Wilhelm Busch erzählt vom Endgericht

Wilhelm Busch erzählt: Es war eine jener trostlosen Straßen, wie sie überall im Ruhrgebiet zu finden sind: Endlose Reihen geschmackloser Mietskasernen, grau geworden vom Ruß, der aus unzähligen Schloten quillt,  -  rasselnde und bimmelnde Straßenbahnen,  -  Lastautos, die lärmend über das schlechte Pflaster holpern,  -  Kneipen, aus denen kreischend Radiomusik ertönt  -  und dazwischen Menschen! Menschen! Dicht gedrängt! Die Not des Lebens steht ihnen im Gesicht geschrieben.
Und Kinder! Scharen von Kindern! Sie spielen unbekümmert und kriegen es fertig, in dieser traurigen Umgebung dasselbe Jugendparadies zu finden wie andere "im schönsten Wiesengrunde".
Ein paar Jungen rennen mich beinahe um. Sie kommen mir gerade recht. Ich bin erst seit kurzem in dieser Stadt und kenne die Gegend noch nicht genau. Nun soll ich einen Kranken besuchen, der "auf der Soldatenwiese" wohnt. Wo in aller Welt mag hier die Soldatenwiese sein? So weit ich sehe: Nirgends etwas Grünes!
So halte ich nun den Jungen, der beim eifrigen Spiel gegen mich prallt, fest: "Weißt du, wo die Soldatenwiese ist?"
"Och, das ist doch das Barackenlager hinter dem alten Friedhof."
"Ja, wo ist denn der alte Friedhof? Kannst du mir nicht den Weg dahin zeigen?"
Er schaut sich nach seinen Freunden um. Die haben sich neugierig herzugemacht. "Geht ihr mit?", fragt er. Und ich lerne hier wieder die Macht der "Horde" kennen. Wenn die anderen "Nein!" sagen, wird er um nichts in der Welt zu bewegen sein, mir den Weg zu weisen. Aber ich habe Glück: Sie wollen alle mit. Und so ziehe ich weiter  -  nun mit einem stattlichen Gefolge von zwölf Jungen.
Sie erwarten offenbar etwas von mir. Gut! Ich werde sie nicht enttäuschen. "Wollt ihr eine Geschichte hören?"
"Klar! Fangen Sie an!"
Und während wir uns durch den Lärm und das Gedränge schieben, erzähle ich ihnen die biblische Geschichte, wie die Jünger beim Sturm auf dem See Genezareth in große Not gerieten, wie aber der Herr Jesus dann mit seinem machtvollen Wort den Sturm stillte.
Jungen hören gern von Jesus. Und so gefiel ihnen diese Geschichte so gut, dass sie noch mehr verlangten. Ich erzählte. Ärgerlich, erstaunt, lächelnd und auch wütend schauten uns die Leute nach. Denn ich musste ja recht laut reden, damit ich bei dem Lärm verstanden wurde. Und jedenfalls war der Name Jesus auf solch einer Straße nicht gerade etwas Alltägliches.
Inzwischen hatten wir den alten Friedhof erreicht. Hier bogen wir ab in einen ganz schmalen Weg, der am Kirchhofsgitter entlang führte.
Da hielt auf einmal einer der Jungen an und sagte erstaunt: "Wie still es hier ist!" Ich musste lächeln: Solchen Großstadtjungen fällt es nicht auf, wenn es abscheulich laut ist, sondern wenn es still wird.
Wir blieben nun alle stehen und lauschten hinein in die Stille des alten Friedhofs. Man hörte nur den Wind in den Bäumen rauschen.
"Jungen!" sagte ich, "Jetzt ist es da drin im Friedhof ganz still. Aber es wird einmal ein Tag kommen, an dem es hier ein großmächtiges Leben und Gedränge gibt."
"Wenn der Friedhof abgeräumt wird!", erklärt einer, der Bescheid weiß.
"Nein! Das meine ich nicht. Ich denke an den Tag, ,wenn einst die Posaun' erklingt, die auch durch die Gräber dringt'." Und nun erzähle ich ihnen die unerhörte Botschaft der Bibel, dass die Toten auferstehen werden; und dass der Herr Jesus als der Erstling schon auferstanden ist.
Atemlos hören die Jungen mir zu.
"Ja seht, da war ein Jünger des Herrn Jesus. Dem hat Gott in wunderbarer Weise gezeigt, was dann kommt. Ich will es euch in den Worten dieses Johannes sagen: ,Und ich sah einen großen, weißen Stuhl und den, der darauf saß; vor des Angesicht floh die Erde und der Himmel, und ihnen ward keine Stätte gefunden. Und ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, und Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken. Und so jemand nicht ward gefunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl.'"
Schweigend haben die Jungen zugehört. Aber es ist fast, als seien diese gewaltigen Worte der Offenbarung zu groß für sie. Ich muss es ihnen in ihre Sprache übersetzen: "Junge, wie heißt du?", frage ich einen.
"Ich? Ich heiß' Eduard."
"Also Eduard, pass mal auf! Da steht also eine unübersehbare Menge vor diesem weißen Thron. Einer nach dem anderen wird aufgerufen. Auf einmal ruft ein Engel mit starker Stimme: "Eduard!' Und dann steht der Eduard ganz allein vor Gott. Und da sagt Gott zu einem starken Engel. "Sieh doch nach, ob der Eduard im Buch des Lebens steht.' Und der Engel blättert in dem großen Buch und sucht  -  er schlägt die nächste Seite um  -  nichts!  -  er sucht weiter  -  die übernächste Seite  -  wieder nichts  -  er blättert weiter  -  und sucht  - "
Die Jungen halten vor Spannung den Atem an.
Und ich erzähle weiter. Über dem Erzählen wird es mir selbst von neuem ganz eindringlich groß, dass wirklich unser ganzes Leben und alle Welt- und Menschengeschichte auf das große Gericht Gottes zueilen, und wie ernst doch Gott uns nimmt, dass ein jeder sein Gericht erleben muss.
"Immer noch sucht der Engel Gottes. Eine gewaltige Stille liegt über der ungeheuren Versammlung. Auf einmal ruft der Engel Gottes laut: ,Da steht der Eduard im Buch des Lebens.'"
"Junge, dat wär knöfte!", sagt aufatmend der Eduard.
"Knöfte"  -  das ist nun eins von den Jungen-Geheimworten, die die Erwachsenen meist nicht verstehen. Es bedeutet "herrlich", "großartig".
"Ja, Eduard", sage ich, "das wäre knöfte, wenn dein Name einmal im Buch des Lebens stünde! Und ich will dir auch sagen, wie das geschehen kann: Schenke du nur dein ganzes Herz dem Herrn Jesus, von dem ich euch erzählt habe. Dann kann es dir nicht fehlen..."

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 495
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