O schmölze doch mein ganzes Leben    

1) O schmölze doch mein ganzes Leben
und ginge völlig auf in dir!
Dann könnt' ich meinen Blick erheben,
du wärest ganz wie Bruder mir.
Das letzte Bangen wär' entflogen,
ich wollte Worte zu dir sagen,
als hätten wir in vor'gen Tagen
an einer Mutter Brust gesogen.

2) O, dass ich dich doch d'rausen fände!
Damit der kalten, fremden Welt
das Nachtgewölk der Zweifel schwände,
das vor den blöden Blick sich stellt.
Sie schaute mich nur schmerzbetroffen,
nur in der Buße Tränengüssen:
o, warum darf ich dich nicht küssen
vor aller Augen frei und offen!

3) Ausströmen möchte meine Liebe –
ein volles Meer in enger Brust –
dass Keinem mehr verborgen bliebe
die Fülle meiner Himmelslust!
Denn keiner würde fürder höhnen,
wenn solch ein Brunnen sich ergösse
und wo ein Herz sich nur erschlösse,
das müsste sich mit Gott versöhnen.

4) O, wenn ein schwacher Strahl der Sonne
die ganze Welt durchleuchten kann:
was sieht denn Niemand meine Wonne
und meine Seligkeit mir an!
O, dass mit Namen ich's zu nennen,
mit Worten ich's zu sagen wüßte!
Ein glühendes Verlangen müsste
rings in der kalten Welt entbrennen.

5) Dann sprängen die verschloss'nen Türen
weit auf. der finst're Wahn zög' aus.
Dann wollt' ich dich mit Freuden führen
in meiner Mutter wüstes Haus.
Du solltest dann mich fürder lehren,
wie ich der Schwestern Herz bezwänge,
bis jene Liebe sie durchdränge,
von der sie jetzt sich höhnend kehren.

6) Dann, wenn sie ihrer Schuld gedenken,
wenn ihre Herzen sich erneu'n,
dann wollt' ich dich mit Moste tränken,
mit einem neuen Freudenwein.
Mit Tränenmost, mit Most der Buße,
mit neuer Liebe ed'lem Weine:
gebettet lägen im Vereine
der Mutter Kinder dir zu Fuße.

7) O, dass der armen, kalten Erde,
dass ihr Erlösungstag erschien –
da fromm, wie eine große Herde,
all' ihre Kinder vor dir knie'n!
O, dass der letzte Schleier fiele!
Müsst' ich mich d'rausen nicht verhüllen.
Dann müsste sich die Straße füllen
mit Pilgern nach dem Lebensziele!

Text:
Melodie: Unbekannt
Bibelstelle: Hoheslied 8,1-2