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Predigten zu Psalm 22,1

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern von meiner Rettung, den Worten meines Gestöhns?"

Autor: Charles Haddon Spurgeon (* 19.06.1834; † 31.01.1892) englischer Baptistenpastor
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"Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen."

Hier erblicken wir den Heiland in der tiefsten Tiefe seiner Leiden. Kein andrer Ort bezeugt die Bangigkeit und Schmerzen Jesu so laut wie Golgatha, und kein andrer Augenblick seiner großen Trübsal ist so voller Todesschrecken, wie der Augenblick, wo sein Schrei die Luft durchschneidet: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" In diesem Augenblick vereinigte sich große leibliche Erschöpfung mit der furchtbarsten geistigen Qual ob der Schmach und dem Fluch, durch welche Er hindurchgehen musste; und damit sein Leiden die höchste Stufe erreiche, erduldete Er eine innere Seelenangst, die alle Worte übersteigt, eine Bangigkeit, die in dem Gefühl des Verlassenseins vom Vater ihren Grund hatte. Dies war die schwarze Mitternacht seiner furchtbarsten Schrecknisse; jetzt stieg Er hinab in den tiefsten Abgrund seines Leidens. Kein Mensch vermag sich zu versenken in den vollen Inhalt dieser Worte. Manche von uns meinen zuweilen, sie müssten ausrufen: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" Es gibt Zeiten, wo das strahlende Lächeln unsers Vaters von Wolken und düstern Schatten verhüllt ist, aber wir müssen bedenken, dass Gott uns in Wahrheit nie verlässt. Es ist bei uns nur ein scheinbares Verlassensein von Gott, aber bei Christo war's ein wirkliches Verlassensein. Wir bekümmern uns über eine kleine Entziehung der Liebe des Vaters; aber Gottes wirkliches Abwenden seines Antlitzes von seinem Sohn - wer vermag zu schätzen, welch eine tiefe Seelenpein Ihm dies verursachte? "Lass mich Gottes Zorn erkennen, Teures Heil! in Deiner Not; Denn sie war der Hölle Brennen." Uns gibt gar oft der Unglaube diesen Angstruf ein; bei Ihm war's der Ausdruck der furchtbarsten Wahrheit, denn Gott hatte sich Ihm wirklich eine Zeitlang entzogen. O du arme, betrübte Seele, die sonst im Sonnenschein des göttlichen Angesichts wohnte, jetzt aber im Dunkel der Bangigkeit schmachtet, halte daran fest, dass Er dich nicht wirklich verlassen hat. Gott ist auch in Wolken so gut unser Gott, wie wenn Er im vollen Glanz seiner Gnade leuchtet; wenn aber schon der Gedanke, dass Er uns verlassen habe, uns in schwere Kämpfe hineinführt, wie groß muss erst das Leiden unsers Heilandes gewesen sein, als Er ausrief: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?"


Autor: Charles Haddon Spurgeon (* 19.06.1834; † 31.01.1892) englischer Baptistenpastor
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"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Psalm 22,2

Wir sehen unseren Heiland, ans Fluchholz genagelt, in der äußersten Not, und was nehmen wir da wahr?

Zuerst strahlt der Glaube unseres Heilandes hervor und fordert uns zu ehrfurchtsvoller Nachfolge auf. Mit beiden Händen hält sich der Herr Jesus an seinem Gott fest, indem er ausruft: "Mein Gott, mein Gott." Ach, dass wir geschickt wären, ihn darin nachzuahmen, uns an den Gott, der uns Trübsal sendet, so festzuklammern!

Auch misstraute der große Dulder nicht im geringsten der Macht Gottes, ihn zu erhalten; denn der hier gebrauchte Gottesname "El" bezeichnet Gott als den Starken, Mächtigen. Er weiss, dass Gott sein allgenugsamer Helfer und Beistand ist, und darum wendet er sich an ihn, gemartert von Seelenangst, doch nicht von der Pein des Zweifels. Er möchte durchaus wissen, warum er von Gott verlassen ist, aber bei alledem misstraut er weder der Macht noch der Treue Gottes. Warum? Was ist die Ursache dieser seltsamen Tatsache, dass Gott seinen Sohn zu einer solchen Stunde, in solchem Zustand allein lässt? Der Herr Jesus hatte doch keine Veranlassung dazu gegeben.

