen über alle Maßen steigern. Nicht ohne guten Grund sagt ein römischer Schriftsteller: dolores acerrimi dicuntur cruciatus, die heftigsten Schmerzen nenne man eine Kreuzigung. Bischof Launcelot Andrewes † 1626.
V. 16. Meine Kräfte sind vertrocknet usw. Sehr bald muss eine heftige Entzündung die verwundeten Stellen ergriffen und sich dann schnell den straff gespannten Körperteilen mitgeteilt haben, bis der ganze Körper in Fieberhitze brannte. So wurden die animalischen Säfte ausgetrocknet und der Wassergehalt des Blutes aufgebraucht. Die durch die sengenden Strahlen der Sonne ausgedörrte Haut wurde unfähig, irgendwelche Feuchtigkeit aufzusaugen. Der Blutverlust an den Händen und Füßen musste die Austrocknung beschleunigen. Darum sagt der Heiland: Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe und meine Zunge klebt an meinem Gaumen. Das Fieber verzehrte den Rest seiner Kraft, und der Durst, diese unerträglichste aller leiblichen Entbehrungen, muss überwältigend gewesen sein. Sein Körper war seiner Empfindung nach wie eine Scherbe, die im Töpferofen ausgedörrt ist. Saft und Kraft waren dahin: Es war ihm, als seien alle Lebenssubstanzen aus seinem Körper herausgezogen. So schwach war er geworden, so ausgedörrt und vertrocknet, dass ihn bereits jene Klebrigkeit des Mundes ergriffen hatte, die eine der Vorbotinnen der unmittelbar bevorstehenden Auflösung ist. John Stevenson 1842.
Bestimmen zu wollen, was seine Empfindungen in jenen Stunden gewesen sein müssen, ist ein bedenklicher Versuch: Wir kennen sie nicht und mögen leicht zu kühn sein und irren. Die alten Väter der griechischen Kirche handelten in weislicher Absicht, da sie in der Liturgie die Aufzählung an der einzelnen Leidenszüge, wie sie uns in der Passionsgeschichte aufbehalten sind, und die an jeden einzelnen Zug sich allschließenden Gebetsseufzer um Gnade mit der Bitte schlossen: Di) a)gnw/stwn kopwn kai` basa/nwn e)le/hson kai` swson h(maj: Bei deinen unbekannten (von dir empfundenen, aber von uns nicht zu ermessenden) Mühsalen und Martern hab Erbarmen mit uns und hilf uns. Bischof Launcelot Andrewes † 1626.
Und in den Todesstaub legst du mich. Ein Lichtblick des Glaubens, der auch in den wütendsten Angriffen der Feinde die Hand Gottes walten sieht. Lic. Keßler 1899.
V. 17. Hunde haben mich umgeben. So groß und mannigfaltig war die Bosheit, die die Feinde des Herrn an den Tag legten, dass die Eigentümlichkeiten von zwei Gattungen wilder Tiere noch nicht hinreichten, sie angemessen zu schildern. Darum wird hier ein neues Bild eingeführt. Die Rotte von Bösewichtern, die das Kreuz umgibt, wird mit den Rudeln von Hunden verglichen, die in den morgenländischen Städten umherstreichen, alle Winkel durchsuchen, gierig selbst über das Aas herfallen und alles verschlingen. Oder ist hier vielleicht an die zwar im Alten Testament nicht erwähnten, sollst aber auch im Morgenland schon im Altertum bekannten Jagdhunde gedacht, die mit ihrem unfehlbaren Geruchssinn das Wild aufspüren, unverwandten Auges alle seine Bewegungen überwachen, kläffend in vollem Laufe ihm nacheilen und sich durch nichts von ihrem Entschluss abbringen lassen, ihre Beute zu Tode zu hetzen? Die morgenländische Art der Jagd war in alten Zeiten, wie noch heute, höchst mörderisch und unbarmherzig. Es wird ein großer, wohl Stunden im Umfang messender Kreis von den Jägern gebildet, die nun, alles vor sich her treibend, die Beute immer enger einschließen. Dann beginnt das grausame Niedermetzeln der armen gefangenen Opfer. So machten es die Feinde unseres Herrn: Schon lange, ehe sie ihn ans Kreuz bringen konnten, hatten sie, wie uns die Evangelisten berichten, die verschlagensten Pläne gefasst und auszuführen versucht, um ihn in ihre Gewalt zu bekommen. John Stevenson 1842.
Welcher Schmutz in den unregelmäßigen, unebenen, dunkeln Gassen (Jerusalems), welche totale Abwesenheit der Straßenpflege! Die Sanitätspflege ist den scheu blickenden, schakalähnlichen Hunden, die bei Tage trag herumliegen und bei Nacht durch ihr Geheul viel Verdruss machen (Ps. 59, 7), ausschließlich anvertraut. Diese halbwilden, herrenlosen Tiere, so widerlich sie sind, können deshalb nicht entbehrt werden. Nur wenn sie in einem Quartier gar zu zahlreich werden, macht man ihnen mit Peitschen und Gift den Krieg. Auch sind sie fast immer verwundet. Ohne gereizt zu sein, greifen sie nicht an, sehen aber tückisch aus. Dass der Hund bei den Israeliten als unreines Tier verachtet war und man gerne die gemeinen, rohen und unverschämten, aber feigen Menschen mit Hunden verglich (Ps. 22,17.21; Mt. 7,6; Phil. 3,2; Off. 22,15), lässt sich nach der Art dieser Rasse leicht denken. Auch ihre wenig wählerische Gefräßigkeit machte sie verächtlich (Spr. 26,11; 2. Petr. 2,22; Jes. 56,11). Prof. von Orelli, Durchs heilige Land, 1879.
