Weinen mit den Weinenden

Ein frommes Weibsbild konnte sich nicht enthalten, wenn sie einen betrübten Menschen seine Noth mit Thränen klagen hörte und sah, daß sie nicht dessen Thränen mit den ihrigen vergesellschaftet hätte, dessen sie sich aber zu entsehen pflegte und, wenn jemand es gewahr ward, deßhalb sich entfärbte. Gotthold sagte zu ihr: Haltet es für eine sonderliche Gnade Gottes, daß er euch die Gabe, mit den Weinenden zu weinen, gegönnt hat. Die Thränen, so deßfalls aus euren Augen fließen, sind gewisse Kundschaften, welche, daß eures Mitchristen Klage euer Herz berührt und zum Mitleiden bewogen, bezeugen, und hier werden auch der Mund und die Hand nicht lange feiern, sondern mit Rath und That dem Nächsten zu helfen beflissen sein, wo sie anders das Vermögen bei sich finden. Dies sind die edelsten Naturen, wie das Gold, welches unter allen Metallen den Vorzug hat, am leichtesten sich beugen und im Feuer flüssig machen läßt. Trauet mir! der, so verheißen, daß ein kalter Trunk Wassers, einem seiner geringsten Brüder als seinem Bruder gereicht, nicht soll unbelohnt bleiben, Matth. 10, 42., der wird auch Acht haben auf eure Thränen, die ihr aus christlichem Mitleid vergießt.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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