Der Heiland empfindet diese schreckliche Wirklichkeit, während er die Frage ausruft. Es war nicht etwa die drohende Gefahr, verlassen zu werden, was unserem großen Dulder den lauten Schrei auspresste, sondern er erfuhr dieses Verlassensein in voller Wirklichkeit. Mir war es, als hörte ich ihn sagen: "Ich kann es verstehen, warum mich der verräterische Judas und der furchtsame Petrus verlassen haben, aber du, mein Gott, mein treuer Freund, wie kannst du mich verlassen? Das ist das Schlimmste von allem, ja schlimmer als alles andere zusammen. Hättest du mich gezüchtigt, ich könnte es wohl ertragen, denn dein Angesicht würde mir dennoch leuchten; aber mich gänzlich verlassen! Warum das? Mich, der ich unschuldig, gehorsam und treu war - warum überlässt du mich dem Verderben?"

Ein Blick der Buße auf uns selbst und des Glaubens auf Jesum wird uns die Frage am besten lösen. Der Herr Jesus war von Gott verlassen, weil uns unsere Sünden von Gott geschieden hatten und er diese Sünden auf sich genommen hatte.


Autor: Charles Haddon Spurgeon (* 19.06.1834; † 31.01.1892) englischer Baptistenpastor
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Dieser Psalm ist mehr als alle anderen der Psalm des Kreuzes. Wegen der herzerschütternden Klagerufe, die aus den unergründlichen Tiefen Seiner Schmerzen aufsteigen, können wir sagen: »Keiner ist ihm gleich.« Er ist die fotografisch genaue Wiedergabe der traurigsten Stunden unseres Herrn, der Bericht von Seinen Sterbensworten und das Denkmal Seiner Freude, als Er das Leben aushauchte. Wir mögen hier in gewisser Weise auch Davids Anfechtungen finden; aber wie der Stern verblasst, wenn die Sonne aufgeht, so wird jeder, der auf Jesus sieht, höchstwahrscheinlich weder auf David blicken, noch nach ihm fragen. Vor uns haben wir sowohl die Beschreibung der Dunkelheit des Kreuzes als auch dessen Herrlichkeit, sowohl die Schilderung der Leiden Christi als auch der nachfolgenden Herrlichkeit. O, welche Gnade ist es, herzutreten zu dürfen, um dieses große Wunder zu betrachten! Wir sollten diesen Psalm mit aller Ehrfurcht lesen und wie Mose bei dem brennenden Dornbusch die Schuhe von unseren Füßen nehmen; denn wenn es in der Bibel heiligen Boden gibt, dann hier.

Die Juden spotteten, aber die Engel beteten an, als Jesus diesen furchtbar bitteren Schrei ausstieß. Wir erblicken unseren großen Erlöser ans Kreuz genagelt in Seiner höchsten Not, und was sehen wir? Lasst uns mit heiligem Staunen hinschauen und auf die Lichtstrahlen achten inmitten der schrecklichen Finsternis jener mittäglichen Mitternacht. Der Glaube unseres Herrn leuchtet auf und verdient es, demütig nachgeahmt zu werden; Er hält sich mit beiden Händen an Seinem Gott fest und ruft zweimal: »Mein Gott, Mein Gott!« Der Geist der Sohnschaft war stark in dem leidenden Menschensohn, und Er fühlte keiner- lei Zweifel in Bezug auf Seine Anrechte an Seinem Gott. Ach, könnten wir uns so fest wie Er an Gott klammern, wenn Er uns Anfechtungen schickt!

