Wichtigste Zeit, wichtigster Mensch, wichtigste Beschäftigung
Es war einmal ein Zar. Der glaubte, dass ihm alles glücken würde, wenn er drei Dinge wüsste: erstens, wann er jedes Ding beginnen müsse; zweitens, mit welchen Menschen er es halten dürfe; und drittens, welches aller Geschäfte das wichtigste sei. Er dachte lange darüber nach, konnte es aber selber nicht herausfinden, und so ließ er in seinem ganzen Zarenreich verkünden, dass er jenem eine große Belohnung geben werde, der ihm sagen könnte, wie er den richtigen Augenblick für jedes Ding erführe, wie er die nützlichsten Leute herausfände und wie er, ohne sich zu täuschen, das wichtigste aller Geschäfte erriete.
Da kamen alle gelehrten Leute zum Zaren und beantworteten seine Fragen auf die verschiedenste Weise. Deshalb konnte er sich mit keiner einverstanden erklären und gab niemandem die versprochene Belohnung. Um aber zuverlässige Antworten zu erhalten, beschloss er, einen Einsiedler darüber zu befragen, dessen Weisheit im ganzen Land berühmt war.
Dieser Einsiedler lebte im Wald, ging nirgends hin und nahm nur einfache Leute bei sich auf. Deshalb zog der Zar ein einfaches Gewand an, ritt mit seinem Gefolge nicht ganz bis zur Klause des Einsiedlers, sondern stieg vorher vom Pferd und begab sich allein zu ihm hin.
Als der Zar bei dem Einsiedler ankam, grub dieser gerade die Beete vor seiner Hütte um. Er sah den Zaren, begrüßte ihn und grub weiter. Er war mager und schwach und keuchte jedesmal schwer, wenn er das Grabscheit in die Erde stieß und die kleinen Schollen umwandte.
Der Zar trat auf ihn zu und sprach: "Ich bin zu dir gekommen, weiser Einsiedler, um dich zu bitten, mir drei Fragen zu beantworten: Welche Zeit muss man wahrnehmen, damit man sie nicht versäumt und es nachher bereut? Welche Menschen sind die nützlichsten und mit welchen muss man sich demnach mehr und mit welchen weniger abgeben? Und was ist das wichtigste auf der Welt, was man vor allen Geschäften tun muss?"
Der Einsiedler hörte den Zaren an, schwieg, spuckte in die Hände und grub weiter.
"Du bist ja ganz erschöpft", sagte der Zar. "Gib mir den Spaten, ich werde die Beete für dich umgraben."
"Ich danke dir", erwiderte der Einsiedler, gab ihm den Spaten und setzte sich auf die Erde.
Als der Zar zwei Beete umgegraben hatte, hielt er inne und wiederholte seine Fragen. Der Einsiedler schwieg, erhob sich und streckte die Hand nach dem Spaten aus.
"Jetzt ruhe du dich aus, gib her...", sagte er.
Aber der Zar gab ihm den Spaten nicht zurück, sondern grub weiter. Es verging eine Stunde, eine zweite; die Sonne ging schon hinter den Bäumen unter. Da steckte der Zar das Grabscheit in die Erde und sagte: "Ich bin zu dir gekommen, weiser Mann, um Antwort auf meine Fragen zu erhalten. Wenn du sie mir nicht geben kannst, so sage es mir, dann werde ich nach Hause gehen."
"Da kommt jemand gelaufen", sagte der Einsiedler. "Schauen wir, wer es ist!"
Der Zar schaute sich um, und wirklich stürzte aus dem Wald ein bärtiger Mann heraus. Er hielt sich mit beiden Händen den Leib, und unter seinen Fingern quoll Blut hervor. Beim Zar angelangt, fiel er zu Boden, schloss die Augen und rührte sich nicht mehr. Nur ein leises Stöhnen gab er noch von sich.
Der Einsiedler und der Zar rissen dem Fremden das Kleid auf. Er hatte eine große Wunde im Leib. Der Zar wusch sie, so gut er konnte, und verband sie mit seinem Taschentuch und dem Handtuch des Einsiedlers. Aber das Blut war nicht zu stillen, und so mußte der Zar den blutgetränkten Verband ein paarmal wieder abnehmen, die Wunde noch einmal auswaschen und von neuem verbinden.
Als das Blut gestillt war, kam der Verwundete zu sich und bat um einen Trunk. Der Zar brachte ihm frisches Wasser und gab es ihm zu trinken.
