Wie furchtbar, das einzige Kind lebendig begraben zu müssen!
Auf einer Tagung in der Schweiz berichtete ein evangelischer Bischof aus Amerika folgendes Erlebnis: In seiner Gemeinde wohnte ein gläubiger Millionär mit seiner Frau. Sie hatten in der glücklichen Ehe eine Tochter. Es lag den Eltern alles daran, dass das einzige Kind auch den Herrn Jesus fand und annahm. Und das Wunder geschah. Im Konfirmandenunterricht kam das Kind zum lebendigen Glauben. Die Freude der Eltern war groß.
Einige Jahre später litt das Kind unter Depressionen und kam eines Tages in eine psychiatrische Klinik. Die Eltern waren der Verzweiflung nahe und standen in der Anfechtung, mit Gott zu hadern. Alle Möglichkeiten der Wissenschaft wurden ausgeschöpft, um dem Kinde zu helfen. Der Vater war bereit, seine Millionen zu geben. Aber das Kind blieb ohne Besserung in der Klinik.
Eines Tages ging der Bischof mit den Eltern zu der kranken Tochter. Wie auch immer die Eltern versuchten, das Mädchen anzusprechen und es liebkosten: Nur tote, irre Augen schauten sie an. "Wie furchtbar", sagte der Vater, "das einzige Kind lebendig begraben zu müssen!"
In diesem Augenblick erinnerte sich der Bischof daran, dass sich das Mädchen am Tage, da es zum Glauben kam, das Lied "Weil ich Jesu Schäflein bin" gewünscht hatte. Er fing an zu singen. Und was geschah? Die Augen des Kindes lichteten sich, und die Eltern überkam ein freudiger Schrecken, als es im vollen Erkennen fröhlich mit einstimmte: "Unter seinem sanften Stab geh ich aus und ein und hab unaussprechlich süße Weide, dass ich keinen Mangel leide, und so oft ich durstig bin, führt er mich zum Brunnquell hin." In ungeheurer Bewegung sangen alle den letzten Vers: "Sollt ich denn nicht fröhlich sein, ich beglücktes Schäfelein, denn nach diesen Erdentagen werd' ich fröhlich heimgetragen in des Hirten Arm und Schoß. Amen, ja, mein Glück ist groß." Voll Freude wollte die Mutter das Kind als wiedergewonnen ans Herz schließen. Aber im selben Augenblick ging der Vorhang wieder herab. - Das Mädchen ist heute noch in der Klinik. Und doch, die Eltern sind getröstet. Sie können glauben, dass durch die Nacht des Irreseins auch der lebendige Herr führt.
(Heinrich Kemner)
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