Was der Mensch sät, das wird er ernten
"Haben Sie die Rechnung überprüft, Richard?"
"Ja, Herr Schwalbe."
"Ist sie richtig?"
"Ich habe zwei Fehler gefunden."
"So? Lassen Sie mich sehen!"
Der Lehrling reichte seinem Chef eine lange Rechnung, die ihm zur Prüfung übergeben war.
"Hier ist ein Fehler von zehn Mark in der Ausrechnung, den die Firma Meyer zu ihrem Schaden gemacht hat. Weiter unten ist der andere, auch über zehn Mark."
"Ebenfalls zu ihrem Schaden?" - "Ja."
Kaufmann Schwalbe lächelte befriedigt, was den Jüngling befremdete. "Zwanzig Mark zu ihrem Schaden! Die müssen zuverlässige Buchhalter haben."
"Soll ich die Rechnung verbessern?", fragte der Lehrling.
"Nein, die sollen ihre Fehler gefälligst selbst finden! Wir sehen die Rechnung nicht zu anderer Leute Nutzen nach", erwiderte der Chef im Tone des Geschäftsmannes. "Wenn sie die Fehler gefunden haben, ist's noch immer Zeit genug, sie zu beseitigen. Es ist vorteilhafter für uns, wenn wir die Rechnung so lassen."
Auf den ehrlichen, rechtschaffenen Jüngling machte diese unerwartete Antwort einen tiefen Eindruck. Seine Mutter, eine arme Witwe, hatte ihn Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit als Mannespflicht gelehrt. Herr Schwalbe, der Kaufmann, bei dem er nun seit einigen Monaten lernte, war ein alter Freund seines Vaters und ein Mann, zu dem er das größte Vertrauen hatte. In ihm hatte er einen Mann mit vorbildlichem Charakter gesehen, und er hielt es für ein großes Vorrecht, in dessen flott gehendem Geschäft seine kaufmännische Ausbildung zu erhalten:
"Sie sollen ihre Fehler gefälligst selbst finden!" Diese Worte vertrugen sich nicht mit Richards ehrlichen Anschauungen und beunruhigten ihn dafür um so mehr. Aber Herr Schwalbe, der so hoch in seiner und seiner Mutter Achtung stand, konnte doch unmöglich unrecht handeln! Vielleicht war es im Geschäftsleben so üblich. Damit entschuldigte er den Entscheid seines Lehrherrn. Doch recht fand er ihn nicht.
Einige Tage später kam ein junger Mann von jener Firma und bat um Begleichung der Rechnung. Richard, der zugegen war, lauschte gespannt, ob Herr Schwalbe die Fehler erwähnen würde. Aber es fiel kein Wort darüber. Ein Wechsel über den Rechnungsbetrag wurde ausgestellt, und damit war die Anerkennung der Rechnung beiderseitig vollzogen.
"Ist das recht?", fragte sich Richard wiederholt. Sein Gewissen lehnte entschieden ab. "Selbst wenn es im Geschäftsleben so üblich sein sollte", sagte er sich voll innerer Enttäuschung, "von Herrn Schwalbe hätte ich so etwas nicht erwartet."
Der Kaufmann war stets freundlich zu dem jungen Mann, dessen Herz er gewann. Richard bemühte sich, all seine Arbeiten mit der größten Sorgfalt und Genauigkeit zu verrichten. "Ich wollte nur, er hätte den Fehler verbessert", sagte er häufig zu sich, wenn er daran dachte, welch ein Glück es sei, bei dem geachteten Herrn Schwalbe eine Lehrstelle gefunden zu haben. "Ich kann's nicht recht und ehrlich finden."
Eines Tages wurde Richard zur Bank geschickt, um einen Wechsel einzulösen. Als er das erhaltene Geld nachzählte, fand er, dass der Kassierer ihm einen Fünfzigmarkschein zuviel gegeben hatte. Er ging wieder zum Kassierer und machte ihn auf sein Versehen aufmerksam. Dieser dankte ihm freundlichst, und Richard ging seinen Weg in der Überzeugung, recht getan zu haben.
"Der Kassierer gab mir fünfzig Mark zuviel", sagte er, als er Herrn Schwalbe das Geld aushändigte.
"Wirklich?", fragte dieser mit leuchtenden Augen und zählte hastig die Banknoten nach. Als er jedoch die letzten niederlegte, verschwand die freudige Spannung aus seinem Gesicht, und man konnte seiner Stimme die Enttäuschung anmerken, als er sagte: "Das ist ja gar nicht zuviel."
"Ich habe ihm die fünfzig Mark zurückgegeben. War das nicht richtig?"