Der Mann der Schmerzen hat gebetet, bis Ihm die Stimme versagte und Er nur noch stöhnen und klagen konnte, wie es Schwerkranke tun, wie das Brüllen verwundeter Tiere. In welch äußerstes Leid wurde unser Herr getrieben! Wie stark waren Sein Geschrei und Seine Tränen, dass Er zum Sprechen zu heiser war! Wie groß muss Seine Angst gewesen sein, als Er merkte, dass Sein Gott, auf den Er vertraute, so weit von Ihm entfernt war und Ihm weder Hilfe gewährte, noch sein Gebet zu erhören schien! Dies war in der Tat Grund genug, Ihn »stöhnen« zu lassen. Doch es bestand Ursache für all dies, wie jeder, der in Jesus als seinem Stellvertreter ruht, sehr wohl weiß. Wir dürfen Gott an Seine früheren Freundlichkeiten gegenüber Seinem Volk erinnern und Ihn bitten, es weiterhin so zu machen. Das ist wahres Ringen; lasst uns diese Kunst erlernen. Seht, die früheren Heiligen schrien und wurden gerettet, und wir sollten in Bedrängnissen dasselbe tun. Das Ergebnis war ausnahmslos, dass sie mit ihrer Hoffnung nicht beschämt wurden; denn die Errettung kam zur rechten Zeit; und uns wird dasselbe glückliche Los zufallen. Das Gebet des Glaubens kann vollbringen, was sonst nichts kann. Lasst uns staunen, wenn wir sehen, dass Jesus dieselben Bitten vorbringt wie auch wir, wo Er doch in viel tiefere Leiden versank, als sie uns je begegnen könnten.


Autor: Alfred Christlieb (* 26.02.1866; † 21.01.1934) deutscher Theologe
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"Mein Gott! mein Gott! Warum hast du mich verlassen? "

Dieses Kreuzeswort gibt schwer Leidenden einen dreifachen Hinweis, den man dankbar beherzigen soll. - Jesus greift nach einem Bibelwort. Das vierte Kreuzeswort ist der Anfang des 22. Psalmes. David schildert da weissagend die bitteren Qualen und Leiden, die Jesus auskosten sollte. Jesus greift nach diesem Psalm, als nach dem Wort, das ihn Schritt für Schritt geleiten sollte, das ihm Stärkung, Leuchte und Wegweiser werden sollte im Tal der Todesschatten. - Das wollen wir in dunklen Stunden wohl bedenken. Menschenwort hilft dann nicht mehr. Gottes Wort allein gibt im Glutofen der Leiden Kraft, Labsal und Rettung. Wer in guten Tagen die Heilige Schrift treulich braucht, hat sie an bösen Tagen als Begleiter bei sich. - Weiter: Jesus hält daran fest, dass Gott sein Gott ist, wenn er auch nichts davon fühlt. Er empfand es tief: Gott hatte sich von ihm zurückgezogen. Sein Gefühl sagte: Er ist nicht mehr dein Gott. Von der köstlichen Nähe des himmlischen Vaters war nichts mehr zu spüren. Aber trotz alledem spricht Jesus zweimal: "Mein Gott!" - Hier haben wir einen neuen Hinweis für dunkle Stunden. Der Glaube trotzt allen Gefühlen des Jammers und betet: "Wenngleich ich auch nichts fühle von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht!" - Ein dritter Hinweis: Jesus enthüllt im Gebet sein Elend und seufzt nach einer göttlichen Antwort. Die Worte: "Warum hast du mich verlassen?" enthalten nicht eine Bitte um Wegnahme des Leidens, sondern nur das Verlangen nach einem Lichtstrahl in der Dunkelheit. Wir begehen oft den Fehler, vorzeitig um Wegnahme des Leidens zu beten. Es ist genug, wenn wir in schwerem Leiden nach Gottes Wort greifen, glaubend daran festhalten, dass Gott unser barmherziger Vater ist und um ein Lichtlein seufzen in unserer Finsternis. - Es geht doch durch Kreuz zur Krone!