Wenn Brüder füreinander sorgen

In der jüdischen Literatur begegnet uns nicht nur der Humor, sondern auch viel Weisheit. Sie ist oft in eine Geschichte verpackt, so wie in dieser: Da waren einmal zwei Brüder. Der eine war verheiratet und hatte Kinder, der andere war unverheiratet. Zusammen besaßen sie ein Stück Land, auf dem sie Korn anbauten. Es war fruchtbarer Grund, und der Ertrag war gut. Nun kam wieder die Erntezeit heran. Gemeinsam schnitten sie das Korn und stellten am Abend die Garben auf. Die Teilung wurde sogleich vollzogen. Beide erhielten den gleichen Anteil an Garben. Der eine der Brüder stellte das, was ihm zukam, auf der rechten Seite des Feldes auf, der andere auf der linken Seite.
Obwohl sie beide müde waren, konnten sie nachts nicht schlafen. Es ist eigentlich nicht gut, dachte der Unverheiratete, dass ich genau so viel habe wie mein Bruder, der doch Frau und Kinder zu ernähren hat. Aus diesen Gedanken heraus fasste er einen Entschluss, den er gleich ausführte. Leise stand er auf, ging aufs Feld hinaus und stellte von seinen Garben zehn Stück auf die Seite des Bruders. - Der andere konnte auch nicht schlafen. Er dachte: Ich habe Frau und Kinder, die mir beistehen, auch in meinem Alter werden sie mich versorgen. Mein Bruder muss ganz allein für sich aufkommen. Ich will heimlich aufs Feld gehen und ihm von dem Meinen abgeben.
Am nächsten Morgen wunderten sich beide, dass die Dinge unverändert waren, aber sie schüttelten nur im Geheimen ungläubig den Kopf. In der folgenden Nacht wollten beide den Vorgang wiederholen. Doch da geschah es, dass der erste den zweiten noch beim Versetzen der Garben antraf. Als beide die Situation begriffen hatten, umarmten sie sich und weinten.
(Marie Hüsing)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1457
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