Was kindliche Einfalt vermochte
"Wenn sie ihm doch keinen Schnaps verkaufen würden", sagte Frau Lenz weinend, als sie mit dem Abendbrot auf ihren Mann wartete, der auch an diesem Abend wieder dem alten Laster nachgegangen zu sein schien. "Wenn sie ihn doch in Ruhe ließen! Dann hätte ich nicht den geringsten Verdruss. Er ist der beste Mann, wenn er nicht getrunken hat. Er bringt niemals Schnaps mit nach Hause. Ich weiß es, er möchte selbst lieber nüchtern bleiben. Aber er kann an Böttchers Schenke nicht vorbeikommen."
"Es ist ein wahrer Jammer! Gerade die kräftigsten und tüchtigsten Männer lassen sich von dieser Leidenschaft beherrschen und zugrunde richten", antwortete teilnahmsvoll die Nachbarin.
Diese Unterredung hatte die zehnjährige Anni, das Töchterchen des Trinkers, mit angehört. Nach einer Weile verließ sie leise und unbemerkt das Zimmer, nahm Jacke und Mütze und ging stracks ihres Wegs. Die Worte ihrer Mutter: "Wenn sie ihm doch keinen Schnaps verkaufen würden" hatten sie einen Entschluss fassen lassen. Sie sagte sich: "Wenn ich Herrn Böttcher dahin bringen könnte, dass er Vater keinen Branntwein mehr verkaufte, dann würde es zu Hause keine Not und keine Unzufriedenheit mehr geben. Welch einfaches Mittel!" Nun wollte sie zu Herrn Böttcher gehen und sich dies von ihm versprechen lassen. Das würde gewiss helfen!
Die Schenke von Böttcher war ungefähr eine halbe Stunde von der Wohnung der Familie Lenz entfernt. An diesem Abend war dort auch ein Fremder eingekehrt, der etwas zu essen bestellte. Der Gastwirt brachte ihm das Gewünschte und fragte ihn nach seiner Gewohnheit:
"Was wollen Sie trinken?"
"Ein Glas frisches Wasser, wenn ich bitten darf." Böttcher traute seinen Ohren kaum. Doch mit erzwungener Gleichgültigkeit brachte er es dem Fremden. Innerlich hatte er nur spöttische Verachtung für solche "Tugendbolde", die keinen Alkohol trinken wollten.
Er ging zum Schanktisch zurück. Der Fremde nahm einen guten Schluck und rief dem Wirt mit frischer Stimme zu: "Ausgezeichnetes Wasser haben Sie hier!"
"So?", erwiderte dieser kurz und lächelte vor sich hin.
"Meinen Sie nicht auch?"
"Ich trinke niemals Wasser." Böttcher wandte sich an einen anderen Gast und fuhr fort: "Es ist wirklich schon lange her, seit ich Wasser getrunken habe. Ich weiß gar nicht mehr, wie es schmeckt, und Ihnen wird's auch so gehen, was, Lenz?"
Der Mann, an den diese Worte gerichtet waren, blickte zerstreut auf. Nach einigen Augenblicken des Besinnens und Zurechtfindens erwiderte er jedoch zur nicht geringen Verwunderung des Wirts: "Es wäre für uns besser, hätten wir den Geschmack für Wasser nicht verloren."
"Brav gesprochen, mein Freund", sagte der Fremde. Er wandte sich zu dem Manne, dessen aufgedunsenes Gesicht und unordentliche Kleidung nur zu deutlich die traurige Geschichte seines Lebens erzählten.
"Wasser, reines Wasser, das ist mir das köstlichste Getränk. Wer damit zufrieden ist, den macht es gesund und glücklich. Es raubt nicht unschuldigen Kindern das Brot, zwingt nicht bedauernswerte Frauen, zerlumpt umherzugehen, und zerstört nicht den Frieden und das Glück eines gemütlichen Heimes."
Der Fremde hatte diese Worte voll innerer Bewegung gesprochen. Nicht nur Lenz, auch die anderen drei Gäste, die noch in der Schenke waren, hatten aufmerksam und lautlos zugehört. Als der Wirt bemerkte, dass niemand dem Fremden zu widersprechen gewillt schien, trat er selbst auf diesen zu, fasste ihn an die Schulter und sagte gebieterisch mit heiserer Stimme:
"Sie wollen mir hier doch nicht etwa eine Abstinenzpredigt halten? Packen Sie sich damit in die Kirche oder in Ihre lächerlichen, wässerigen Vereine."
Der Fremde erwiderte darauf im ruhigsten Tone: "Das ist aber eine sonderbare Zumutung, dass man sich hier nicht sachlich über einzelne Getränke unterhalten darf."
