Wie es kam

Ein wohlhabender Bauer hatte seinem Nachbar Garben aus der Scheune gestohlen und musste zwei Jahre sitzen. Der Gefängnispfarrer fragte ihn, wie er dazu gekommen sei. 
"Das weiß ich nicht", meinte der Bauer, "ich habe früher nie gestohlen und bin jeden Sonntag in der Kirche gewesen." 
"Ja", sagte der Pfarrer, "aber wie? Wenn ein strafendes Wort kam, hast du gedacht, das geht den Nachbar an. Traf es dich einmal, dann hast du es zum anderen Ohr hinausgelassen. Du sagst, du habest früher nie gestohlen, ich will dir sagen, du hast schon lange vorher gestohlen, nur nicht so grob."
"Nein, das ist nicht wahr. In meinem ganzen Leben noch nichts als diese Garben." 
"Du hast doch hier und da gepflügt und dabei dem Nachbar eine Furche weggepflügt?" 
"Ja, das kommt vor." 
"Ist das nicht gestohlen?" - 
"Ja, wie man es ansieht."
"Dein Nachbar hat Mist geführt. Du bist auch daran. Ringsum ist niemand zu sehen. Schnell wirfst du so ein Häuflein Mist auf deinen Acker hinüber. Ist das nicht gestohlen?" 
"Ja freilich." 
"Du holst das Getreide aus dem Acker. Es ist schon dunkel. In der Dunkelheit passt du nicht auf und nimmst einige Garben über der Grenze drüben." 
"Ja, so genau nimmt man das nicht." 
"Oder du fährst Holz aus dem Wald. Der Förster bleibt nicht stehen, bis du abfährst. Du bist mit deinem Haufen nicht zufrieden und nimmst noch Wellen von einem anderen Haufen."
"Ja, das kommt vor." 
"Sieh, so hast du dich nach und nach ans stehlen gewöhnt. Hätte früher dein Pfarrer dir das vorgehalten, so wärest du zornig geworden. Darum kommst du jetzt ins Gefängnis, damit du lernst die Wahrheit zu hören."
Nach: Stuckert, "Charakterlinien".

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 578
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