Wenn wir, umrauscht vom Strom des Lebens    

1) Wenn wir, umrauscht vom Strom des Lebens,
dein Bild erblasst, du sanfter Hirt,
wenn ich, erfasst vom Drang des Strebens,
auf fernen Bahnen mich verirrt -
dann fragst du nicht, was fort mich trieb,
du fragst nur sanft: Hast du mich lieb?

2) Wenn ich in bangen Todesschauern
vor einem offnen Grabe steh,
und kaum vermag zu überdauern
der Trennung herzzerreißend Weh,
mir scheint's, als ob kein Herz mir blieb -
dann fragst du leis: Hast du mich lieb?

3) Wenn mir der Zweifel naht, der schlimme,
der alle Hoffnung mir verneint,
wenn mir verstummt die inn're Stimme,
wenn mir kein Stern von oben scheint,
mein Herze gleicht den leeren Sieb,
dann fragst du ernst: Hast du mich lieb?

4) Wenn oft aus dunklem Herzensgrunde -
mir selber unbegreiflich - steigt
ein finstrer Geist, der sich im Bunde
mit jeder schlimmen Neigung zeigt,
wenn mir erwacht der Sünde Trieb,
klingt's wie von fern: Hast du mich lieb?

5) Dann bricht der Tag mir an auf's neue,
dann steigt das Kreuz vor mir empor,
und nach dem Tränenbad der Reue
wird's in mir klarer als zuvor;
dann sprech' ich traurig; Herr, vergib,
du weißt, dass ich in Schwachheit lieb'!

6) Ja, wer dich könnte fest ergreifen,
dich, des Vollkomm'nen Ideal,
die heilge Liebe würd' ihm reifen
an deiner Liebe Sonnenstrahl.
Du, den an's Kreuz die Liebe trieb,
du fragst mit Recht: Hast du mich lieb?

Text:
Melodie: Wer nur den lieben Gott lässt walten