"Ich sage Ihnen, Sie können sich Ihre Rede sparen", rief der Wirt noch erregter und zorniger.
Der Fremde widersprach nicht mehr. Er aß sein Abendbrot auf und nahm dann eine Zeitung zur Hand. Der Wirt verkroch sich wieder hinter seinen Schanktisch, und die Gäste nahmen ihre unterbrochene Unterhaltung auf.
Bald darauf trat die kleine Anni Lenz ein. Sie schaute sich nicht schüchtern um, sondern ging auf den Wirt zu und sagte flehend mit ihrer hellen, freundlichen Stimme:
"Bitte, verkaufen Sie Papa keinen Schnaps mehr."
Der Fremde legte die Zeitung weg. Diese kindlichen Worte hatten ihn tief gerührt.
"Mach gleich, dass du fortkommst!", führ Böttcher das Kind barsch an. Er war noch von der Auseinandersetzung mit dem Fremden gereizt.
"Bitte, tun Sie es nicht, Herr Böttcher!", flehte das Kind noch eindringlicher. "Mutter sagt, wenn Sie ihm keinen
Schnaps mehr verkaufen, wird Papa immer so gut und freundlich sein, wie er ist, wenn er nicht getrunken hat."
"Fort, aber gleich fort!", schrie Böttcher, der sich nicht mehr in der Gewalt hatte. Er wollte schon die Kleine hinausjagen, da trat der Fremde dazwischen.
"Gott segne dich, mein Kind", sagte er zu dem Mädchen und zog es an sich. "Fürchte dich nicht, meine Kleine! Du tust recht! Kämpfe für deinen Vater, kämpfe für dein Heim! Herr Böttcher wird auf die Bitte einer der Kleinen, deren Engel allezeit das Angesicht ihres himmlischen Vaters schauen, nicht nein sagen können. Gott segne dich, mein Kind!" Und tief ergriffen fügte er hinzu: "O dass doch der Vater hier wäre! Wenn er noch ein Fünkchen Ehrgefühl und Erbarmen besäße, so müßte ihn der Anblick seines Kindes rühren und zur Einkehr bringen!"
Lenz hatte bereits so viel getrunken, dass seine Sinne nicht mehr ganz klar waren. Nur undeutlich vernahm er, was um ihn vorging. Als sich aller Augen auf den Fremden richteten, vor dessen ruhigen Worten die anderen verstummten, hatte auch Lenz in Ernüchterung den Vorgang erfasst, trat zu seinem Kinde, umschlang es mit beiden Armen und drückte es an sein Herz.
"Komm, mein Ännchen, hier ist kein Platz für uns", unterbrach er das eingetretene Schweigen, "wir wollen nach Hause gehen." Und er fasste sein Kind bei der Hand und wollte sich entfernen. Aber das Mädchen hielt ihn zurück: "Warte, Papa, warte, er hat es noch nicht versprochen. Ich gehe nicht eher, bis er es verspricht."
"Versprechen Sie es auf der Stelle! Auch wir bestehen darauf, nicht wahr, meine Herren?", warf der Fremde ein.
Die Gäste stimmten ihm bei. Sie waren alle von diesem Vorfall tief gerührt, und der Fremde besaß eine seltsame
Gabe, Menschen für seine Ansichten zu gewinnen. Der Wirt bot einen kläglichen Anblick. Er sah selber, dass er hier unterlegen war. Doch so schnell wollte er sich durch die Bitte eines Kindes ein Versprechen nicht herauspressen lassen. Er erhob in sachlichem Tone die verschiedensten Einwände: Was könne er dafür, wenn ein Mensch sich nicht beherrsche? Man könne ihm aber nicht zumuten, durch ein Versprechen sein Geschäft zu schädigen.
Es half nichts, der Wirt mußte nachgeben. Der Fremde und die Gäste bestanden auf ihrer Forderung. Sie nannten es schließlich ein Verbrechen, eine glückliche Familie dem Verderben preiszugeben, um seinen eigenen Geldbeutel zu füllen. Böttcher machte aber noch einige Einwürfe.
Da trat Lenz hervor. Er war von dem Eindruck überwältigt, wahrheitsgetreu aus dem Munde andrer sein Elend ausgesprochen zu hören. Wie in letzter Verzweiflung drang er, die Hände zur Faust geballt, in den Wirt: "Ich beschwöre Sie, versprechen Sie es mir um des Himmels willen, dass Sie mir nie wieder Alkohol verkaufen wollen! Nur dann sind meine Familie und ich gerettet!"