"Dummkopf!", rief Herr Schwalbe. "Wissen Sie denn nicht, dass Bankversehen niemals berichtigt werden? Wenn der Kassierer Ihnen fünfzig Mark zuwenig gegeben hätte, dann hätten Sie auch nichts nachgezahlt erhalten."
Das Blut stieg Richard bei diesem Vorwurf heiß zu Kopf. Er schämte sich mehr, als wenn er eines Vergehens beschuldigt worden wäre. In diesem Augenblick empfand der junge Mann etwas wie Verdruss über seine ehrliche Handlungsweise, die Herr Schwalbe eine Dummheit nannte. Er nahm sich vor, wenn ihm die Bank wieder einmal, und wären es tausend Mark, zuviel geben würde, das Geld seinem Lehrherrn zu bringen und sich nicht darum zu kümmern, was dieser damit anfinge.
"Die Leute sollen ihre Fehler gefälligst selbst finden!" Diese Worte Herrn Schwalbes klangen ihm wieder in den Ohren. "Wenn er es durchaus nicht anders will, so kann
ich auch danach handeln", sagte er sich. Aber er war doch nicht recht zufrieden darüber.
Einige Monate nach dieser Begebenheit fand Richard, dass Herr Schwalbe ihm fünf Mark Gehalt zuviel gegeben hatte. Augenblicklich wollte er sie zurückgeben. Schon wollte er sagen: "Sie haben mir fünf Mark zuviel gegeben", als die unvergessenen Worte: "Die Leute sollen ihre Fehler gefälligst selbst finden!", ihm in den Sinn kamen und ihn davon zurückhielten. "Ich denke", sagte sich Richard und steckte das Geld in die Tasche, "was in einem Fall recht ist, stimmt auch für den anderen. Herr Schwalbe verbessert nicht die Fehler, die andere zu seinen Gunsten machen. Dann darf er sich auch nicht wundern, wenn derselbe Grundsatz gegen ihn angewandt wird."
Doch der junge Mann konnte sich mit dem zu Unrecht behaltenen Geld durchaus nicht wohlfühlen. Er wusste, dass er unehrlich handelte, aber er konnte sich nicht entschließen, es zurückzugeben, zumal, nachdem er es nicht sogleich getan hatte. Er behielt die fünf Mark also und verwandte sie zu seinem eigenen Vergnügen. Doch auch dann ließen sie ihm noch immer keine Ruhe. Es quälte ihn der Gedanke, dass Herr Schwalbe ihn vielleicht nur habe versuchen wollen und nun seine wohl wollende Meinung über ihn geändert habe. Doch im Geschäft ging alles nach wie vor seinen gleichen Gang.
Nach einiger Zeit unterlief Herrn Schwalbe dasselbe Versehen. Richard nahm die fünf Mark mit wenig Bedenken. Im Gegenteil, sie waren ihm jetzt ganz willkommen. "Er soll gefälligst selbst aufpassen!", sagte er entschlossen. "So handelt er gegen andere Leute. Er kann sich nicht beklagen, wenn ihm mit derselben Münze zurückgezahlt wird, die er in Umlauf setzt."
Von dieser Zeit an fanden die Mahnungen seines Gewissens bei Versuchungen kein Gehör mehr. Er hatte einem bösen Geist den Zutritt zu seinem Herzen gestattet. Die Habsucht gewann immer mehr Einfluss auf ihn und lockte ihn, über seine Verhältnisse zu leben.
Richard war ein fähiger, junger Mann. Seine Kenntnisse, sein Fleiß und sein Taktgefühl halfen ihm in seinem Beruf rasch vorwärts. Noch ehe er dreiundzwanzig Jahre alt war, übertrug ihm Herr Schwalbe die verantwortungsvollste Stellung im Geschäft. Aber Richard hatte bei seinem Chef nicht nur gelernt, gute Geschäfte zu machen, sondern leider auch, unehrlich zu sein. Nachdem er es erst über sich brachte, sein strafendes Gewissen zu beschwichtigen, verschaffte er sich immer mehr Fertigkeit darin, sich die Fehler anderer Leute zunutze zu machen. In den verschiedensten Fällen wandte er diese Kunst an und meist zu Herrn Schwalbes Schaden. Ja, er ging sogar so weit, absichtlich Fehler zu seinen Gunsten zu machen. Geschickt und schlau verstand er es, diese Fälschungen zu verschleiern und zu verdecken. Bei dem Vertrauen, das er bei seinem Herrn genoss, und dem flotten Geschäftsgang ließen sich solche Unredlichkeiten Jahre hindurch fortsetzen.
