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Predigten zu Matthäus 19,20
"Der Jüngling spricht zu ihm: Alles dieses habe ich beobachtet; was fehlt mir noch?"
Autor: Carl Olof Rosenius (* 03.02.1816; † 24.02.1868) schwedischer Laienprediger und Initiator einer neuevangelischen schwedischen Erweckungsbewegung
"Was fehlt mir noch?"
Viele sind religiös, aber sie sind nicht einmal erweckt und noch weit weniger Christen. Viele sind erweckt und in einer gewissen Weise bekehrt, nämlich von dem gewöhnlichen, freien, gottlosen Wesen der Welt zu einer ernsten Übung der Gottseligkeit, aber sie sind trotzdem keine wahren Christen, d. h., keine in Christus freigemachten, seligen Menschen.Mancher glaubt und bekennt Christus als unsere Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligung und Erlösung, weil er weiss, dass Christus dies alles sein soll, und dass man so glauben und bekennen muss, um ein vollständiger Christ zu sein. Mitten unter dem Glauben und dem Bekenntnis hat das Herz aber im geheimen seinen Trost und sein Vertrauen in etwas anderem, wie z. B. im Ernst der Bekehrung, in Reue, Gebet und Kampf. Wenn diese dann so sind, wie sie sein sollen, dann ist man so gläubig und getröstet - in Christus? Wenn es aber daran fehlt, kann man sich auch nicht Christi allein getrösten, dann bedeutet Er nichts. Das ist dann die schleichende Schlange der Eigengerechtigkeit, ein falscher Glaube, weil man nicht wirklich in Christus seinen ganzen Trost hat.
Als einen schönen, bezeichnenden Ausdruck dieser Wahrheiten lesen wir 1. Kön. 19,11-13 folgendes: "Und siehe, der Herr ging vorüber, und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, vor dem Herrn her; der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Wind kam ein Erdbeben, aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer, aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Da das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit einem Mantel und ging heraus und trat in die Tür der Höhle."
In diesem majestätischen Wunderbild sah der Prophet eine Schilderung und Deutung nicht nur seiner eigenen Führung, sondern auch der allgemeinen Haushaltungsweise Gottes innerhalb des Gnadenreiches auf Erden. Der Sturm, das Erdbeben und das Feuer sind nämlich eine treffliche Schilderung des Gesetzes und seiner Zeit und Wirkungen. Dagegen stellt der Klang des stillen, sanften Sausens wunderbar schön das Evangelium und dessen Zeit dar. Erstens stellt es im allgemeinen Äußeren die verschiedenartigen Zeiten und Regierungsweisen des alten und des Neuen Testamentes dar. Dann zeigt es im kleinen, im besonderen, im einzelnen Inneren eines jeden, der bekehrt wird, - wo auch immer eine alttestamentliche Zeit mit ihren Gesetzen, ihrem Zwang, ihren vielfachen Opferdiensten und ihrer Erwartung der Ankunft und gnadenvollen Offenbarung Christi vorangeht - eine alttestamentliche Zeit, die bei dem einen länger, bei dem anderen kürzer währt.
Bei manchem entsteht nämlich eine Art Sturmwind geistlicher Entdeckungen und Vorsätze, geistlicher Worte und Unternehmungen, so dass dieser Mensch anfängt, im Namen des Herrn auf andere einzustürmen, "Berge zu zerreißen und Felsen zu zerbrechen vor dem Herrn." Es ist dabei eine gute Absicht, aber wenig Besinnung, wenig Verständnis und wenig eigene Erfahrung vorhanden. Er ist nicht einmal wirklich erweckt, denn er hat noch viel Trost in sich selbst und große Hoffnungen auf den Fortschritt seiner Besserung. Es ist aber nur Wind, ein großer, starker Wind. "Der Herr aber war nicht im Winde."
Doch es kommt weiter mit dem Menschen. Er wird wirklich erweckt, es entsteht in seinem Innern ein Erdbeben, es entsteht ein Herzbeben, er bekommt zu sehen, dass er mit all seinem Stürmen nicht selbst wirklich ist und tut, was das Wort sagt. Er erschrickt, er strengt sich ernstlich an, jetzt zu tun und zu werden, wie ihm geziemt; aber es wird nichts daraus, es ist keine Kraft vorhanden, nur die Zerstörung des Erdbebens ist da. "Denn der Herr war nicht im Erdbeben." Es wird im Gegenteil ärger und ärger, denn durch das Gebot wird die Sünde lebendig und erregt in ihm allerlei Lust, sie wird mächtiger als zuvor. Dadurch entsteht ein Feuer, ein peinigendes Feuer der Angst sowie ein brennendes Feuer der Anstrengung, aber alles ist ebenso vergeblich. "Denn der Herr war nicht im Feuer." Jetzt entfällt der Mut, alle Versuche sind fruchtlos, alle Hoffnungen fehlgeschlagen, alles ist verloren; und nun beginnt das eigengerechte Ich verzehrt zu werden, ich soll, ich muss, ich sollte ja! Und "ich starb", sagt Paulus. Doch jetzt kommt das stille, sanfte Sausen, die erquickende, friedegebende und seligmachende Stimme des Evangeliums dem verzweifelten Herzen recht gelegen. Jetzt schmeckt es gut, von einer ganz unverdienten Gnade für das verlorene, in Verzweiflung daliegende Menschenkind zu hören, jetzt, wo aller Trost zu Ende ist, findet der rechte Trost Raum im Herzen; jetzt beruhigen sich die stürmenden Gedanken, die Qualen und Begierden, und neues Leben, Freude, Friede, Liebe, Vertraulichkeit mit dem Herrn, milde Augen, fröhliche Worte, neue geistliche Kräfte sind jetzt vorhanden. Jetzt ist der Herr da, jetzt verbirgt man das Antlitz über eine so unerwartete Hilfe, eine so unverdiente Gnade, und sagt: "Das hätte ich nimmer gedacht, dass es diesen Weg gehen sollte, und dass ich aus lauter Gnade - Gnade empfangen würde, als ich am allerunwürdigsten war". Oder man verstummt in seliger Scham über die große Gnade, wie es bei Hes. 16 heißt: "Du wirst daran gedenken und dich schämen und vor Schande nicht mehr deinen Mund auftun, wenn Ich dir alles vergeben werde, was du getan hast, spricht der Herr, Herr".
Wenn uns're Sünde, Herr, das Herz anficht Und will uns rauben den getrosten Mut, Lass fest uns schauen auf dein helles Licht, Das alles Dunkel tilgt durch seine Glut. Der Du viel grösser bist als Schuld und Not, Trägst ewig auch mit uns Geduld, O Gott!