Wie einer die Liebe suchte

Einem Mann war durch die Treulosigkeit seiner Frau und durch harte Behandlung in der Fabrik das Herz fast zu Stein geworden. Mit Entsetzen merkte er es eines Tages da sagte er zu sich: "Ich will durch die Welt fahren und die Liebe suchen, denn ich weiß, durch Liebe wird mein steinhartes Herz gesund. Ich war ein Narr, dass ich in der Stadt lebte, draußen auf dem Land, da find die Menschen noch nicht zu Maschinen geworden. Da werde ich gewiss Liebe finden." - Am Abend kam er in ein Dörflein. Wie erschrak er, als er durch die erleuchteten Fenster des Wirtshauses ein häßliches Bild sah: Mit weinerhitzten Köpfen standen sich ein paar Bauern gegenüber, schalten sich mit bösen Worten und erhoben die Fäuste gegeneinander. "Also hier wohnt die Liebe nicht", sagte er. Am nächsten Tag führte sein Weg an einer blühenden Wiese vorbei. Fröhliche Kinder spielten darauf. "Ein Narr war ich, dass ich zu den Erwachsenen ging. Bei den unschuldigen Kindern wohnt die Liebe." Da sprang ein großer Junge herbei mit einem Butterbrot in der Hand. Mit hungrigen Augen schaute ein blasses Mädelchen auf das Brot. "Willst wohl auch was haben, du Bettelkind", höhnte er, und schon traf sie ein Schlag ins Gesicht. Der Bruder des kleinen Mädchens kam hinzu, und bald war eine wilde Schlägerei im Gang. "Auch hier ist die Liebe nicht." - Nun floh er die Menschen. Am Waldrand fand er ein kleines Vogelnest und sah, wie die eilten die hungrigen Schnäbel der Jungen fütterten. Da jubelte der Mann: "Nicht bei den Menschen, aber in der Natur wohnt die Liebe!" In dem Augenblick sah er zwei mächtige Flügel, und ehe er recht begriff, was geschah, wurde die Vogelmutter von den Krallen des Raubvogels weggetragen. Da wurde sein Herz ganz zu Stein. Hoffnungslos ging er weiter und kam am Abend in ein Dorfgasthaus. Alls er im Bett lag, fielen wie zufällig seine Augen auf ein Bild des gekreuzigten... Er musste es immer länger ansehen... Es war ihm, als versänke die Stube und alles rings um ihn. Er schaute in das blutende Antlitz und horte die Stimme des Gottessohnes: "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!" Da wusste der Mann, dass er die große Liebe gefunden hatte, und sein Herz wurde wieder lebendig. Er kehrte zurück. Noch immer war die Welt kalt wie zuvor; aber er selbst stand in dem großen "Geliebtwerden". Es tat ihm weh zu sehen, wie andere in dieser Kälte litten, dass ihre Herzen auch Steinen wurden. Da fing er an, mit ihnen zu reden, und siehe, es zeigte sich, dass er eine große Gewalt hatte, zu trösten. Es war offenbar, dass er, der früher Liebe gesucht hatte, jetzt überreichlich Liebe schenken konnte.

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 1645
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