Man vergl. auch zu V. 21 und Ps. 59,7.15. - James Millard
Sie haben meine Hände und Füße durchgraben. Die Texteslesart
Da LXX, Syr. und Vulg. wr)k ausdrücken, so ist schließlich wahrscheinlicher, dass die masoretische Lesart
Von allen Arten der Hinrichtung ist die Kreuzigung eine der schrecklichsten, gerade weil keiner der edlen Teile des Körpers, deren Verwundung alsbald den Tod bewirkt, davon unmittelbar betroffen wird. Die Hände und Füße, diese wegen ihres feinen organischen Gebildes so empfindlichen Glieder, werden mit Nägeln durchbohrt, die naturgemäß von beträchtlicher Größe sein müssen, um ihren Zweck zu erfüllen. Das Zerstören der zarten Fleischfasern, das Zerreißen der vielen feinen Nerven und das Bersten so vieler Blutgefäße müssen die heftigsten Schmerzen bewirken. Die Nerven der Hände und Füße sind aufs Engste mit den Nerven des ganzen Körpers verbunden; ihr Zerreißen muss sich daher im ganzen Organismus fühlbar machen. Man denke daran, welche Wirkung es hat, wenn auch nur eilt Nadelstich einen der äußersten Nerven trifft. Es kommt sogar vor, dass durch eine geringfügige Verletzung ein Krampf in den Gesichtsmuskeln entsteht, der die Kiefer so fest schließt, dass keine Gewalt sie öffnen kann. Als daher die Hände und Füße unseres teuren Heilands mit den Nägeln ans Kreuz geheftet wurden, müssen die heftigsten, beklemmenden Schmerzen alle Teile seines Körpers durchwühlt haben. Und in solcher Lage, nur von seinen durchbohrten Gliedern getragen, hatte unser Erlöser an die sechs Stunden unter unsäglichen Qualen auszuhalten. John Stevenson 1842.
Man vergleiche dazu, was Gott durch Jesaja, den Evangelisten des alten Bundes, bezeugt (Jes. 49, 16): Siehe, in die Hände hab ich dich gezeichnet. Wurden wir nicht eben damals seinen Händen unauslöschlich eingegraben, als diese für uns durchbohrt wurden? "Sie haben meine Hände und Füße durch graben" und so tief, dass selbst nach seiner Auferstehung noch die Nägelmale sichtbar waren und die Jünger ihre Finger in dieselben legen konnten. Manche denken, dass diese Narben auch an seinem verklärten Leibe bleiben, um bei seinem Kommen allen gezeigt zu werden: Sie werden mich ansehen, welchen sie zerstochen haben (Sach. 12, 10; Off. 1, 7). Mag dem sein wie immer, das ist gewiss: Die Auserwählten bleiben ewiglich dem Herzen Jesu eingeprägt. Thomas Adams 1614.
V. 18. Ich kann alle meine Gebeine zählen. Denn wie der erste Adam durch seinen Fall das Kleid der Unschuld verlor und hinfort andere Bedeckung brauchte, so ließ der zweite Adam sich herab, seiner irdischen Bekleidung entblößt zu werden, auf dass danach zu uns gesagt werden könne: Bringet das beste Kleid hervor und tut ihn an (Lk. 15,22). Propst Gerhoch von Reichersberg † 1169.
Sie aber schauen, und sehen ihre Lust an mir. Wir streiften eine Stunde lang durch diesen alten Herrschersitz (Sebastije, das alte Samaria) bis auf die oberste Terrasse, von der man eine fürstliche Aussicht bis zum Mittelländischen Meer hat. Dabei begegnete es, dass ich meine beiden Gefährten aus den Augen verlor und nicht gleich finden konnte. Einige Kinder boten mir ihre Führung all: Allein nachdem wir eine Zeitlang ohne Ergebnis zwischen den riesenhaften Kaktushecken herumgeirrt waren, merkte ich, dass ihre Aufmerksamkeit mehr als zweifelhaft war, und ging meine eigenen Wege. Da ich ihnen ein Bachschich unter solchen Umständen verweigern musste, fingen sie an, mit Steinchen und Holzstückchen nach mir zu werfen, deren ich mich aber leicht zu erwehren wusste. Da ich mutmaßte, die andern hätten schon den Rückweg allgetreten, zog ich mich zu den Pferden zurück, die unten bei der Kirche standen. Hier kam ich aber vom Regen in die Traufe. Denn da umdrängten mich gleich die erwachsenen Bewohner mit ihren "Antikas" und entfalteten dabei eine Zudringlichkeit, welche mir sonst nirgends vorgekommen ist und mir erst recht die Lust nahm, ihnen etwas abzukaufen. Da ich sie etwas barsch abwies, wie man denn leicht in solcher Mittagshitze etwas ungeduldig wird, wenn die Kerle sich überall anhängen, so wurden sie auch gereizt und liefen mir auf Schritt und Tritt nach, einen immer engeren Kreis um mich bildend. Ich sah den Moment kommen, wo sie zu Tätlichkeiten übergingen. Ich ließ mich nun unter einem Baume nieder und schälte eine Orange, als ob nichts wäre. Natürlich drängte ich auch hier alles um mich her und ich hatte die Tortur von mehr als fünfzig Augen auszuhalten. Wie unausstehlich es ist, von solchen Leuten unverwandt begafft zu werden, die jede Handbewegung, jede Miene mit ihren boshaften Bemerkungen und ihrem Gelächter begleiten und es darauf absehen, jemand zornig zu machen, das kann man sich im Abendland nicht vorstellen. Mir war es interessant für das Verständnis jener Klage des Psalmisten Ps. 22,18: Sie aber schauen und sehen ihre Lust an mir. Prof. von Orelli, Durchs heilige Land, 1879.
