Weil wir ihn brauchen
Es war ein wundervoller Maiabend. Mir aber war das Herz schwer, wie ich da als blutjunger Rekrut am Kasernentor stand. Vor drei Tagen erst hatte ich zu Hause Abschied genommen - mit großer, romantischer Begeisterung. Und in diesen drei Tagen waren mir alle Illusionen zerschlagen worden. Wie einen »Helden« und Heiligen hatte ich jeden Soldaten bisher angeschaut. Aber nun sah ich hinter die Kulissen: Da waren der rohe Wachtmeister, der jede Laune mit sinnlosem Gebrüll an uns ausließ; der dicke Möbelhändler, der sich mit Bestechung die besten Druckposten verschaffte; der Hauptmann, der in uns Menschenmaterial, aber nicht lebendige Herzen sah; die Kameraden, die vom Morgen bis zum Abend keine andre Unterhaltung kannten als Zoten und schmutzige Geschichten. Und nirgendwo ein Herz.
Traurig stand ich am Kasernentor - und vor mir lag die fremde Stadt - kalt und abweisend. Mich fror. Ich hatte Heimweh. Das Elternhaus stand vor meinem Geist auf: Wie schön war es da! Nichts als Liebe und Herzlichkeit und Sauberkeit! Ich sah meinen Vater vor mir, wie er mich beim Abschied einen Augenblick in die Arme geschlossen und gesagt hatte: »Mein lieber Sohn! Gott bewahre dich an Leib und Seele!« Und dann - das fiel mir jetzt erst ein, denn in der Hochspannung meines Abschieds war mir das sehr unwichtig erschienen: »In den ersten drei Wochen werde ich dich nicht besuchen können, weil mein Dienst mich festhält.«
Hinter mir aus der Wachstube drang brüllendes Gelächter. Oh, wie mich das anwiderte! Da hatte sicher wieder jemand einen der üblichen »Witze« erzählt, die zwar nicht witzig, aber dafür um so schmutziger waren. Eine wehmütige Dämmerung legte sich über die fremde Stadt. Ich fühlte mich unsagbar allein! Wenn ich mich nicht geschämt hätte - ich hätte geweint in meiner trostlosen Verlassenheit ...
Da brauste eine Taxe heran. Sie hielt vor dem Kasernentor - und ich traute meinen Augen nicht: Heraus stieg mein lieber Vater. Mit einem Jubelruf warf ich mich ihm in die Arme. Er bezahlte den Chauffeur. Und dann zogen wir miteinander los. Glücklich nahm ich seinen Arm: »O Papa, du hast doch gesagt, du könntest mich in den ersten drei Wochen nicht besuchen!« »Es ist eigentlich auch so«, erwiderte er, »ich muss in einer Stunde schon wieder zurückfahren. Lass uns die Stunde recht nützen!« »Und du bist für diese eine Stunde extra hergefahren?« Er nickte. Mir ging durch den Sinn, wie mühselig jetzt im Krieg das Reisen war: Die überfüllten Züge und das zermürbende Warten, weil nichts mehr recht klappte. »Papa«, fragte ich, »warum hast du das getan?« Da antwortete er - und es war, als öffnete er mir sein ganzes Herz: »Ich habe gefühlt, dass mein Junge mich braucht.«
Viele Jahre später saß ich mit einem Mann zusammen, der das Evangelium verachtete. Er hatte sich etwas Besonderes ausgedacht: »Sehen Sie«, erklärte er spöttisch, »da sagt Ihr Jesus: 'lch bin bei euch alle Tage'. Es ist ja komisch, wie er den Menschen richtig nachläuft. Er ist wohl auf uns angewiesen! Der braucht uns wohl! Der ist fertig, wenn keiner sich um ihn kümmert.« In diesem Augenblick fiel mir das Erlebnis mit meinem Vater ein, und ich erwiderte: »Jawohl! Jesus läuft uns nach. Aber nicht darum, weil Er uns braucht. Sondern - weil Er weiß, dass wir Ihn brauchen; weil Er weiß, wie unsagbar einsam und verloren wir ohne Ihn sind.« Da schwieg er still. Ob ihn ein Strahl der unendlichen Liebe getroffen hatte?
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