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Predigten zu 1. Timotheus 1,13
"Mir ist Barmherzigkeit widerfahren."
In einem hochgelegenen Bergdorf stand ich einst beim Kirchlein unter den stillen Ruhestätten vergangener Geschlechter. Ein Grabstein fesselte meine Aufmerksamkeit. Auf einfacher, weißer Marmortafel sind dort in markiger Schrift die vier Worte eingegraben: "Mir ist Erbarmung widerfahren". Ein Sonnenstrahl streifte die vergoldeten Buchstaben, dass sie helle hinunter grüßten in das dunkelnde Tal. Der stille Schläfer, der sich diese Grabschrift gewählt, war nicht etwa ein Verbrecher, sondern im Gegenteil ein reichgesegneter Knecht Jesu Christi, wie denn auch der Mann, der die schönen Zeugenworte erstmals geprägt hat, kein anderer ist als der heilige Apostel Paulus.
Als ich dort im Hochgebirge die goldne Inschrift durch den dämmernden Abend leuchten sah, deuchte es mich, das wäre so recht der Stempel, der allen Gotteskindern auch im Leben aufgedrückt sein sollte. Es ist ein Wort der Demut. Denn wer es rühmt, Barmherzigkeit erlangt zu haben, gibt damit zu verstehen, dass er arm, sündig, gering ist. Es ist aber auch ein Wort seliger Zuversicht. Erbarmung ist mir widerfahren. Gott hat sie mir zugewandt. Sie ist mein. Ein demütig gebeugter und dabei in Gott getroster Sinn ist die Signatur eines wahren Christen.
Herr, gib mir diesen Sinn, zeige mir meine tiefe Armut, aber auch den Reichtum Deiner Barmherzigkeit!
Zitate von Adolf Schlatter anzeigen
Damals, als Paulus den Kampf gegen die Christenheit führte, hieß das, was er dachte, seine völlig gewisse Erkenntnis und meinte, seine Überzeugungen seien unangreifbar, da die klaren Aussagen der Schrift sie begründeten. Jetzt aber nennt er alles, was er damals dachte, Unwissenheit. Von allem machte er sich ein völlig falsches Bild, von dem, was die Judenschaft war und mit ihrem Gottesdienst erreichte, von dem, was Jesus war und an seinem Kreuz geschaffen hat, von dem, was die Jünger Jesu waren und in ihrer neuen Gemeinde taten. Alles stellte er sich anders vor, als es war, alles so, wie es zu seinem eigenen Willen passte.
Aus der Unwissenheit können aber nur verkehrte Schritte entstehen; sie führt zur Verdammung der Gerechten, zum wahnsinnigen Wagen, das Gottes Werk stören will. Paulus hat aber im Rückblick auf das, was er einst getan hat, nicht nur von seiner Unwissenheit gesprochen, sondern sich auch ungläubig genannt. Hätte er nur in Unwissenheit gehandelt, so diente ihm das zur Entschuldigung. Dann bedurfte er nur das, dass ihm zur Erkenntnis geholfen wurde. In der Tat war er dessen bedürftig, der den Nebel seiner blinden Gedanken verscheuchte und ihm die Wahrheit enthüllte. Er brauchte aber eine noch größere Gabe als Unterricht, nämlich Vergebung, weil er nicht nur aus Unwissenheit, sondern aus Unglauben gehandelt hat.
Es gab auch in der Zeit, da er Verfolger war, Stunden, in denen die Decke riss, die seine wirren Gedanken über die Dinge bereiteten, in denen die Schrift so zu ihm sprach, dass sie das Wort Jesu bestätigte, und er der herrlichen Heiligkeit Jesu nicht widersprechen konnte und das Bekenntnis der Jünger an ihm seine Wahrheitsmacht bewährte. Solche Stunden, in denen ein Lichtstrahl zwischen unsere eigenen dunklen Gedanken hineinfällt und uns die Dinge anders zeigt, als wir meinen, tragen den Ernst der Entscheidung in sich. Dann ringen Wahrheit und Unwissenheit in uns miteinander und es kommt ans Licht, wohin unser Wille strebt, woran wir unsere Liebe hängen.
Unsere Unwissenheit und unser Unglaube stützen sich gegenseitig. Unsere verkehrten Gedanken widersetzen sich dem Glauben, den wir der Wahrheit schulden, und unser Unglaube, der ihr nicht gehorchen mag, macht unsere törichten Gedanken in uns fest. Wir durchschauen das, was in uns geschieht, nie ganz und können darum uns und die anderen weder entschuldigen noch beschuldigen. Aber keiner von uns urteilt redlich, wenn er nur seine Unwissenheit sich zum Schutze geltend macht. Sie hat immer ihren Bundesgenossen in unserem Unglauben, und deshalb gibt es keinen, der nicht das bedurfte, was Paulus als Jesu große Gabe preist, die Barmherzigkeit, die uns vergibt.
Nicht aus dem, was mir fehlt, entsteht, mein Herr und Gott, meine schwere Not, sondern aus dem, was Du mir gabst und ich nicht schätzte und wegstieß. Ich fühle freilich beständig die dunkle Beschattung und enge Begrenzung meines Blicks; aber die Klage, vor der es keine Rechtfertigung gibt, entsteht aus dem, was ich vergeblich weiß, aus der Erkenntnis, die unfruchtbar bleibt, weil ich inwendig ihr Gegner bleibe. Darum ist das Wort vom Kreuz in seiner Torheit mein Heil, weil ich für meinen Unglauben Dein Vergeben brauche und es empfange am Kreuz Deines Sohnes, unseres Herrn. Amen.