O wie verschieden von diesen kränkenden Blicken ist doch der Blick, den der erweckte Sünder auf Golgatha richtet, wenn er gläubig sein Auge zu dem erhebt, der dort für die Schuldigen sich in Todesangst wand und blutete und starb! Und welche Dankbarkeit sollte die sterbende und verderbende Menschheit erfüllen, da von ihm, der dort am Fluchholze hängt, der freundliche Ruf ertönt: Wendet euch zu mir (Engl. Übers.: Blicket auf mich), so werdet ihr selig, aller Welt Enden: Denn ich bin Gott, und keiner mehr (Jes. 45,22). John Morison 1829.
V. 19. Sie teilen meine Kleider unter sich. "Ganz nackt," sagt H. A. W. Meyer, "hingen die Cruciarii (die Gekreuzigten) am Kreuz, und ihre Kleider fielen als Spolien den Vollstreckern anheim. Das Lendentuch hat wenigstens keine alte Bezeugung." Die Kleider fielen den Kriegsknechten nach römischem Recht zu. Das Obergewand teilten sie wahrscheinlich in vier Teile, indem sie die Nähte auflösten. Vier Krieger wurden nach der Ordnung des römischen Waffendienstes ad excubias (als Wache) verwendet. Das Untergewand ließ sich nicht teilen, weil es gewirkt war. Damit kamen sie auf das Loswerfen und Würfelspiel. Prof. J. P. Lange 1864.
Der Spruch von der Verteilung der Kleider und der Verlosung des Gewandes gehört zu denen, die in ihrer scheinbar zufälligen Form des hebräischen Parallelismus, wo ein Glied nur unmerklich vom andern abweicht, sich erfüllt haben, wie namentlich das vierte Evangelium ausführt, wo auch V. 19 ausdrücklich angeführt ist. Prof. von Orelli 1882.
So geringfügig dieses Losen um das Gewandes Herrn an sich scheinen mag, ist es doch höchst bedeutsam. Es lehrt uns zweierlei, nämlich, wie hoch jener ungenähte Leibrock geschätzt wurde, und wie gering der, dessen Eigentum er gewesen war. Der Auftritt sagt deutlich: Dies sein Gewand gilt uns unendlich viel mehr als er. Wie es im Propheten von dem Judaslohn heißt: "Sie wogen dar, wie viel ich galt, dreißig Silberlinge. Ei, eine treffliche Summe, der ich wert geachtet bin von ihnen!" (Sach. 11,12 f.), so mögen wir in Bezug auf das Auslosen des Gewandes sagen: Wahrlich, wie billig war ihnen Christus! John Stevenson 1842.
V. 21. Errette meine Seele vom Schwert. Seele bedeutet hier wie an vielen anderen Stellen das Leben, denn an die Seele reicht weder Schwert noch andere Waffen, Mt. 10, 28. So wird auch Schwert hier insgemein für ein Mordzeug genommen. Und mag wohl sein, wie einige dafür halten, dass der Heiland den Speerstoß vor sich gesehen und mit diesen Worten Gott gebeten habe, das Leben vor dem Stoß von ihm zu nehmen, wie auch geschehen ist, Joh. 19,34. Johann David Frisch 1719.
In dem, dass er spricht: meine einsame, will er sagen, dass seine Seele alleine sei und von jedermann verlassen, dass niemand da sei, der ihn suche, seiner wahrnehme, noch tröste, wie der 142. Psalm V. 5 sagt: Schaue zur Rechten, und siehe, da will mich niemand kennen, ich kann nicht entfliehen, niemand nimmt sich meiner Seelen all. Wahrlich, es ist die Einsamkeit an ihr selbst ein Kreuz; viel mehr ist das verdrießlich, dass einer in solchen großen Leiden und Ängsten ohne Exempel und ohne Gesellen stehet. Aber wir alle müssen auch also verlassen sein und alleine stehen in einem jeglichen Leiden, oder ja in Todesnöten, und mit dem 25. Psalm V. 16 zum Herrn schreien: Wende dich zu mir und sei mir gnädig, denn ich bin einsam und elend. Martin Luther 1519.
