Was ist überhaupt Gottes Wille?
Drei wahre Geschichten sollen uns klar machen, wie wichtig es ist, dass wir unsere unangebrachten und unreifen Vorstellungen über Gott loswerden und darüber, wie er seinen Willen in der Welt zur Durchführung bringt.
Ein junges Paar hatte sein Baby kurz vor Mitternacht in die Klinik gebracht. Nachbarn hatten mich früh um drei Uhr angerufen, und ich war zur Stelle und wartete auf das Paar, als es vom Krankenhaus nach Hause kam. Die junge Mutter rang die Hände und weinte herzzerbrechend, weil ihr Baby gestorben war. Sie schluchzte laut und sagte dann: "Ganz sicher ist das Gottes Wille... Wenn aber der Facharzt nur rechtzeitig dorthin gekommen wäre, hätte er es retten können." Erkennen wir diesen verworrenen Angstzustand recht? Sollte das etwa heißen, wenn der Arzt rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre, hätte er den Willen Gottes austricksen und umgehen können?
1973 ging eine tragische Geschichte durch alle Zeitungen. Ein Ehepaar, das es sicher gut meinte, hörte einen herumreisenden Heiligungsevangelisten predigen, man dürfe keine Medizin nehmen. Die Leute gingen heim und nahmen ihrem zuckerkranken, vierzehnjährigen Sohn das Insulin weg. Nach wenigen Stunden lag der Junge im Koma, und nach wenigen Tagen war er tot. Dann warteten sie drei Tage und meinten, Gott würde den Jungen schon wieder erwecken. Schließlich wurden sie von der Behörde dazu gezwungen, das Kind zu beerdigen. Heißt das, Gott will, dass wir Insulin nehmen, wenn wir zuckerkrank sind, oder will er das nicht? Heißt das, dass Gott Heilung auf dieser Erde nur durch ein direktes Eingreifen geschehen lässt ohne alle Hilfsmittel?
Wenn Gott die in Unordnung gekommenen chemischen Abläufe in unserem Körper durch ein Heilmittel in Ordnung bringt und somit unser Leben rettet, wenn er mich durch eine Brille wieder gut sehen lässt, wenn er uns durch eine Herzoperation, durch das Einsetzen eines Herzschrittmachers oder eine Operation ein neues Leben schenkt, ist das alles dann Gottes Wille?
Vor ungefähr zehn Jahren hatte ein glänzend begabter Medizinstudent sein Studium beendet. Er heiratete eine feine, gläubige Christin, die auch Ärztin war, und sie machten schon Pläne, um aufs Missionsfeld zu gehen. Nur 6 Wochen nach ihrer Hochzeit fuhren sie zu Besuch zu den Eltern der Frau. Deren Mutter, die früher einmal Patientin in einer Nervenheilanstalt gewesen war, geriet wieder in geistige Verwirrung, zog plötzlich einen Revolver hervor und erschoss den jungen Ehemann. Ich habe tatsächlich Leute sagen hören, dass dies Gottes Wille gewesen sei. Wie in aller Welt kann man eine solche Ungeheuerlichkeit wohl als den Willen Gottes bezeichnen?
Ich meine, dass diese Verwirrungen dadurch entstehen, weil wir den Ausdruck "der Wille Gottes" so verwenden, dass mehrere Bedeutungsebenen in ihm beschlossen liegen. Es gibt mindestens drei solcher Ebenen: Der beabsichtigte, vollkommene Gotteswille; der den Umständen entsprechende Gotteswille im Sinne einer Zulassung; der endgültige Wille und die endgültige Absicht Gottes.
Der beabsichtigte Gotteswille ist der vollkommene Wille Gottes für unser persönliches Leben und für die Welt. Jesus hat das negativ folgendermaßen ausgedrückt: "Es ist nicht der Wille eures Vaters im Himmel, dass einer von diesen Kleinen zugrunde geht" (Matth. 18,14). Für das Ziel, das Gott mit unserem persönlichen Leben hat, setzt er seine ganze väterliche Güte ein.
Es gibt viele Tragödien, die weit von der tatsächlichen Absicht Gottes entfernt sind: Die verhungernden Kinder in Kambodscha; die Millionen von Menschen, die in Indien auf der Straße leben müssen; die Schrecken der KZs; die über 10.000 Menschen, die jedes Jahr auf Deutschlands Straßen ihr Leben lassen müssen; der Missbrauch an Kindern; Terror und, und, und. Die Liste ist endlos. Man mag diese Dinge böse nennen oder sie als die Frucht der menschlichen Sünde, Unwissenheit, Dummheit oder Selbstsucht bezeichnen. Man mag sie als die unentrinnbaren Folgen der Sünde im persönlichen und gesellschaftlichen Bereich ansehen, wir dürfen sie aber auf keinen Fall als den beabsichtigten, geplanten Gotteswillen bezeichnen, der nach der Schrift immer gut ist.
