Wenn uns die Bibel weggenommen wird

Es könnten Zeiten kommen, wo das Wort Gottes uns weggenommen wird. In meinem Leben ist so eine Zeit gekommen, wo mir die Bibel weggenommen wurde, die ich immer bei mir zu tragen pflegte. Das war damals, als mich die Geheime Staatspolizei ins Gefängnis steckte. Wie froh war ich dann, dass ich so viele Abschnitte auswendig wusste, die ich mir nun in Erinnerung rufen konnte. Sie boten meiner Seele Erquickung und Stärkung.
Wie oft, wenn ich schlaflos auf meiner harten Pritsche lag, habe ich mir "das Goldene ABC" hergesagt. Das heißt, ich suchte mir einen Bibelspruch, der mit A anfängt, etwa: "Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab." Dann kam ein Spruch mit B: "Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohlmachen." Ein Spruch mit C: "Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn." Einer mit D: "Dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand." Und so weiter durch das ganze ABC hindurch.
Vielleicht schlief ich dann voller innerer Ruhe über diesen Bibelworten ein, dann war ein Zweck des Goldenen ABC erreicht. Oder ich schlief nicht ein, dann haben diese kostbaren Worte mir Geist und Gemüt gestärkt und erquickt.
Und falls ich noch immer ganz schwach und schlaflos dalag, wenn ich mit dem Goldenen ABC bis ans Ende gekommen war - bis an das "Zanket nicht auf dem Wege", das Joseph einst seinen Brüdern mitgab - dann fing ich das ABC noch einmal von vorn an, aber diesmal mit Gesangbuchliedern. "Allein Gott in der Höh' sei Ehr und Dank für seine Gnade." Das machte dann den Anfang. Und ich sagte mir wenigstens den ersten Vers vor, wo möglich das ganze Lied. "Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt." Ich kann gar nicht sagen, was dieses Lied mir in meiner Gefängniszeit bedeutet hat, wie viel Trost und Kraft es mir vermittelt hat. Dann kam ein Lied mit einem C: "Christus, der ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn; dem tu ich mich ergeben, mit Fried' fahr ich dahin." Dann ein Lied, das mit einem D anfängt - wie groß ist da die Auswahl: "Danket dem Herrn!", "Der beste Freund ist in dem Himmel", "Der Glaube bricht durch Stahl und Stein", "Du, meine Seele, singe, wohlauf und singe schön!"
Was haben wir doch für einen Schatz in unserer Bibel und in unserem Gesangbuch, lasst uns diesen Schatz nur auf rechte Weise heben und bewahren! Und lasst uns dafür sorgen, dass auch unsere Kinder ihn früh in Herz und Sinn aufnehmen. Wie werden sie später dankbar sein, wenn sie einen solchen Schatz fürs Leben mitbekommen haben!
Meine Frau leidet in ihrem Alter am grauen Star. Die Operation beider Augen hat ihr doch nicht soweit geholfen, dass sie die kleine Druckschrift wieder lesen könnte. Wie froh ist sie darüber, dass sie so viel auswendig weiß, dass sie so viel gelernt hat, und nicht nur in der Jugend, sondern auch im späteren Leben. Immer wieder hatten wir uns Bibelabschnitte vorgenommen, die wir auswendig lernten. Die sagen wir nun immer am Schluss unserer Hausandacht auf, um diesen Schatz stets zur Verfügung zu haben. 
(Ernst Modersohn, 1870-1948)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1054
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