Vom Hunde. Es ist für einen Europäer kaum möglich, sich davon eine Vorstellung zu machen, welch unerträgliche Page in den Städten und Dörfern des Orients die zahllosen Hunde sind, die die Straßen unsicher machen. Die Eingeborenen, die von früherer Jugend an daran gewöhnt sind, achten es kaum: Für den Fremden dagegen sind diese Tiere die größte Plage, der er unterworfen ist. Denn da diese Hunde nie in ein Haus kommen dürfen und herrenlos umherstreifen, sind ihnen alle die edlen Eigenschaften fremd, welche bei uns den Hund zum treuen Freund des Menschen machen. Die Rasse ist gänzlich entartet und nähert sich den Raubtieren. Sie sind wild, hinterlistig, blutdurstig und von unersättlicher Fressgier. Sogar ihre Leibesgestalt ist abstoßend hässlich. Die hageren, unedlen Formen, die wolfähnlichen Augen, die langen, schlaff herabhangenden Ohren, der steife, spitze Schwanz, der schmächtige Rumpf, an dem alle Knochen hervortreten, dagegen fast gar keine Bauchrundung sichtbar ist, das alles macht sie zu einem solchen Bild der Elendigkeit und Herabwürdigung, das zu der all gemeinen Stellung und den edeln Eigenschaften des europäischen Hundes in traurigem Gegensatz steht. Diese scheußlichen Tiere, die von dem Volk wegen ihrer Wildheit gefürchtet oder doch als unrein verabscheut werden, sind genötigt, überall umherzustreichen und auf Raub auszugehen, um ihr erbärmliches Dasein zu fristen. Sie leben gewöhnlich in Rudeln, und ihre natürliche Wildheit, die durch den Hunger und das Bewusstsein ihrer Stärke gesteigert wird, macht sie für den Fremden, der sich unerwartet von ihnen umgeben findet, zu höchst lästigen, ja gefährlichen Gesellen, da sie keinen Anstand nehmen, ihm alles, was er bei oder an sich hat, zu entreißen Und sogar ihn selbst, wenn er das Unglück hat zu fallen, und sich nicht gegen sie wehren kann, anzufallen und zu zerreißen. Die Bestien verschlingen, durch den Hunger getrieben, alles, was sie finden, sogar das Aas und die ekelhaftesten Sachen. Aller Unrat aus den Häusern, tote Tiere und dergleichen, das alles wird ja im Morgenland auf die Straße geworfen: Daran weiden sie sich. Auf nichts aber sind sie so erpicht wie auf Menschenfleisch, ein Mahl, das die in den despotischen Reichen Asiens herrschende Barbarei ihnen häufig bereitet, da die Leichname von Verbrechern, welche wegen Mordes oder Hochverrats, wegen Gewalttaten oder ähnlicher Dinge hingerichtet sind, selten beerdigt werden, sondern unter dem Himmel liegen, bis ihre verstümmelten Überreste von den Hunden weggeschleppt werden. George Paxton † 1837.
V. 22. Leute, die sich vor der Gewalt oder Grausamkeit anderer in großer Not befinden, rufen oft zu ihren Göttern: O rette mich von den Zähnen des Elefanten, aus dem Rachen des Tigers und den Tatzen des Bären, rette mich, rette mich! Joseph Roberts, Bilder aus dem Morgenland, 1835.
Und von den Hörnern der Wildochsen - hast du mich erhört. (Grundtext) "Erhört von" ist gedrängte hebräische Redeweise für "erhört und befreit von". Das im Perfekt stehende Zeitwort haben Luther und andere als Fortsetzung der Bitte des ersten Versgliedes aufgefasst und daher übersetzt: und erhöre (errette) mich von usw. Diese Auffassung ist aber kaum haltbar. Da der plötzliche Übergang ins Perfekt auffällt, hat der Engländer Thrupp 1860 die Vermutung aufgestellt, es sei statt ynitfyni(A (du hast mich erhört) ytiYfni(A, meine arme, nämlich Seele, zu lesen, als Gegenstück zu ytidfyxiy:, meine einzige, nämlich Seele, V. 20 b. Diese Konjektur, der sich Wellhausen und Bäthgen anschließen, ist sehr einleuchtend, erstens weil dann V. 21b und 22b einander ganz entsprechen, zweitens weil die beiden Adjektive Psalm 25,16 ebenfalls zusammengestellt sind. Auch scheint schon die Übersetzung von LXX. Symm. und Syr. (th`n tapeinwsi/n mou) auf dieser Lesart zu beruhen, - wie denn Bäthgen (Kommentar 1904, Seite XLIX) zu seiner Überraschung beobachtet zu haben bezeugt, dass die Auffassungen Neuerer in den meisten Fallen schon in der einen oder anderen der alten Übersetzungen vertreten sind. Dass die LXX nicht adjektivisch ("meine arme"), sondern substantivisch ("meine Niedrigkeit") übersetzen, wiewohl dies schlechter zu dem Zeitwort passt, dass sie also den Parallelismus zu V. 21b nicht beachtet haben, lässt darauf schließen, dass sie die Lesart nicht zur Verbesserung des Textes selber erfunden, sondern als Überlieferung vor sich gehabt haben. Wenn diese Lesart aber auch die LXX an Alter überragt, so kann sie dennoch ein scharfsinniger Verbesserungsversuch oder aber einer der ebenfalls nicht seltenen einen schönen, sehr passenden Sinn gebenden Schreibfehler sein und der gewöhnliche masoretische Text doch den ursprünglichen Wortlaut bewahrt haben. Wir halten an dem masoretischen Text fest. Das Perfekt wird das der Gewissheit sein. Der auffallende Wechsel erklärt sich aus dem Wechsel der Stimmung. Der Leidende hatte wohl (Hengstenberg) das "mögest du mich erhören, oder erretten" auf der Zunge. Da erhält er die Zusicherung der Erhörung, und so geht plötzlich der Wunsch in die Zuversicht über: "und von den Hörnern der Wildochsen hast du mich erhört." So leitet das am Schluss des Verses stehende Zeitwort zu dem folgenden Abschnitt des Psalms über. - Einige, z. B. Moll, Andreä, ziehen "und von den Hörnern der Wildochsen" noch zu dem Vorigen (der Bitte) und betrachten das letzte Wort als für sich allein stehend: (Ja,) du hast mich erhört! Diese Zerteilung der Vershälfte scheint weniger natürlich. - James Millard
