Wenn Worte sichtbar wären

Minna hatte einen wunderlichen Traum. Sie befand sich in einem geräumigen Saal, der ganz weiße Wände hatte. An einer Wand sah sie ihre Herrschaft stehen, geradeso, als ob sie etwas auf der Wand lasen. Von Zeit zu Zeit kamen ver­wunderte Ausrufe aus dem Munde des Herrn oder der Frau, wie z.B.: "Nein, das hätte ich doch von unsrer Minna nicht gedacht!" "Nein, das hätte ich ihr auch nicht zugetraut!"

Minna wurde neugierig, was denn da eigentlich stehe. Sie schlich leise auf Fußspitzen hinzu und sah ihrer Herrschaft über die Schulter. Was sah sie? Da stand alles auf der Wand, was sie über ihre Herrschaft gesprochen hatte, alle ihre Klagen über die vermeintliche schlechte Behandlung, über das Essen, das ihr nicht gepasst hatte, usw. - O, Minna hätte vor Scham und Schrecken in den Boden sinken mögen! Sie schämte sich so sehr, dass sie erwachte. Da dankte sie Gott, dass es nur ein Traum war und gab von nun an besser auf ihre Zunge Acht.

Quelle: Neues und Altes
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