Des Tages Sterbestunde sinkt abermals herab    

1) Des Tages Sterbestunde
sinkt abermals herab,
ein Lied von unserm Munde
ertöne um sein Grab!
Sein Grab ist nach der Gräber Art.
Ein Raum, wo Graus und Ruh' sich paart.

2) Willkommen sei die Stille,
die jede Seel' erhebt,
in der der hohe Wille
des Edeln dreifach lebt!
Gesegnet, wer im Dämmerlicht
sein Herz befreit, und Fesseln bricht!

3) Mit lockenden Geräuschen
verführt das Herz der Tag.
Es lässt sich willig täuschen,
und folgt dem Auge nach.
Bald winkt ihm Hespers goldne Hand,
der Abend naht. Sein Glück war Tand.

4) Im stolzen Sonnenstrahle
verirrt der Blick sich leicht,
wenn schäumende Pokale
der Wollust Göttin reicht,
und, von Sirenen eingewiegt,
der gute Geist im Schlafe liegt.

5) In schützendes Gefieder
schließt uns die Finsternis.
Der Abend gab uns wieder,
was uns der Tag entriss.
Wenn unsrer Brust, von Gram erfüllt,
der Seufzerstrom der Reu' entquillt.

6) Jetzt sinken alle Schleier
des Daseins und des Glücks.
Der Wahrheit huldigt treuer
der Sohn des Augenblicks.
Und Demut, ohne Lohn und Kranz,
verdunkelt stolzer Taten Glanz.

7) Des Hasses wilde Flamme
verlöscht ein Bruderkuss.
Dass sie das Herz verdamme,
sagt still ein Genius.
O, wehte doch des Abends Ruh'
Versöhnung allen Feinden zu!

8) Dort tönt in öder Hütte
des Elends Seufzerlaut,
in dieser Leiden Mitte
nur Gott, uns nicht vertraut.
Beglückter Freund der Dämmerung,
reich ihm des Trostes Schlummertrunk.

9) Schon winkt aus weiten Fernen
manch' heil'ges Licht herab.
Bald kränzt ein Heer von Sternen
dich, Erde, unser Grab.
Heil dem, der vor dir nicht erschrickt,
du, Grab, wenn er gen Himmel blickt.

10) Mit andachtsvollem Gruße
begrüßt das Sternenheer!
In göttlichem Entschlusse
weck uns dies Weltenmeer!
Verzage nicht, du Kind der Zeit
und wirke für die Ewigkeit!

11) Die Sterne Gottes wallen
in schöner Sphärenbahn.
Doch Sterne können fallen,
wenn ihnen Sterne nahn.
Den freien Geist vernichtet nichts,
er schwingt sich auf zum Quell des Lichts.

12) Nun schwebe, schwebe näher,
im Sterngewande, Nacht!
Der Zukunft sel'gen Seher
verlangt nach deiner Pracht.
Er staunt in jenen ew'gen Raum,
und Tod wird ihm ein Morgentraum.

13) Euch alle, schöne Welten!
Durchfliegt er selig einst.
Dort wird dir Gott vergelten,
der du hier schuldlos weinst.
Gib deinen Gram dem Strom der Zeit,
und hoff' auf die Unendlichkeit.

14) Schaut auf zu jener Lichter
erhabnen Harmonie!
Schließt eure Kreise dichter,
zur Lieb' und Sympathie.
Schwört euch im letzten Abendschein,
der Menschheit ewig wert zu sein!

Hespers = Hesperos, griechische Bezeichnung für den Abendstern, den Planeten Venus

Text:
Melodie: Unbekannt