Wir sind jetzt schon Königskinder

Da war ein König ohne Erben und Nachfolger. Er war alt geworden und suchte jemanden, der an seine Stelle trat, einen Nachfolger, der in die Aufgabe hineinwachsen sollte, um selbst einmal König zu sein. Und so geschah es, dass der König sich aufmachte und aus seinem Schloss ging, um einen Erben zu suchen. Nach längerer Suche fand er schließlich in einer Gruppe spielender Kinder einen Jungen, der ihm gefiel. Er rief ihn aus der Schar der spielenden Kinder heraus und sagte ihm, dass er für ihn ein sehr großes Geschenk hätte. Eine Voraussetzung aber sei zu erfüllen: Er müsse selbst anfangen, sich wie ein Königssohn zu benehmen. Nach einem Jahr wolle er wiederkommen und sehen, wieweit ihm dies gelungen sei.
Doch der Versuch, sich wie ein Prinz zu benehmen, misslang. Schon wenige Wochen nach dem Besuch des Königs war der Junge von seinen Spielgefährten nicht mehr zu unterscheiden. Seine guten Vorsätze halfen ihm nicht. Die Umwelt war stärker, und seine Gewohnheiten ließen ihn immer wieder in sein altes Wesen zurückfallen. Er war eben nur ein Junge von der Straße und kein geborener Kronprinz. Nach einem Jahr war die Enttäuschung des Königs sehr groß, und obwohl er ihm ein weiteres Jahr die Chance gab, war auch danach das Ergebnis nicht besser. Der Junge blieb, was er war, und der König blieb ohne Erben.
Das zweite Märchen beginnt ähnlich, auch hier handelt es sich um einen König, der einen Erben sucht, sich aufmacht und schließlich ein Kind findet, das ihm geeignet zu sein scheint. Er stellt ihm aber keine Bedingung, sondern nimmt es gleich von der Stelle weg zu sich an seinen Hof. Dort gibt er ihm einen Hofmarschall zur Seite, der Tag und Nacht den zukünftigen Erben begleitet. Bei jeder Gelegenheit macht er ihn darauf aufmerksam, dass er eine so wichtige Zukunft habe. Immer wieder sagt er: Majestät, Sie sind ein König! Ein König aber benimmt sich anders. Dabei lehrt er ihn das rechte Verhalten. - Und diesmal gelingt es: trotz aller Rückfälle in das alte Wesen verwandelt sich doch der Straßenjunge zum wirklichen Kronprinzen. Die neue Umgebung, die Gegenwart des Königs und die unermüdlichen Ermahnungen und Ermunterungen des Marschalls und der ständige Hinweis auf seinen neuen Stand schaffen die neue Lebensart.
So ist das Evangelium die Botschaft von dem Gott, der Kinder und Erben sucht, und der sie nicht erst dann in ihren neuen Stand einsetzt, wenn sie sich bewährt haben. Unser Gott schenkt uns seine Gemeinschaft von Anfang an, nimmt uns in sein Reich und gibt uns einen Erzieher zur Seite, seinen Heiligen Geist, der unermüdlich und mit unendlicher Zartheit und Geschick auf die Tischsitten im Reiche Gottes aufmerksam macht, der uns vor allem immer wieder daran erinnert, was wir sind und sein werden.
Die höchsten Leistungen und Forderungen, die Menschen im Bereich des Evangeliums vollbringen, sind nicht diktiert von der Angst, sondern von der Freude; nicht das Müssen, sondern das Können steht im Vordergrund. Zu lange wurde versucht, Menschen durch Drohungen und Angst vor dem Verlorengehen ins Reich Gottes zu treiben. Was wir heute in der Christenheit vorfinden, ist zum Teil das Resultat dieser Verwechslung. Angst ist ein schlechter Motor. Es gibt nur eine Triebkraft, die stark genug ist: die Liebe.

Quelle: Mach ein Fenster dran, Heinz Schäfer, Beispiel 708
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