Schau an im Herbst den blätterlosen Baum    

1) Schau an im Herbst den blätterlosen Baum,
wie kahl und leer, du kennst ihn wieder kaum;
nur flüchtig streift dein Blick sein graues Holz
und sucht umsonst nach einst'gem Prunk und Stolz,
nach gold'nem Rot, das leuchtend ihn umwob,
und das der Nordwind von den Zweigen hob.

2) Und dennoch birgt sein trauerndes Geäst
den Lebenskeim, der sich nicht töten lässt,
der unberührt vom kalten Winter bleibt
und frühlingsfrisch bald neue Blätter treibt,
so saftig grün, in wärm'rer Luft erwacht,
dass jedes Aug' sich freut an ihrer Pracht.

3) Sieh, alles wissen dieser eitlen Welt:
wie mit dem Laubwerk ist's damit bestellt;
man achtet's hoch als größte Zier und Ehr' -
ja, selbst das Herz wagt keinen Anspruch mehr,
ob auch des Forschens kühn verweg'ner Flug
das Höchste selbst mit schnellem Wort zerschlug.

4) Doch wenn im Abendrot das Sein verglimmt,
wenn Spätherbstfrost ihm seine Farbe nimmt,
wenn Winterahnung kühl den Geist durchweht,
der vor der Lösung aller Rätsel steht,
dann sinkt das Wissen, wie ein welkes Blatt,
zur Erde hin, die es geboren hat.

5) Dann wird nur eins dir Trost und Anker sein,
der leise Ton in tiefsten Herzensschrein,
der Heimatklang, so tröstend sanft und lind,
der Glaube selbst, das lichte Himmelskind;
er wird als Lebenskeim nach Wintersnacht
den Frühling schaun in nie geahnter Pracht.

6) Den ew'gen Lenz! wo Offenbarung quillt,
die voll und ganz den Durst nach Wissen stillt.
Die dir es zeigt im Brunnen tief und klar,
dass irdisch' Wissen elend Stückwerk war
und dass allein des Glaubens starke Hand
uns aufwärts führt in's rechte Vaterland.

Text:
Melodie: Unbekannt