Erhebe dich, gebeugter Sinn    

1) Erhebe dich, gebeugter Sinn,
getrübtes Auge, blicke hin,
wo Gott, nach öder Winternacht,
ein Paradies hervorgebracht!

2) Den Wald verhüllt' ein dunstig Grau,
falb rauschten Fluten auf der Au,
der Nebel zog mit langem Schweif,
das frühe Veilchen starb im Reif'.

3) Vergebens seufzt der Vögel Chor, -
kein grünes Schirmdach brach hervor,
der holde Wonnemond war da,
doch keine Wonne fern und nah:

4) Da breitete die Segenshand
der große Vater über's Land.
Der Erde Fesseln sprangen los
und Leben drang in ihren Schoß.

5) Scheu flieht der Strom in seine Bucht,
der Nebel in verborgne Schlucht.
Rein strahlt der Himmel, groß und hehr
ergießt die Sonn' ihr Feuermeer.

6) Nun sprengt den schwarzen Ast der Baum.
Mildduftig, wie ein Morgentraum,
sieht man ein jugendliches Grün
den lauen Hain sanft überziehn.

7) Und durch das Grün reicht silberweiß
der Fruchtbaum dir sein Blütenreis.
Die Lerche steigt, die Nachtigall
weckt den entschlafnen Widerhall.

8) Darum erhebe dich, mein Herz,
bei eignem und bei fremden Schmerz:
wie selbst beim Meineid' einer Welt,
e r ewig Wort und Treue hält.

9) Wie seine Huld vielleicht verzeucht,
die matte Kraft darniederbeugt,
dass höher dann empor sie ringt
und doppelt Heil sein Wohltun bringt.

10) Und schwebst du überm Erdenleid,
dann preis in stiller Einsamkeit,
dass solcher Sinn dir ward gewährt
und Lieb' und Freundschaft, die ihn nährt.

Text:
Melodie: Unbekannt