Da ging bei dem Kaufmann ein Brief ein, der sein Misstrauen gegen Richard erweckte. In dem Schreiben wurde behauptet, dass Richard nicht für das Wohl des Geschäfts arbeite und in seinen persönlichen Ausgaben über seine Verhältnisse ginge. Kurz vorher hatte seine Mutter eine Wohnung bezogen, für die er jährlich 900 Mark Miete bezahlte. Sein Gehalt belief sich auf 3000 Mark im Jahr; seiner Mutter hatte er aber gesagt, dass es 5000 Mark betrüge. Er verschaffte ihr jede Bequemlichkeit, und sie sagte sich, dass ihr in ihrem Alter dieses Glück wohl zu gönnen wäre.
Als Herr Schwalbe den Brief las, blickte Richard von seinem Schreibtisch gerade zu ihm hinüber. Bestürzt bemerkte er in banger Ahnung, wie Herr Schwalbe plötzlich erbleichte und den Brief nochmals las. Richard sah, daß dessen Inhalt ihn tief beunruhigte. Als Herr Schwalbe aufschaute, begegneten sich ihre Blicke, zwar nur für eine Sekunde, aber dieser Blick fuhr Richard wie ein Schauer durch den Körper. Den ganzen Tag über herrschte eine gedrückte Stimmung im Kontor. Herr Schwalbe zeigte sich kühl und war in seinen Bemerkungen kurz. Richard wusste, dass durch den Brief Mißtrauen in Herrn Schwalbe gegen ihn, seinen ersten Angestellten, erweckt worden war. Bitter bereute er nun aus Furcht vor Entdeckung und Strafe seine Fehltritte.
"Dir ist heute abend nicht wohl", sagte Richards Mutter bei Tisch, als sie bemerkte, wie bekümmert und niedergedrückt ihr Sohn dasaß.
"Ich habe Kopfschmerzen."
"Vielleicht tut dir ein wenig Ruhe gut."
"Ich werde mich im anderen Zimmer aufs Sofa legen."
Frau Lange folgte ihm nach einer kleinen Weile, setzte sich zu ihm und legte ihre Hand auf seine Stirn. Ach, dazu gehörte mehr als der liebevolle Druck der Mutterhand, ihn von der Qual zu befreien, an der er litt! Die Berührung dieser reinen Hand steigerte seine Schmerzen immer mehr zu unerträglicher Pein.
"Fühlst du dich jetzt besser?" fragte Frau Lange, nachdem sie seine Stirn eine Zeitlang gekühlt hatte.
"Nicht viel", erwiderte er und fügte hinzu: "Ich glaube, ein Spaziergang in der frischen Luft wird mir gut tun."
"Gehe nicht aus", bat Frau Lange. Eine plötzliche Unruhe erfasste ihr Herz.
"Ich will nur eine kleine Runde machen, Mutter." Er verließ das Zimmer, nahm Stock und Hut und ging aus dem Hause.
"Das ist mehr als Kopfweh, was ihn quält", dachte Frau Lange bekümmert.
Wohl eine halbe Stunde lief Richard ziellos hin und her. Er konnte in seiner seelischen Verfassung nicht in der Gegenwart seiner Mutter bleiben. Zuletzt führte ihn sein Weg in die Nähe seiner Arbeitsstätte. Er war erstaunt, als er noch Licht in Herrn Schwalbes Kontor erblickte.
"Was mag da vor sich gehen?", sprach er zu sich. Neuer Schrecken packte ihn. Er trat näher und lauschte an den Fenstern, konnte aber keinen Laut vernehmen. "Was wird dein Ende sein, wenn du jetzt entdeckt bist?", klagten ihn neberhaft seine Gedanken an. "Fluch und Schande . . . o arme Mutter!"
Der unglückliche junge Mann stürzte fort. Von quälendem Schuldgefühl und peinigenden Selbstanklagen bestürmt, irrte er noch zwei Stunden umher und kam dann müde, aber noch unruhiger nach Hause. Seine Mutter empfing ihn an der Tür und fragte besorgt, ob es ihm besser ginge. Er bejahte es, aber in einem Tone, aus dem man seinen Kummer heraushörte. Dann ging er hastig in sein Zimmer. Als er am anderen Morgen zum Frühstück kam, steigerte sein seltsam gealtertes Aussehen nur noch die Unruhe seiner Mutter. Er war still und überhörte alle Fragen. Auf einmal ertönte schrill die Klingel. Richard schreckte zusammen. Dann lauschte er in höchster Spannung.