V. 22-32. Die Art, wie der Beter die Dankfeier für seine Errettung beschreibt, ist nicht minder merkwürdig, als es die Schilderung seiner Leiden war. Nicht nur will er vor allem Volke sein Dankopfer bezahlen wie ein David, Hiskia und andere fromme Könige, so dass die Gottesfürchtigen sich an diesem sakramentalen Gnadenmahl laben. Der Schluss des Liedes V. 28-32 redet sogar davon, dass die Heiden von den Enden der Erde kommen und gleichfalls den Herrn anbeten werden: "denn des Herrn wird das Reich, und er herrschet unter den Heiden" (V. 29). Ja es scheint, dass die Errettung dieses Dulders und sein Lob des Herrn diese Bekehrung zuwege bringt (vergl. "Sie werden gedenken", wozu "mein Loblied" zu ergänzen wäre). Wie er seine Volksgenossen gemäß seinem Gelübde zum großen Opfermahl einlädt, so erwartet er auch die Heiden dabei als Gäste!
Wie also der Anfang und die Mitte des Psalms typisch, so ist der Schluss prophetisch. Gerade der prophetische Schluss aber muss darauf führen, dass wir einen vom Geiste gewirkten, nicht eingebildeten Typus hier vor uns haben. Der Beter war ein geistiges Haupt der Gemeinde: Sein Gebet endigt mit prophetisch erleuchtetem Spruch: so war er auch in seiner bitteren Leidensklage von einem höheren Geiste regiert und nicht unwert, ein prophetisches Vorbild dessen zu werden, der durch sein unerhörtes Martyrium das Reich Gottes über alle Welt begründet hat. Prof. Conrad von Orelli 1882.
V. 23. Ich will deinen Namen predigen. Ist wohl ein wunderlicher Prediger, sagt Lutherus, der erst geklagt hat, er werde vom Tode gefressen, will nach dem Tod erst anheben zu weissagen. Doch ist es in der Tat so geschehen. Johann David Frisch 1719.
Meinen Brüdern. Dies Wort weist uns auf beides hin: Wie tief sich der Sohn Gottes herabgelassen hat und wie hoch die Menschenkinder durch ihn erhöht werden. Denn es war für den Sohn des Höchsten eine tiefe Selbsterniedrigung, ein Bruder der Erdgeborenen zu werden, und für sie ist es eine wunderbare Erhöhung, Brüder des Sohnes Gottes zu werden: Denn Christi Brüder sind als solche Kinder Gottes, Erben des Himmels und Könige - nicht irdische, sondern himmlische, nicht zeitliche, sondern ewige Könige! Die innige Liebe Christi zu den Seinen, die uns in diesem Namen, den er selber ihnen gibt, entgegentritt, ist eine große Ermutigung und ein mächtiger Trost für solche, die von den Kindern die er Welt verachtet und verspottet werden, weil sie Christus vor den Menschen bekennen. William Gouge † 1653.
V. 25. Denn er hat nicht verachtet, noch verschmäht das Elend des Armen. Darum, wer da will der Same Israel sein, der muss arm sein und sich über der Gnade Gottes, in Christus verheißen, freuen. Dies Urteil stehet fest und aufs Allergewisseste: Unser Gott ist ein solcher Gott, der auf die Armen sieht. Und schaue hier dem Propheten zu, wie reich er von Worten und wie so gar fleißig er ist. Er hat nicht ein Genügen dran, dass er einmal gesagt hat: verachtet: setzet auch hinzu: verschmähet; und weiter spricht er, er habe sein Antlitz vor ihm nicht verborgen, und dass er erhöret sei, da er zu Gott schrie. Darüber gibt sich der Herr Christus oder der Prophet in der Person Christi, selbst zu einem Exempel und Vorbild, da er spricht, dass der Arme (redet von ihm selbst) geschrien habe und sei erhört worden. Als spräche er: Seht und lernt von meinem Exempel, der ich worden bin der Allerschnödeste und Verächtlichste unter allen Männern, und unter die Übeltäter gerechnet und aufs Höchste verachtet war, verschmähet, verworfen, vernichtet: Der bin ich nun aufs Freundlichste angesehen worden, angenommen und erhört. Darum so erschrecke euch diese arme Gestalt und Ansehen nicht, meines Exempels halben: Das Evangelium will solcher Gestalt Leute haben, die es von allem Übel erretten und selig machen soll. Wahrlich, o viel starker Vermahnung bedarf unsere Schwachheit, auf dass sie sich nicht entsetze und scheue, entweder sich herunterzuwerfen oder nicht verzweifeln, wenn sie erniedriget und heruntergeworfen ist, dass sie also durch dies Kreuz solche Gnade zuletzt überkomme. Martin Luther 1519.
