Scham- oder Schuldgefühl?
Autor: Thomas Schirrmacher
Thomas Schirrmacher gelingt es in dieser Studie aus kulturanthropologischer und theologischer Sicht zu zeigen, dass es vor dem Hintergrund der Bibel falsch ist, die überwiegende Orientierung von Gesellschaften an Scham oder Schuld gegeneinander auszuspielen. Beide Aspekte spielen im Alten und Neuen Testament eine wichtige und sich gegenseitig ergänzende Rolle. Anlass zur vorliegenden Schrift sind Schirrmacher zwei neuere Bücher zum Thema von Martin Lomen und Hannes Wiher. So stellt der Aufsatz in weiten Teilen auch eine wohlwollend kritische Wiedergabe der von beiden erarbeiteten Argumente dar. Das schmale Bändchen ist zugleich auch „Theologisches Lehr- und Studienmaterial“ des Bucer-Seminars, das Schirrmacher leitet. So macht es teilweise den Eindruck einer guten Materialsammlung mit Bibelstellenlisten, Literaturliste und Zitatensammlung. Worum geht es? In der Anthropologie unterscheidet man zwischen einer Orientierung an Scham und Schuld. In eher schamorientierten Gesellschaften, wie es etwa die orientalischen darstellen, ist z.B. das Urteil der Sippe oder Gesellschaft wichtiger für eine Entscheidung als in schuldorientierten, wo feststehende Normen die größere Rolle spielen, an denen sich der Einzelne ausrichtet. Schuldorientierte Gesellschaften lassen meist einen größeren Pluralismus zu und haben weniger hierarchische Strukturen. In schamorientierten stehen die Interessen des Einzelnen eher hinter denen der Gruppe zurück. Im Allgemeinen spricht man davon, dass westliche Gesellschaften eher schuld-, orientalische und östliche Gesellschaften eher schamorientiert sind. Solche Gesellschaften gelten im Allgemeinen als weniger komplex und eher dörflich. Parallel zu dieser Unterscheidung gibt es in den letzten Jahrzehnten eine vermehrte Kritik an der Schuldorientiertheit der westlichen Theologie, bis dahin, dass die Zentralstellung des Thema „Sünde und Vergebung“ für den christlichen Glauben bestritten wurde. Die Thematik gewinnt aber auch für die Missionswissenschaft an Bedeutung, denn es ist nicht nur die Frage, inwieweit das Schuldthema seinen Platz in Mission und Evangelisation haben soll, sondern auch, ob es unterschiedliche Verkündigung an eher scham- bzw. eher schuldorientierte Menschen geben soll. Schirrmacher hält beide Orientierungen für „komplementär“, wenn man die Heilige Schrift befragt. Schande ist dort regelmäßig die Folge der Schuld und Vergebung beendet die Schande. Allerdings kommt es darauf an, Gott die Ehre zu geben und die Anerkennung Gottes haben zu wollen und nicht in erster Linie die Anerkennung von Menschen. Durch Schuld ist die Ehre Gottes betroffen und der Mensch muss sich vor Ihm schämen. Weder Scham noch Schuld können aus der christlichen Theologie ausgeschlossen werden. Damit widerspricht Schirrmacher solchen Theologen, die in der besonderen Stellung von Schuld und Vergebung eine grundsätzliche Fehlentwicklung der abendländischen Theologie sehen. Im Blick auf die Missionswissenschaft sieht Schirrmacher die Notwendigkeit eines Eingehens auf die jeweilige Kultur in ihrer Orientierung, äußert sich aber nicht genauer dazu, wie man dem „Schamorientierten ein Schamorientierter“ werden soll. Relativ ausführlich behandelt er die im Zusammenhang stehenden Themen „Gewissen“, „Selbstliebe“ und „Individualismus“. Das Buch bietet einen schnellen Einstieg in die Thematik und zahlreiche wichtige Klarstellungen zu einem sonst wenig beachteten Thema.
Die Rezension/Kritik stammt von: Thomas Jeising
Kategorie: Sonstiges
Jahr: 2005
ISBN: 3-938116-06-4
Seiten: 96
€ Preis: 6,90 Euro