Wir wollen keine Gnade!

Was ich jetzt erzähle, ist kein Märchen, sondern steinharte Wirklichkeit. Es war in Russland Sitte, dass, wenn ein neuer Zar auf den Thron kam, er ein Gnadenmanifest erließ, wodurch Tausenden von nach Sibirien verschickten Verbrechern die Freiheit wiedergegeben wurde. Die Post brauchte damals etwa sechs Wochen, bis der Befehl in den Gefängnissen Sibiriens eintraf. Jeden Morgen weckte da noch die Peitsche des Aufsehers die müden Häftlinge in den Kupferbergwerken Sibiriens. An die Karre geschmiedet, wankten sie zur Arbeit und wieder zurück und ahnten nicht, dass der Brief unterwegs sei, der sie von dem allen befreien sollte. Endlich ist er da! 
Der Direktor lässt alle die Gefangenen, die es angeht, auf den Hof des Gefängnisses versammeln und dann liest er ihnen feierlich die Befreiungsurkunde vor. Merkwürdig! Das erste Mal scheint niemand Acht darauf zu haben. Nichts rührt sich. Die Leute sind durch das lange Elend zu stumpf geworden. Jetzt ruft der Direktor mit lauter Stimme: "Aber, Leute, hört doch, was ich lese! Ihr seid frei! Dort in der Ecke steht schon der Schmied bereit, euch die Ketten abzunehmen!" 
Jetzt kommt Leben und Bewegung in die Masse. Jauchzen, Schluchzen vor Freude erfüllt die Luft, und alles drängt hin zum Schmied. Was für eine Aussicht, endlich frei zu werden, in die Heimat zu kommen zu Frau und Kind! Aber was ist das dort? In der anderen Ecke bleibt ein kleines Häuflein stehen und rührt sich nicht. 
"Nun", ruft der Direktor ihnen zu; "habt ihr nicht gehört? Ihr sollt alle frei werden!" 
Da antwortet einer für alle mit finsterem Blick: "Wir sind Anarchisten, Todfeinde des russischen Zaren; dafür hat man uns hierher verbannt. Wir wollen von keinem Zar eine Gnade, wir wollen nur die eine Freiheit - den Zaren zu hassen bis in den Tod!" 
Das hat ein Augenzeuge aus Sibirien erzählt.
Nach: S. Keller, "Schleudersteine". Verlag W. Momber, Freiburg i. Br. 

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 37
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