Wo bleibt der Hahnenschrei der Christen?

Wenn der Hahn kräht, wird es Morgen. Wenn der Hahn nicht kräht, ist entweder der Morgen noch nicht da - oder mit dem Hahn stimmt etwas nicht. Ich habe den Eindruck, dass mit den Hähnen und Hennen im Hühnerhaus der christlichen Gemeinde heute eine Menge nicht stimmt. Sie bemerken den kommenden Morgen nicht. Sie treten nicht durchs Loch nach draußen. Sie fliegen nicht auf Pfähle und Pfosten, um den Morgen anzukrähen und die Menschen im Dorf zu wecken, da es Tag wird.
Die einen hocken auf ihren Stangen und schlafen. Sie meinen, es müsse schon vor Anbruch des Morgens taghell sein, um Anlass zu haben, die Stimme zu wetzen. Die andern sind zwar wach, aber sie hocken nur da und putzen ihr Gefieder - als sei davon schon je ein Mensch wach geworden, um den Morgen zu begrüßen, dass ein Hahn oder Huhn im Stall seine Federn putzt. Und dann gibt es da welche, bei denen jedes Zeitgefühl für Abend und Morgen abhanden gekommen ist. Sie streiten nämlich auf der Stange um den besten Platz und hacken aufeinander los. Wer etwas von Hühnern kennt, der weiß, dass so etwas nur bei Einbruch der Nacht passiert, wo man sich einen guten Schlafplatz erkämpfen will. Wenn im Stall gegackert, geflattert und gehackt wird, bricht die Nacht herein - das weiß der Bauer und ... legt sich schlafen. Vom Streit der Christen ist die Welt noch nie aufgewacht. Im Gegenteil, solcher Streit ist das untrüglichste Indiz dafür, dass kein Grund besteht, aufzumerken und sich auf die letzte Frist gefasst zu machen. Man muss begriffen haben, dass der Tag naht. Der Tag ist aber in der Bibel die Wiederkunft und Ankunft des Herrn.
(Wolfgang Vorländer)

Quelle: Wie in einem Spiegel, Heinz Schäfer, Beispiel 1904
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