Wo ein Zweiglein blüht    

1) Wo ein Zweiglein blüht,
darf man da nicht hoffen?
Steht da im Gemüt
nicht ein Türlein offen?

2) Künftiges verhüllt
ewig sich dem Blicke.
Leu im Dickicht brüllt,
stumm sind die Geschicke.

3) Immer stehen wir
neu vor Zaun und Mauer,
heute noch Begier, -
morgen eitel Trauer!

4) Doppelfinsternis
ist's, worin wir schweben -
ach, wie ungewiss!
Ach, wie preisgegeben!

5) Wer auf Sterne traut,
muss mit Sternen zittern.
Wer auf Träume baut,
sieht sein Haus zersplittern.

6) Wer es dennoch wagt,
sieht, bedeckt von Sünden,
wenn's ihm endlich tagt,
Traum und Sterne schwinden.

7) Einmal kommt der Tag,
der den Schleier lüftet,
wo mit einem Schlag
Frieden wird gestiftet.

8) Aber nur, wer stirbt,
nur der ganz' Verstummte,
nur, wer ganz verdirbt,
nur der ganz Vermummte,

9) Wird dem Labyrinth,
wird der Nacht entkommen -
was wir drüber sind, -
keiner hat's vernommen.

10) Und weil's keiner weiß,
kann er keinem sagen,
ob hier Müh' und Fleiß
einmal Früchte tragen.

11) Wird den Stern doch auch,
welchen wir bewohnen,
künftigen Todeshauch
nimmermehr verschonen!

12) Sag, es sei nicht wahr!
Wag, es zu bestreiten!
Allzu offenbar
sind die Nichtigkeiten!

13) Fragst du mich um Rat,
bin wie du verlegen,
sehe keinen Pfad.
Aber lass verwegen

14) Auf mein erstes Wort
mich zuletzt berufen,
denn wir finden dort
die versteckten Stufen:

15) 'Wo ein Zweiglein blüht,
darf man da nicht hoffen?
Steht nicht im Gemüt
da ein Türlein offen?'

Text:
Melodie: Unbekannt