"Wenn Sie denn darauf bestehen", erwiderte Böttcher kleinlaut, fuhr dann aber heftig fort: "Nun, ich bin ein Ehrenmann und kein Lump. Bei meiner Ehre verspreche ich Ihnen allen, dass ich Lenz keinen Tropfen Alkohol mehr verkaufen will, solange ich Wirt bin."
"Gott sei Dank!", murmelte der arme Lenz, als er mit seinem Kinde wegging. "Gott sei Dank, jetzt gibt es wieder Hoffnung für mich." -
*
Frau Lenz hatte sich sehr geängstigt, als sie bemerkte, dass ihr Kind nicht mehr zu Hause war. Anni war verschwunden, ohne ein Wort gesagt zu haben. Wo mochte sie nur hingegangen sein? Die Mutter rief in der Wohnung und auf der Straße nach ihr. Doch alles erfolglos. So wartete sie voll Ungeduld und Angst. Endlich hörte sie Schritte. Zu ihrer großen Verwunderung und Freude erblickte sie beide, Vater und Tochter. Noch ehe sie ein Wort sagen konnte, rief ihr Anni schon entgegen:
"O Mutter, Herr Böttcher hat es versprochen!"
"Versprochen? Was denn versprochen?" Neue Hoffnung regte sich in dem Herzen der Frau. Gespannt erwartete sie die Antwort.
"Dass er mir keinen Tropfen Branntwein mehr verkaufen will", sagte ihr Mann bewegt.
Da faltete sie ihre Hände und weinte vor Dankbarkeit und Freude.
"Jetzt ist Hoffnung für uns", sagte Lenz und umarmte seine Frau.
"O Paul, darf ich's glauben?"
Der Mann, den der Vorfall in der Schenke ernüchtert hatte, erzählte ihr nun den Hergang und beteuerte zum Schluss: "Zweifle nicht daran, meine Liebe, die Einfalt unsres Kindes hat über das Laster in mir und über Böttchers Gewinnsucht für immer gesiegt. Ich bin gerettet. Gott sei Dank!"
Ein Jahr später betrat jener Fremde, der an dem bedeutsamen Abend mit Lenz zusammen in dem Gasthaus war, wieder die Schenke. Außer dem Wirt befanden sich noch viele Gäste darin. Wie vor einem Jahr bestellte der Mann etwas zu essen und ein Glas Wasser. Erst daran erkannte ihn Böttcher wieder, liess sich's aber nicht anmerken. Der Fremde tat auch nicht so, als ob er hier schon bekannt wäre. Er blieb aber den ganzen Abend in der Gaststube und blickte bei jedem eintretenden Gast von seinen Zeitungen auf, wie er auch vorher alle Anwesenden genau gemustert hatte. Lenz war nicht unter ihnen.
"Was ist aus dem Manne und dem Kind geworden, die ich bei meinem letzten Besuch hier kennen lernte?", fragte der Fremde den Wirt, als er seine Rechnung beglich.
"Zum Teufel, was schert's mich!", gab der Wirt grob zur Antwort.
Einer der anwesenden Gäste, der vor einem Jahr auch Augenzeuge jenes Vorfalles gewesen war, hatte sich seit der Ankunft des Fremden an diesem Abend schon immer im Stillen gefragt, ob er nicht derselbe Herr wäre, der damals den Lenz und seine Tochter so tapfer verteidigt hatte. Als der Fremde den Wirt fragte, lauschte er gespannt. Nun blieb ihm kein Zweifel mehr. Er setzte sich zu dem Fremden und gab gern Auskunft über die Familie Lenz.
"Unweit von hier, da, wo es nach dem Gehölz geht, kommen Sie an einem hübschen, weißen Häuschen vorbei; einige Birken stehen im Vorgarten. Dort wohnt jetzt Familie Lenz. Wenn Lenz weiter nüchtern und strebsam bleibt, wird ihm das Häuschen in einigen Jahren gehören."
"Das muss ich mir auch einmal ansehen. Hat Herr Lenz seit jener Zeit doch wieder einmal versucht, hier Branntwein zu bekommen?"
"Zweimal, soviel ich weiß."
"Und der Wirt verweigerte es ihm?"
"Ja, jene Geschichte war Böttcher doch recht unangenehm. Um seinen Ruf unter den Stammgästen zu retten, hat er sein Wort gehalten. Er war aber über Lenz furchtbar erbost. Als dieser das zweitemal wiederkam, soll er ihm sogar mit der Peitsche gedroht haben. Doch das gereichte Lenz nur zum Guten; denn es schreckte ihn für immer von hier fort. So hat kindliche Einfalt einen Menschen gerettet!"
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