Wer ist schuld?

Pastor Modersohn erzählt aus einer kleinen Stadt in Westfalen folgendes Erlebnis. Ein Mädchen hatte die Werbung eines jungen Mannes, der in schlechtem Ruf stand, abgelehnt. Dieser rächte sich dadurch, dass er völlig grundlos die Ehre und Unschuld dieses Mädchens verdächtigte. Durch die ganze Stadt ging das gemeine Gerede. "Hast du schon gehört, was die gemacht hat?" "Wer hätte so etwas von der gedacht!" Aber niemand fragte: Ist das auch wahr? Wir wollen sie doch erst mal selber danach fragen. Da fiel es dem Mädchen auf, dass die Leute erst so eifrig miteinander redeten und wenn sie dann dazu kam, so plötzlich verstummten, dass sie merkte: Sie haben von mir gesprochen. Darum fragte sie: "Was habt ihr da zu reden?" Und so erfuhr sie endlich, was man sich in der ganzen Stadt über sie erzählte. Erschrocken dachte sie: wenn die Leute so etwas von mir reden, kann ich mich ja gar nicht mehr sehen lassen! Sie ging nicht mehr aus dem Hause, saß in ihrem Zimmer und grübelte und grübelte, bis sich - ihr Geist umnachtete. Und in diesem Zustand ging sie ins Wasser und ertränkte sich. 
Wer hat sie umgebracht? Der junge Mann, der die Verleumdung aufgebracht hat. Gewiss. Aber wer noch mehr? All die achtbaren Männer und Frauen, Herren und Damen, die so eifrig waren zu fragen: "Haben sie schon gehört, was sie gemacht hat?" 
Sie haben mit ihrem giftigen Gerede das arme Kind ins Wasser getrieben!
Nach "Von Bethanien nach Golgatha".

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 2373
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