V. 27. Es lebe euer Herz auf ewig: Segenswunsch des Gastgebers an seine Gäste, die nie mehr durch Verzagtheit angefochten werden sollen. Lic. H. Keßler 1899.
V. 28-29. Das eine große Lebensziel des Sohnes Gottes, das er durch alles hindurch unverwandt im Auge behielt, war die Ehre seines Vaters. Er kam, um seinen Willen zu tun, und er erfüllte ihn mit an der unwandelbaren Inbrunst seines Sohnesherzens. Wie hoch wird denn seine Freude sein, wenn er in seinem Reich der Herrlichkeit den Vater unermesslich verherrlicht sehen wird. Der Lobpreis, die Ehre und der freudige Dank, die an jenem Tage durch ihn als den Mittler der Welt, dem Vater werden dargebracht werden, wird es ihn empfinden lassen, dass der bittere Kelch seiner Leiden nicht einen Tropfen zu viel enthalten hatte, da es die Erreichung eines so herrlichen Zieles galt. Jeder Ton des Dankes, der zu dem Vater im Himmel aufsteigt, sei es von den Vögeln der Luft oder den Tieren des Feldes oder den Fischen des Meeres, oder von den Hügeln und Bergen, von den Bäumen des Waldes oder dem Strom im Tal, alles wird des Sohnes Herz mit Freude erfüllen, weil jeder dieser Töne den Ohren Gottes lieblich sein wird um deswillen, dass Jesus auch die Schöpfung von dem Fluch, der der Sünde des Menschen wegen auf ihr lastete, befreit und ihr eine noch lieblichere Harmonie ewigen Friedens wiedergegeben hat, als die, welche an ihrem Geburtstag auf der Schöpfung ruht und nun gar der Mensch, der erneuerte und wiedergeborene Mensch, dessen Seele zu retten er sein Blut vergossen und zu dessen Erlösung er den Tod überwunden! Wie wird der heilige Freudenchor der Erlösten, das klare, reine Halleluja der vernunftbegabten Kreatur, das Räucherwerk sein, das der Heiland dem Vater mit Wonne darbringen wird, als süßen Geruch, angenehm gemacht durch ihn, der einst außer dem Lager litt, auf dass er das Volk heiligte durch sein Blut. Wie sind doch in dieser bösen Welt die Kanäle verstopft und zerbrochen, durch die der Lobpreis Gottes fluten sollte! Wie wird Christus dann, zur höchsten Freude seiner Seele, alles gereinigt und wiederhergestellt sehen! Da wird keine Kälte mehr das Herz des Menschen befangen, kein Stottern mehr die Zunge ankommen, wenn es gilt, des Vaters Lob zu singen: Da wird alle Stumpfheit vom Verständnis, alle Schwäche von den Augen genommen sein, des Vaters Herrlichkeit zu schauen. Keine Hand wird lässig sein, kein Fuß mehr straucheln, wo es gilt, seine Gebote zu erfüllen. Gott die Herrlichkeit seiner Geschöpfe, seine Verherrlichung ihr williger, wonniger Dienst und alles dies der Lohn für Jesus’ Schmerzen! C. J. Goodhart 1848.
V. 30. Es werden sich vor ihm beugen alle, die zum Staube hinfahren. Das Partizipium (des Grundtextes) ist präsentisch: Der Sinn: "alle, die den Weg des Todes gehen, alle Sterblichen." Gewählt ist dieser Ausdruck statt "alle Menschen", weil die Absicht vorlag, im Folgenden noch auf die späteren Generationen hinzuweisen. Lic. H. Keßler 1899.
Wenn mit dem Staube auf das Grab hingedeutet ist, wie viele hervorragende Schriftausleger meinen, so ist der köstliche Gedanke dieses Versteils der, dass Scharen sterbender Sünder sich zur Anbetung Jahwes kehren und die, welche ihr Leben nicht fristen, d. h. sich nicht selber retten können, den ewigen Bergungsort suchen werden, welchen allein die finden können, die zum Thron der Gnade eilen. Reiche und Arme, sagt Bischof Horne († 1792), sind eingeladen, nämlich Gott anzubeten, und die Stunde kommt, da das ganze adamitische Geschlecht, alle, die im Staub der Erde schlafen liegen und sich nicht selber daraus erheben können, durch die Stimme des Sohnes Gottes werden lebendig gemacht und aus ihren Gräbern gerufen werden und vor Gott und seinem König die Knie werden beugen müssen. John Morison 1829.
