Wir müssen LIEBEN, nicht MÖGEN

Eine hochintelligente, gebildete Frau sagte mir einmal, sie werde wohl nie über den Schock hinwegkommen, den ihr eine plötzliche Selbsterkenntnis versetzt habe. Jahrelang hatte sie Zeit und Geld eingesetzt, um die Beziehung zwischen weißen und farbigen Bürgern ihrer kleinen Stadt im Süden der USA verbessern zu helfen. Dass viele ihrer weißen Bekannten sie anfeindeten, konnte sie nicht beirren, denn sie war überzeugt, auf der Seite der Liebe zu handeln.

Aber eines Tages, als sie mit ihrem farbigen Dienstmädchen allein zu Hause war, ging ihr plötzlich auf, dass sie ihre farbige Schwester nicht liebte. "Ich entdeckte, dass ich sie mochte, wie man einen bestimmten Hundetyp mag. Ich bin zum Beispiel vernarrt in französische Pudel. Und als ich an diesem Tag Mary in der Küche beobachtete, wusste ich mit einem Mal, dass ich nur von den Eigenschaften ihrer Rasse eingenommen war. Ich finde Neger kurzweilig, sie machen mir Spaß. Ich amüsiere mich über ihre drolligen Bemerkungen, ich bewundere den Mut, in der Bedrängnis zu singen - dabei ist es mehr Freude an ihrem Singen, als Bewunderung für ihren Mut. Da ging mir plötzlich auf, dass mein großartiges Eintreten für die Neger im Grunde nicht viel mehr als Auflehnung gegen meine spießigen weißen Nächsten war. Ich liebte nicht Mary. Ich war lediglich in ihren Typ vernarrt."

Nun hat Jesus nichts davon gesagt, dass wir es lernen müssen, die Menschen zu mögen. Dazu war er zu realistisch. Es kommt selten vor, dass wir jemand, der uns auf den ersten Blick unsympathisch war, gut leiden mögen, wenn wir ihn erst näher kennen lernen. Aber die Bibel gibt uns keine Anweisungen in bezug auf Sympathie und Antipathie, denn - wie C. S. Lewis es einmal gesagt hat - wenn wir jemand mögen, ist das genauso wenig eine Tugend, wie wenn wir eine bestimmte Speise mögen. Natürlich sollte uns daran liegen, möglichst viele Menschen gern zu haben - aber lieben müssen wir sie alle.

Jemand gern haben bedeutet, ihm bewusst den Vorzug geben. Die Liebe engagiert uns auch gegen unsere Neigung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jesus die selbstgefälligen Mitglieder des Sanhedrin mochte, die ihn noch am Kreuz verhöhnten. Aber ich weiß, dass er sie liebte.

Quelle: Mach ein Fenster dran, Heinz Schäfer, Beispiel 742
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