Die Sonne war untergegangen, und es wurde kühl. Mit Hilfe des Einsiedlers trug der Zar den Verwundeten in die Klause und legte ihn dort aufs Bett. Als sie ihn hingelegt hatten, schloss er die Augen und wurde ganz still. Auch der Zar war von dem Wege und der Arbeit so müde, dass er sich auf die Schwelle niedersetzte und in einen so tiefen Schlaf verfiel, dass er die ganze kurze Sommernacht verschlief.
Als er am anderen Morgen erwachte, konnte er sich lange nicht erklären, wo er war und wer der fremde bärtige Mann auf dem Bett war, der ihn mit fieberglänzenden Augen aufmerksam betrachtete.
"Vergib mir", flüsterte der bärtige Mann mit schwacher Stimme, als er gesehen hatte, dass der Zar aufgewacht war und ihn ansah.
"Ich kenne dich nicht und weiß nicht, was ich dir verzeihen sollte", erwiderte der Zar.
"Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich. Ich bin dein Feind, der dir Rache geschworen hatte, weil du meinen Bruder hast hinrichten lassen und mir mein Hab und Gut genommen hast. Ich wusste, dass du allein zum Einsiedler gegangen warst, und hatte beschlossen, dich zu töten, wenn du zurückkämst. Aber der ganze Tag verging, und du kamst nicht. Da wagte ich mich aus dem Hinterhalt hervor, um zu erforschen, wo du geblieben seist, und stieß auf dein Gefolge. Sie erkannten mich und brachten mir die Wunde bei. Ich floh. Aber das Blut strömte nur so, und ich wäre gestorben, hättest du mich nicht verbunden. Ich wollte dich totschlagen, du aber hast mir das Leben gerettet. Jetzt aber, wenn ich am Leben bleibe und du mich nicht von dir stößt, werde ich dir wie der treueste Sklave dienen und dasselbe auch meinen Söhnen befehlen. Vergib mir!"
Der Zar freute sich sehr, dass es ihm so leicht gelungen war, sich mit seinem Feind auszusöhnen, und verzieh ihm nicht nur, sondern versprach auch, ihm sein Hab und Gut wiederzugeben und außerdem Diener und einen Arzt herzuschicken.
Nachdem sich der Zar von dem Verwundeten verabschiedet hatte, trat er vor die Hütte und suchte den Einsiedler. Ehe er von ihm ihm ging, wollte er ihn noch einmal bitten, ihm seine Fragen zu beantworten. Der Einsiedler war draußen, kniete vor den Beeten, die sie gestern gegraben hatten, und pflanzte Gemüse.
Der Zar trat auf ihn zu und sprach: "Weiser Mann, ich bitte dich zum letztenmal, meine Fragen zu beantworten."
"Sie sind schon beantwortet", erwiderte der Einsiedler, kauerte sich auf seine dürren Waden nieder und betrachtete den vor ihm stehenden Zaren von unten.
"Wieso beantwortet?" fragte der Zar.
"Hast du es nicht verstanden?" fuhr der Einsiedler fort. "Hättest du gestern nicht Mitleid gehabt mit meiner Schwäche und nicht für mich die Beete umgegraben, sondern den Rückweg angetreten, wäre jener Mann über dich hergefallen, und du hättest es bereut, nicht bei mir geblieben zu sein. Also war es die richtige Zeit, in der du die Beete umgegraben hast, und ich war für dich der wertvollste Mensch - aber das wichtigste von allem war, dass du mir Gutes erwiesen hast. Und als jener angelaufen kam, war es gerade die richtige Zeit, dass du dich seiner angenommen hast, denn hättest du ihm nicht die Wunde verbunden, wäre er gestorben, ohne sich mit dir ausgesöhnt zu haben. Also war er für dich der wichtigste Mensch, und das, was du ihm tatest, das wichtigste Geschäft. Vergiss also niemals: es gibt nur eine wichtige Zeit für uns, und das ist der Augenblick; und er ist für uns deshalb so außerordentlich wichtig, weil wir in ihm über uns stehen. Der wichtigste Mensch ist aber stets der, dem wir gerade begegnen, und niemand weiß, ob er noch mit einem anderen Menschen zu tun haben wird; und das wichtigste Geschäft ist es, ihm Gutes zu tun, weil nur deshalb der Mensch ins Leben geschickt wird."
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