V. 31. Zu Kindeskind. Im masoretischen Text steht nur: dem Geschlecht. Dies Wort steht auch Ps. 71, 18 ohne nähere Bestimmung von dem künftigen Geschlecht. Delitzsch unterscheidet in dem masoretischen Text drei Generationen: die der bekehrten Väter V. 30, die des kommenden Geschlechts V. 31, und das Volk, das noch geboren werden soll, auf welches die Heilskunde durch dieses (zweite) Geschlecht fortgepflanzt wird V. 32: Sie werden kommen (ins Dasein treten, wie 71,18) und verkündigen seine Gerechtigkeit dem Volke, das geboren wird, dass er’s vollbracht hat. - Andere lesen den Schluss von V. 31 und den Anfang von V. 32 (indem sie im masoretischen Text die Verschiebung eines annehmen) nach den LXX:, also V. 31 b: Vom Herrn wird man erzählen dem kommenden Geschlecht. V. 32 a: Und verkündigen wird man seine Gerechtigkeit dem Volk, das geboren wird. So werden die beiden Versglieder einander ganz parallel. -James Millard
V. 32. Dem Volk, das geboren wird. Was ist mir dies für eine Rede? Welches Volk wird nicht geboren? Ich halte meines Bedünkens, er wolle das sagen, dass die Völker weltlicher Könige angerichtet werden durch Gesetze, durch Sitten und durch Gewohnheiten. Aber damit wirst du nichts ausrichten, das da diente zu der wahrhaftigen Gerechtigkeit; es ist allein eine Fabel und ein Spiegelfechten der Gerechtigkeit, dies Wesen alles miteinander. Denn auch das Gesetz Moses konnte das jüdische Volk nicht anrichten als nur zu einem äußerlichen Schein und Heuchelei. Aber das Volk dieses Königs wird nicht mit Gesetzen zu einem äußerlichen Schein angerichtet, sondern es wird auf ein Neues geboren durch den Geist und das Wasser, zur neuen Kreatur der Wahrheit, welches denn die Kraft ist seiner Gerechtigkeit, die ohne Schein und Gleißen ist, welche allein im Geiste verkündigt und gepredigt wird. Denn so jemand geboren wird, das verändert sich ganz und gar, und wird neu, wie Christus sagt zu Nikodemus Joh. 3, 3: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Martin Luther 1519.
Homiletische Winke
V. 2. | Der Angstruf des sterbenden Erlösers. |
V. 3. | Unerhörte Gebete. 1) Der Prediger untersuche das Warum. 2) Er wecke die Funken neuer Hoffnung aus der Asche. 3) Er treibe zu desto inbrünstigerem Anhalten im Gebet. |
V. 4. | Was immer Gott tun mag, eins stehe uns fest: dass er heilig und preiswürdig ist. |
V. 5. | Gottes Treue in vergangenen Zeiten ein Pfand seiner Hilfe in den Nöten der Gegenwart. |
V. 5-6. | Die Heiligen der Vorzeit. 1) Was sie beseelte: sie trauten. 2) Was sie taten: sie schrien. 3) Was sie erfuhren: sie wurden nicht zuschanden. 4) Was sie uns zu sagen haben. |
V. 7-19. | sind von überraschender Hindeutungen auf das Leiden des Herrn. |
V. 12. | Des Gläubigen Nöte - die Schwingen seines Gebetes. |
V. 21. | Meine einzige. (Wörtl.) Der unersetzliche Wert der Menschenseele. |
V. 22. | Hilf mir aus dem Rachen des Löwen - grausamer Menschen, des Teufels, der Sünde, des Todes, der Hölle. |
V. 23. | Christus unser Bruder - unser Prediger - der Chorführer unserer Lobgesänge. Der herrliche Gottesdienst: das köstliche Predigtthema, der große Prediger, die selige Gemeinde. |
V. 24. | Dreifacher Dienst des Einen: Preiset ihn mit eueren Liedern, ehret ihn in eurem Wandel, scheuet ihn in euern Herzen. Dreierlei Träger dieses Dienstes: die Gottesfürchtigen überhaupt, -der Same Jakobs, das Gottesvolk, - der Same Israels, die Beter (die mit Gott ringen): Die drei sind eins. Gottes Verherrlichung die Frucht des Holzes, an dem Jesus starb. |
V. 25. | Eine tröstliche alte und doch ewig neue Erfahrungstatsache. |
V. 25a. | Eine von vielen gehegte Furcht als unbegründet erwiesen. |
V. 26. | Der öffentliche Lobpreis Gottes. 1) Eine süße Pflicht: Gott preisen. 2) Persönliche Willigkeit zu dieser Pflicht: Ich will usw. 3) Der köstliche Gegenstand des Preises: Dich will ich preisen. 4) Die Quelle dieses Lobpreises: Von dir geht mein Lobpreis aus. (Grundtext) 5) Der angemessene Ort des Lobpreises: in der großen Gemeine. |
