Ein Abgrund hat sich aufgetan    

1) Ein Abgrund hat sich aufgetan
dem Auge meiner Seele.
Verdorrt steht meines Lebens Bahn,
wie ich es mir verhehle.
Doch Wahrheit alle Schleier bricht,
weh mir, die Liebe hab ich nicht!

2) Hat sich mein Herz so manches Mal
verzweifelnd dran gehangen,
wenn meine Sünden ohne Zahl
gespenstisch auf mich drangen:
es ist doch wahr, es ist kein Traum,
mein Lieben ist nur Dunst und Schaum.

3) Ja soll noch Rettung dir geschehn,
du mein unsterblich' Wesen:
musst fest du in den Spiegel sehn,
musst ohne Zucken lesen
in deiner Brust die dunkle Schrift.
Viel besser Dolch, denn schleichend Gift!

4) Wem tust du wohl? Ist es nicht nur
dem Armen, der sich beuget?
Hast jemals freudiger Natur
du milde dich geneiget?
Demütig nur und kummervoll
erpresst man dir den schnöden Zoll.

5) Freiwillig kam es dir nicht ein,
dass, ob die Lippe schweiget,
ob unter süßer Demut Schein
sich mild die Rechte zeiget,
es dennoch gibt kein stolzer Spiel,
denn eigner Güte Selbstgefühl.

6) Kalt wie der Tod kannst, wehe dir,
die Hilfe du versagen,
wo nur ein üppig Zweiglein dir
zu frisch scheint aufzuragen.
Du, dem des Nächsten Splitter sticht!
Und siehet den eignen Balken nicht!

7) Greif an, es ist die höchste Zeit,
greif an mit mut'gen Händen.
Des Richters Waage liegt bereit,
dein Lauf wird schleunig enden!
Zeigt jeder Atemzug nicht an,
wie kurz gemessen deine Bahn?

8) Dass ich so elend bin und schwach,
nie hab ich es empfunden,
als da die letzte Stütze brach
in diesen schweren Stunden.
Doch eine gibt es, eine doch,
die eine kann mich retten noch.

9) So lass, du aller Sünden Damm,
du treuster Freund von allen,
mich nicht als modermorschen Stamm
so unversehens fallen!
O, flöße einen Tropfen Saft
in meine Adern, höchste Kraft!

10) Dass nur zu den Lebend'gen ich
darf ganz zuletzt mich stellen,
nur eben zu den Toten mich
verzweifelnd nicht gesellen,
ein Tropfen für die Adern leer,
du bist ja aller Gnaden Meer.