O Unschuld, Freundin meiner Jugend    

1) O Unschuld, Freundin meiner Jugend,
du kehrst nicht mehr zu mir zurück.
Mein Herz verlanget nun nach Tugend,
sucht sie mit unverwandtem Blick.
Im Lenz von nicht entweihten Jahren,
als fremd mir war des Lasters Bild,
hab ich der Unschuld Glück erfahren,
ihr Friede hat mein Herz erfüllt.

2) Und wenn ein Schau'r von Geistesfreuden
mir bebend durch die Seele fuhr,
und ich, des Lasters Pfad zu meiden,
der Gottheit, tief gerühret, schwur:
da keimte noch in meinem Herzen
der Weisheit und der Tugend Lust.
Der trübe Quell von Seelenschmerzen
ergoss noch nicht sich aus der Brust.

3) Die holden Tage, schnell verlebet,
entflohen sind zum Abgrund sie,
wo die Vergessenheit nur schwebet.
Dahin sind sie, - dahin sind sie.
Mit ihnen tausend andre Tage,
die keine gute Tat geziert.
Zerstäubt auf ihres Richters Waage
sind sie, wie sich ein Dampf verliert.

4) Entfohnes Gut, welch ein Verlangen
führt mich beschämt an deine Hand!
Noch glühn die schamerfüllten Wangen,
gerötet von des Lasters Schand'.
Ach, wenn der Rest von meinem Leben,
mit edlen Tugenden gekrönt,
mich nicht mir selbst wird wiedergeben:
werd' ich mit mir nicht ausgesöhnt.

5) Ein Pfad, der sich durch Blume windet,
und Schlangen deckt durch seine Pracht.
Dies ist das Laster. Ach, es schwindet
sein Glanz, und eine lange Nacht
bricht ein. - Komm, Tugend, weil der Sterne
hellschimmernd Auge noch verweilt!
Ein Wetter rollt den Donner ferne,
das schon dem Horizont enteilt.

6) Zu dir, Gott, fleh ich nicht vergebens,
denn du erbarmst Gefallner dich.
Du stärkst mich auf dem Pfad des Lebens,
senkst deinen guten Geist in mich.
Und, aufgerichtet von dem Falle
durch dieses Geistes Schöpferkraft,
streb' ich nun, dass ich dir gefalle,
und werde durch ihn tugendhaft.

Text:
Melodie: Wie groß ist des Allmächtgen Güte