V. 26b. | Gelübde. Was, wann und wie wir geloben sollen, und wie wichtig es ist, die Gelübde zu bezahlen. |
V. 27. | Ein geistliches Fest. Die Gäste, das Mahl, der Wirt, die volle Sättigung. |
V. 27b. | Vom Suchen zum seligen Finden. Was tun sie jetzt? Nach dem Herrn fragen. Was werden sie einst tun? Den Herrn preisen. Warum? Ihr Herz soll ewig leben. Gute Botschaft für Suchende. Predigt von C. H. Spurgeon, Botschaft des Heils, 11, Nr. 47. Baptist. Verlag, Kassel. |
V. 27c. | Euer Herz lebe ewiglich. Was soll leben? Die Quelle dieses Lebens. Die Art dieses Lebens. Warum ewiges Leben? Was wird dies Leben ausfüllen? Welcher Trost ist in diesem Worte jetzt für uns zu finden? |
V. 28. | Das Wesen der wahren Bekehrung. Die Gemeinde der Bekehrten aus allen Völkern. Die Ordnung der Bekehrung. (Siehe die Auslegung.) Der unzweifelhafte und weltumfassende Sieg des Christentums. |
V. 29. | Das Reich des Königs aller Könige in seiner jetzigen und seiner zukünftigen Gestalt. |
V. 30. | Gnade für die Reichen und Gnade für die Armen; aber alle verloren ohne dieselbe. |
V. 30b. | Und der seine Seele nicht am Leben erhalten kann. (Wörtl.) In geistlicher Anwendung sind diese Worte wohl geeignet, die Eitelkeit alles Selbstvertrauens zu enthüllen. Des Lebens Notdurft und Erhaltung. Predigt von C. H. Spurgeon, Botschaft des Heils, 11, Nr. 35. Baptist. Verlag, Kassel. |
V. 31. | Die ununterbrochene Fortdauer der Gemeinde des Herrn. |
V. 32. | Die Zukunftsaussichten der Gemeinde des Herrn. 1) Es werden Bekehrungen stattfinden. 2) Es sind ihr Prediger der Gerechtigkeit verheißen. 3) Der Segen soll fortgehen von Geschlecht zu Geschlecht. 4) Es soll das Evangelium von der vollbrachten Erlösung verkündigt und 5) Christus dadurch verherrlicht werden. |
Fußnoten
1. Der Text: "die Worte meines Stöhnens", d. h. die Worte, die ich stöhnend hervorstoße zeigt hingegen, dass das Schreien hier nicht als unartikuliertes gedacht ist.
2. Der Wechsel in der Redeform ist nicht (mit Luther nach den LXX) zu verwischen. Erst im Imperativ der höhnische Rat, seine Sache dem Herrn zu befehlen, dann Rede in der 3. Person: sie kehren dem Leidenden gleichsam schon in den Worten verächtlich den Rücken zu (Böhl). Der Schluss: "er hat ja usw." ist der höchste Sarkasmus.
3. Der Spott der Obersten Mt. 27,43 erweist sich gerade darin als besonders gottlos, dass sie Worte der heiligen Schrift zum Hohn anführen. Die Anführung ist nicht gleichlautend mit der Übersetzung der LXX, stimmt aber darin mit den LXX überein, dass das erste Zeitwort als Präteritum aufgefasst oder wiedergegeben ist: Er hat auf Gott vertraut. Die LXX scheinen, um den Wechsel der Person zu vermeiden, lgIa, gelesen zu haben.
4. So z. B. Delitzsch, vergl. Ps. 71,5. Die meisten Neueren übersetzen: der mich sorglos an meiner Mutter Brüsten liegen ließ.
5. Einige (z. B. Keßler) übersetzen den Versanfang mit den LXX: Viele (statt: große) Farren.
6. So Luther und fast alle neueren Exegeten nach der Übers. der LXX und der aus den alten Übersetzungen zu gewinnenden Lesart Wr)kfI Die mit wenigen Ausnahmen in den hebr. Handschriften vorliegende Lesart Wr)kfI "wie ein Löwe meine Hände und Füße" ist unbrauchbar. Vergl. die Erläut. und Kernworte zu V. 17. Merkwürdig ist allerdings, dass das Neue Testament die obige Übers. der LXX nirgendwo verwertet.
7. Zu Luthers Fassung: Meine Einsame oder Verlassene, die auch Hieronymus, Calvin, Hupf., Kautzsch, Schultz u. teilen, vergl. man 25,16; 68,7; 142,5; Joh. 16,32. Andere, wie Gesenius, Hitzig, Delitzsch, Baethgen, übersetzen wie Spurgeon: meine einzige, wozu man 1. Mose 22,2.12; Richt. 11,34 vergleiche.
8. Es wird entweder dieser (der Wisent) oder die gefährliche Rinderantilope gemeint sein. Von der Übers. Einhörner (LXX, Luther) hätte schon der vorausgehende Plural (von den Hörnern) abhalten sollen. - Zu dem Schluss des Verses vergl. die Erläut. und Kernworte zu V. 22.
9. Delitzsch meint, die Wahl der Melodie "die Hirschkuh der Morgenröte" sei vielleicht im Blick auf den sich in dem Psalm vollziehenden Durchbruch des Lichts durch die Leidensnacht erfolgt.