Hätt ich Beredsamkeit    

1) Hätt ich Beredsamkeit
der Menschen weit und breit,
wenn ich wie Engel redte,
doch wäre solche Zier
ein nichtigs Tun bei mir,
so ich nicht Liebe hätte.
Es wäre nur ein Ton,
der kommt und fliegt darvon,
im Fall ein Erz erklinget,
nur einer Schellen Schall,
die mit vergebnem Hall'
uns in die Ohren dringet.

2) Weissagt' ich recht und wohl,
wär aller Gaben voll
und könne Berge regen
durch meines Glaubens Kraft,
so würde nichts geschafft
der Liebe Mangel wegen.
Ließ ich den Armen hin,
das was ich hab und bin
und liebe nicht von Herzen,
so würd' es allen sein
nichts als ein blinder Schein,
ein bloßer Schimpf und Scherzen.

3) Die Lieb' ist jederzeit
begabt mit Freundlichkeit,
lässt bösen Eifer bleiben.
Die Liebe scherzet nicht,
sie denkt an ihre Pflicht,
kann nicht viel von ihr scheiden,
nicht ungebärdig sein,
sie lässt den Geiz nicht ein,
lässt sich nicht zornig machen,
kann nicht nach Schaden stehen,
weiß auch nicht umzugehen
mit ungerechten Sachen.

4) Der Wahrheit ist sie huld,
glaubt, hofft, und trägt Geduld.
Drum wird sie auch bestehen,
die wahre Liebesbrunst,
wenn Sprachen, Witz und Kunst
und alles wird vergehen.
Des Menschen Müh' und Fleiß,
das was er kann und weiß,
ist Stückwerk nur zu nennen.
Man wird es nach der Zeit,
wenn die Vollkommenheit
wird angehn, nicht mehr kennen.

5) Ich, als ich war ein Kind,
war kindisch auch gesinnt
und tat was Kinder machen:
nach dem ich ward ein Mann,
da hab' ich weg getan
der Jugend leichte Sachen.
Es sieht jetzt unser Sinn
durch einen Spiegel hin,
steht weit vom rechten Lichte.
Hernach ist's also nicht,
man wird das Angesicht
recht sehn zu Angesichte.

6) Was ich jetzt sehen kann,
ist Stückwerk um und an
in unsrer Schwachheit Orden.
Nach dieser Zeiten soll
ich's kennen recht und wohl,
wie ich erkannt bin worden.
Was aber uns anjetzt
am allermeisten nützt,
ist Glauben, Hoffen, Lieben,
das Lieben sonderlich,
in dem ein Herze sich
soll besten Fleißes üben.

Text:
Melodie: Unbekannt