Zunge - das Beste und das Schlechteste

Ein reicher Mann hatte viele Gäste geladen. Er beauftragte seinen Küchenchef, für den Festschmaus das Beste zu kaufen. Dieser ging auf den Markt und kaufte Zungen ein. Nur Zungen und nichts weiter. Er ließ sie als ersten, zweiten und dritten Gang herrichten. Die Gäste lobten die feine Zusammenstellung des Mahles und die originelle Idee. Aber sie hatten es natürlich langsam über, nur Zungen vorgesetzt zu bekommen. Das ärgerte den Gastgeber und er ließ den Küchenchef zu sich kommen und fuhr ihn an: "Habe ich dir nicht gesagt, du sollst das Beste kaufen?"

Der antwortete: "Was gibt es Besseres als Zunge? Sie ist das Band im bürgerlichen Leben, der Schlüssel zu allen Wissenschaften, das Organ, das Wahrheit und Vernunft verkündet. Der Zunge ist es zu verdanken, wenn Städte gebaut, wenn die Menschen gelehrt und gebildet werden." - "Das ist wohl wahr", gab der Gastgeber zu. Und er beauftragte den Küchenchef, für den nächsten Tag einzukaufen, was am schlechtesten sei.

Dieser kaufte wieder Zungen ein; nur Zungen. Und wieder ließ er sie für das Festmahl zubereiten und auf verschiedene Weise servieren. Da die gleichen Gäste geladen waren, verloren sie sehr schnell den Appetit. Der Gastgeber fühlte sich blamiert und verhöhnt. Sehr zornig ließ er den Küchenchef rufen: "Was hast du dir denn nun gedacht?"

Und der antwortete: "Die Zunge ist auch das Schlechteste, was es auf Erden gibt, die Mutter allen Zanks und Streites, die Quelle aller Prozesse, aller Meinungsverschiedenheiten, das Instrument, das zum Krieg hetzt und zur Vernichtung führt. Sie ist das Organ, das Irrtum verbreitet und üble Nachreden. Städte werden durch sie zerstört, Menschenleben vernichtet und Menschen zu bösen Dingen angestiftet."

Auch für uns gilt dieses Entweder-Oder: Die Zunge, das Schlechteste oder das Beste. So kommt es darauf an, was wir durch sie bewirken. Denn: "Die Zunge ist ein kleines Glied und richtet große Dinge an." (Johannes Kuhn)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1086
© Alle Rechte vorbehalten