Was man vom anderen (nicht) erwarten darf

Viele Verheiratete lassen Gott nicht das für sie tun, was nur er tun kann. Sie erwarten es vielmehr von ihrem Ehegatten, der es gar nicht vermag. Wenn sie sich Mühe geben, werden Männer zu guten Ehemännern und Frauen zu guten Ehefrauen, aber zu miserablen Göttern. Götter aber sollten sie gar nicht sein. All die herrlichen Versprechungen, die man am Hochzeitstag macht, dich in allen Umständen und Wechselfällen des Lebens zu lieben, für dich zu sorgen, dich zu beschützen, sind nur dann zu halten, wenn das Herz in Gottes Liebe, Gnade und Fürsorge ruht. Nur eine Seele, die Vergebung und Gnade erlangt hat, kann solche Versprechen halten. Hinter vielen großen und schönen Worten steht unausgesprochen: "Mir fehlt innerlich schrecklich viel, ich fühle mich innerlich so leer und schuldig, dass ich dir eine großartige Gelegenheit gebe, meine Abgrundtiefe auszufüllen. Bin ich nicht ein prächtiger Mensch?"
Ein Psychologe verglich dieses Verhalten mit einer Zecke auf einem Hund. Die Zecke ist gar nicht daran interessiert, dass es der Hund gut hat, sie saugt ihn nur aus. Die Tragödie in manchen Ehen besteht darin, dass beide Partner nur nehmen. Eine solche Ehe ist dann wie zwei Zecken und kein Hund. Zwei Eintreiber und nichts da zum Eintreiben!
Vor Jahren besuchte mich ein Ehepaar. Sie waren 15 Jahre verheiratet. Es waren 15 Jahre eines ehelichen Ping-Pongs. Jedesmal, wenn er pingte, pongte sie, und umgekehrt. Offensives und defensives Spiel wechselten sich ab. Als wir langsam und schmerzlich in der Seelsorge vorankamen, mussten wir einige theologische Hüllen beseitigen, um die schreckliche Enttäuschung, die seelischen Wunden und die echte Verbitterung bloßzulegen, unter denen sie beide litten. Sie hatte ihn geheiratet, weil er eine geistliche Führerpersönlichkeit zu sein schien, zuchtvoll, entschlossen und strebsam.
Man kann sich ihr Entsetzen vorstellen, als es sich herausstellte, dass er unentschlossen und zuchtlos, faul und nachlässig war. In ihrem Zorn würgte sie ihn wie der Knecht im Gleichnis und sagte: "Du hast mich betrogen. Du schuldest mir all das, was ich von dir erwartet habe, als ich heiratete." Sie betrachtete ihn als einen Menschen, der ihr gegenüber verschuldet war. Fünfzehn Jahre lang hatte sie an ihm herumgenörgelt: "Bezahle mir, was du mir schuldig bist."
Er hatte sie geheiratet, weil sie gut aussah, hübsch und ordentlich war. Man kann sich seine schreckliche Enttäuschung vorstellen, als er entdeckte, dass sie ihre Hausarbeit schlampig erledigte, dass sie ihre Haare, ihre Kleidung und ihr ganzes Äußeres vernachlässigte. Er meinte, sie hätte ihn hereingelegt. "Du schuldest mir diese Dinge, die dich auszeichneten, als ich um dich warb." Und so würgte er sie, sagte mit Spott und bissigen Bemerkungen: "Bezahle, was du mir schuldig bist. Du hast deinen Schuldschein nicht eingelöst."
Beide hatten fünfzehn Jahre lang darauf gewartet, dass sich der andere änderte. Wie tragisch ist es doch oft um die zwischenmenschlichen Beziehungen unter gläubigen Christen bestellt! Wir sind Schuldeneintreiber, weil wir nicht erfasst haben, dass unsere Schulden völlig getilgt sind, dass Gott am Kreuz von Golgatha den Schuldschein bereits zerrissen hat.
"Das habe ich in den letzten 18 Jahre lang bei meinen Kindern getan - ich habe Schulden eingetrieben, ich habe sie dazu aufgefordert, mir zu bezahlen, was sie schuldig waren, anstatt ihnen bedingungslos Liebe zu geben." Und wie viele seelische Verklemmungen sind dabei herausgekommen!
(David Seamands)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1270
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