Wenn man sich erst im Ruhestandt richtig kennen lernt

Da sind zwei Menschen, die über dreißig Jahre miteinander verheiratet sind. Sie meinen, sich ganz gut zu kennen. Und dann stellt sich plötzlich heraus, dass auch nach dreißig Jahren Ehe es sich ganz anders verhält. Ich denke einfach an das, was mir kürzlich eine Ehefrau erzählt hat: "Jetzt, seit mein Mann im Ruhestand ist, haben wir plötzlich Probleme miteinander. Ich frage mich dauernd: Woher kommt das? Aber ich habe mir beim langen Nachdenken auch so etwas wie eine Lösung zurechtgelegt. Ich denke jedenfalls, dass es damit zusammenhängt:
Mein Mann war im Beruf sehr stark beansprucht. Ich war mit Kindern, Haushalt und Garten ebenso intensiv beschäftigt. Da war es halt so - um Beispiele zu wählen -, als wenn wir jeden Morgen in zwei verschiedene Züge einstiegen. Und diese Züge fuhren in verschiedene Richtungen. Am Wochenende trafen wir uns wohl und waren dann beieinander. Aber eben auch nur so, wie man - um im Bild zu bleiben - sich auf einem Bahnhof trifft. Da beredet man das Nötigste, lässt alle möglichen - auch noch im Bild gesprochen - Reiseerlebnisse an sich vorüberziehen, fragt nach Woher und Wohin. Aber von sich selbst erzählt man zu wenig. Und nun? Mein Mann ist im Ruhestand, die Kinder sind aus dem Haus, und plötzlich fahren wir in demselben Zug. Oder, um es noch deutlicher zu sagen, im gleichen Abteil. Da sind die Reiseerlebnisse schnell ausgetauscht, die üblichen Themen abgehakt. Ja, und was jetzt? Jetzt müsste doch einer dem anderen von sich selbst erzählen. Und genau an diesem Punkt tun wir uns schwer.
Wir haben das nicht geübt. Wir waren zu viel - jeder für sich - unterwegs. Und wie sollten wir das jetzt plötzlich können, Zusammensein auf Dauer? Manchmal schweigen wir uns an. Ab und zu gibt es ein paar Fluchtversuche in früher gern geübte Tätigkeiten. Jetzt scheinen sie sich zu ablenkenden Beschäftigungen zu entwickeln. Aber eins haben wir entdeckt, jeder auf seine Weise: Wir müssen miteinander darüber sprechen, was uns so fremd sein lässt. Nun, wir haben damit begonnen. Erst zögernd und stockend, so als wäre einer des anderen nicht ganz gewiss, was er mit dem Erzählen aus dem Innersten heraus anfangen wird. Aber jetzt geht es immer besser. Und wir lernen einander kennen, wie wir uns beide dreißig Jahre lang nicht gekannt haben."
Wenn ich mich an dieses Gespräch erinnere, denke ich manchmal, es ist einfach nicht wahr, dass das Älterwerden nur Abbau bedeutet. Es kann dabei auch gewonnen werden. Um ein Bild zu gebrauchen: Aus einem Altbau herausgebrochene Stücke können noch eine ganz schöne Wohnung ergeben, wenn man gemeinsam daran baut.
Jedenfalls möchte ich manchem Mut machen, der Angst hat vor dieser Zäsur des Ruhestands und sich sorgt, wie wird es mit der Ehe weitergehen, wenn die Aufgabenteilung in einer Ehe aufhören und die Ehe selbst zur Hauptaufgabe für beide wird. Dann also nicht: Wir geben's auf, miteinander zurechtzukommen, sondern einer ist Aufgabe für den anderen. Und doch sicher auch Gabe, so wie man das damals empfand, als man gemeinsam vor dem Traualtar stand und darüber nachdachte, als gesagt worden ist: "... sich in der Ehe anzunehmen als von Gottes Hand selbst einander zugeführt."
Ehe, die in die Jahre kommt: Nein, es müssen nicht Jahre sein, in denen man sich gegenseitig immer fremder wird und jeder sich in seiner eigenen Welt einkapselt. Es können Jahre werden mit neuen Entdeckungen an sich selbst, am Ehepartner und gemeinsam an der Welt, die man mit neuen Augen anschaut. So vielleicht, wie Marie Luise Kaschnitz das beschreibt: "Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Ballon, von dem aus man zugleich weiter und genauer sieht." 
(Johannes Kühn)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1368
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