Der den Umständen entsprechende Wille Gottes im Sinne einer Zulassung ist es, der in unserer gefallenen Welt am Wirken ist. Paulus sagt: "Wir wissen, dass die ganze Schöpfung seufzt und sich immerdar sehnt" (Römer 8,22). Nicht nur wir als Menschen haben Unvollkommenheiten und Schwächen, sondern der grundsätzliche Mangel der Unvollkommenheit durchzieht die ganze Natur mit all ihren Katastrophen. Die Sünde ist so, dass sie in der geschaffenen Welt eine grundlegende Verwirrung und Unvollkommenheit geschaffen hat. Und eben wegen dieser Unausgewogenheit, wegen der menschlichen Dummheit und Sünde und weil der freie Wille des Menschen oft böse Verhältnisse schafft, gibt es einen den Umständen entsprechenden Willen Gottes im Sinne einer Zulassung.
Bestimmte Geschehnisse ereignen sich also innerhalb des Willens Gottes, der den Umständen entspricht, aber nicht unmittelbar, weil Gott sie so beabsichtigt oder weil er sie so haben will. Die wunderbare Zusicherung der Schrift ist, dass Gott es nicht zulässt, dass uns irgendetwas zustößt, dass aus sich heraus seine endgültigen Absichten zunichte macht oder seine Kinder besiegen kann. L. Weatherhead, dem ich diese Erkenntnis verdanke, sagt es so: "Nichts kann uns zustoßen, das Gott nicht zu unserem Besten gebrauchen könnte." Es gibt keine Umstände, die aus sich selbst heraus so todbringend sind, dass sie einen Christen vernichten oder dass sie Gott eine Niederlage zufügen könnten - nicht einmal der Tod selbst. Gott lässt sich durch keine wie auch immer geartete Verknüpfung von Umständen aus dem Feld schlagen.
Der endgültige Wille Gottes kann niemals zunichte gemacht werden. Weatherhead gebraucht folgendes sehr schöne Bild: Stellen Sie sich vor, ein paar Kinder spielen in einem kleinen Gebirgsbach. Sie leiten den Bach ab, indem sie kleine Dämme aus Schlamm und Steinen bauen, und sie lassen ihre Bootchen in den Pfützen und Lachen herumschwimmen. Aber der Bach fließt weiter hinab zum Fluss. Und nun stellen Sie sich Männer vor, die große Dämme errichten und den Lauf von Flüssen mit Seen und Schleusen verändern, indem sie ihren Lauf umleiten. Doch nicht einmal sie können es verhindern, dass die Ströme ins Meer fließen.
In unserem Leben kann so vieles - unsere Sünden und Fehler, die geschichtlichen Umstände, die Sünden anderer an uns - Gottes Pläne und Absichten zeitweise zurückdrängen. Selbst unter neuen Umständen, die aus Bosheiten, Krankheiten und Unfällen entstehen können, wird Gott andere Kanäle öffnen, durch die er seinen endgültigen Willen zur Ausführung bringt.
William Barclay, Professor für Bibelkunde an der Universität von Glasgow, war ein sehr fruchtbarer Schriftsteller. Barclays berühmte Kommentare zum Neuen Testament sind weltbekannt und in viele Sprachen übersetzt. Er schrieb Zeitungsartikel, gab Bücher heraus, erschien auf dem Bildschirm, arbeitete als Rektor einer Universität, nahm sich Zeit für seine Studenten und hörte ihnen zu. Wie hat er das alles bloß geschafft? Er hat das ganz anders geschafft, als es die meisten von uns je tun würden.
Als Barclay entdeckte, dass er taub wurde, sah er sich vor die Entscheidung gestellt: Sollte er sich im Selbstmitleid in sich selbst zurückziehen und seine Karriere beenden? Das wäre ein entsetzlicher Schlag für ihn gewesen. Wer wagt zu behaupten, dass Taubheit der beabsichtigte, vollkommene Gotteswille für William Barclay oder für sonst jemand sei? Barclay wusste, dass er im Willen Gottes eingeschlossen war - trotz dieser Umstände, die eine Zulassung Gottes beinhalten. Er klammerte sich mit aller Macht an die Verheißung aus Römer 8,28 und beschloss, dass er sich seine neue Welt, die für ihn aus einer fast völligen Stille bestand, so gut wie möglich zunutze machen wollte. Von allen anderen Lebensäußerungen abgeschnitten, ergab er sich in völliger Konzentration der inneren Stimme des Wortes Gottes. Und selbst, als ihm ein Hörgerät Hilfe verschaffte, schaltete er es oft ab, um in einer Welt des Schweigens leben zu können. Anstatt sich zu bemitleiden, hüllte er seine Taubheit in Römer 8,28 ein und benutzte sie dazu, den Plan zur Aus rührung zu bringen, den Gott mit seinem Leben hatte. - Möge Gott uns dazu verhelfen, dass wir hierüber ein echtes, biblisches Verständnis gewinnen! (David Seamands)
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