Wenn deine Mutter hier wäre...

Es war Sonntag und die Leute gingen zum Gottesdienst, denn die Glocke hatte schon längst geläutet. Gegenüber war eine Schenke und davor saß ein Matrose, hatte die Arme über die Brust gekreuzt, die Zigarre im Munde und sah verächtlich zu, wie die Leute zur Kirche gingen. Da kam ein Mann des Weges mit seinem Gesangbuch unter dem Arm, ging an dem Matrosen vorbei, sah ihn zufällig an und der Matrose sah ihn auch an mit einem Lächeln, als dächte er: Du Narr, was läufst du noch in die Kirche! Der Mann verstand diesen Blick, blieb stehen und fragte: "Freund, willst du nicht mit in die Kirche?" -"Nein", brummte er barsch, wandte sich um und blies den Zigarrendampf über die Schulter. Der Mann aber fuhr fort: "Freund, du musst böse Tage gehabt haben; lebt deine Mutter noch?" Der Matrose blickte betroffen dem Fremden ins Angesicht und schwieg stille. "Wenn deine Mutter hier wäre," fuhr er fort, "die würde sehr traurig sein." Weiter sagte er nichts und ging der Kirche zu. Der Matrose aber sah starr vor sich hin und saß lange in Gedanken versunken da. Dann stand er auf, warf die Zigarre fort und ging langsam über die Straße in die Kirche. Das eine Wort "Mutter" war ihm durchs Herz gegangen.

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel 919
© Alle Rechte vorbehalten