"Wer ist es ?", fragte Frau Lange das eintretende Mädchen. "Ein Herr, der Herrn Lange zu sprechen wünscht." Richard stand sogleich auf und ging hinaus, die Tür hinter sich schließend. Frau Lange blieb am Tisch sitzen und erwartete unruhig seine Rückkehr. Nach einigen Augenblicken kamen seine Schritte näher, aber er trat nicht ins Esszimmer, sondern ging wieder durch den Korridor, und sie hörte ihn fortgehen. Darauf war alles still. Schnell stand sie auf und eilte hinaus. Ohne sich zu verabschieden, war Richard mit dem Herrn weggegangen. Sie konnte ihnen nur noch nachblicken. Nie wieder sollte ihr Sohn in sein schönes Haus zurückkehren. -
Herr Schwalbe hatte die ganze Nacht dazu verwandt, Richards Bücher nachzuprüfen, und entdeckte Unterschlagungen von über 20000 Mark. Wütend vor Entrüstung ließ er Richard am anderen Morgen verhaften. "Der junge Schurke soll auslöffeln, was er sich eingebrockt hat. Ihn soll's nicht ein zweites Mal nach solchen Betrügereien gelüsten", wetterte Herr Schwalbe vor Zorn und leitete das Strafverfahren gegen Richard ein.
Bei den Gerichtsverhandlungen erbrachte Herr Schwalbe eine Menge belastenden Beweismaterials für seine schweren Anklagen. In leidenschaftlicher Erregtheit wies er immer wieder darauf hin, wie schwer er durch die Hintergehungen dieses jungen Mannes in seinem Geschäft geschädigt worden sei. Richard musste all diese Anschuldigungen über sich ergehen lassen. Sie entsprachen den Tatsachen. Er musste sie zugeben. Der armen Mutter, die unter den Zuhörern saß, brach fast das Herz. Der Richter wandte sich vor dem Urteilsspruch an den Angeklagten mit der Frage, ob er etwas zu seiner Verteidigung zu sagen habe. Aller Augen richteten sich auf den bleichen, jungen Mann, der sich mit Anstrengung von seinem Sitz erhob.
Richard schaute seinen Ankläger, der ihm gegenübersaß, mit tieftrauriger Miene an, dann wandte er sich zu den Geschworenen. Mit ruhiger, klarer Stimme sprach er:
"Was ich auf diese schweren Anschuldigungen zu erwidern habe, mag meine Verfehlungen etwas mildern, obgleich sie nicht zu entschuldigen sind. Ich kam in das Geschäft dieses Mannes als ein unschuldiger, rechtschaffener Jüngling. Wenn er ein ehrlicher Mann gewesen wäre, stände ich heute nicht als Betrüger vor Gericht."
Herr Schwalbe wandte sich entrüstet an den Richter, um Einspruch gegen "solch eine beleidigende Behauptung" zu erheben; aber es wurde ihm Schweigen geboten. Richard fuhr mit fester Stimme fort: "Einige Monate, nachdem ich in sein Geschäft eingetreten war, prüfte ich in seinem Auftrag eine Rechnung und entdeckte einen Fehler über zwanzig Mark."
Herr Schwalbe errötete.
"Ich sehe, Sie erinnern sich", fuhr Richard fort. "Ich habe Ursache, daran zu denken, solange ich lebe. Der Fehler war zu Herrn Schwalbes Gunsten. Ich fragte, ob ich die Rechnung verbessern sollte, und erhielt zur Antwort:
,Nein, sie sollen ihre Fehler gefälligst selbst finden. Wir sehen die Rechnungen nicht für anderer Leute Nutzen nach.' Das war die erste Lektion der Unehrlichkeit, die ich erhielt. Ich sah, wie die Rechnung bezahlt wurde. Herr Schwalbe nahm die zwanzig Mark an, die ihm nicht gehörten. Ich war zuerst bestürzt, da ich eine solche Handlungsweise unrecht fand. Bald danach nannte mich Herr Schwalbe einen Dummkopf, weil ich dem Kassierer einer Bank einen Fünfzigmarkschein zurückgab, den dieser mir auf einen Wechsel zuviel ausgehändigt hatte, und dann -"
"Darf ich um den Schutz des Gerichts bitten?", unterbrach Herr Schwalbe.
"Ist es wahr, was der junge Mann eben über Sie ausgesagt hat?", fragte der Richter.
Herr Schwalbe geriet in Verlegenheit und wusste nichts zu antworten. Aller Augen waren jetzt auf ihn gerichtet, und Richter, Geschworene und Zuhörer fühlten, dass er an den Veruntreuungen des unglücklichen jungen Mannes selbst schuld war.
Der Richter bedeutete Richard weiterzusprechen.
"Nicht lange nachher", fuhr Richard fort, "gab mir Herr Schwalbe bei der Gehaltszahlung fünf Mark zuviel. Ich war im Begriff, sie ihm zurückzugeben, als mir seine Bemerkung: ,Die Leute sollen ihre Fehler gefälligst selbst finden' einfiel und mich davon zurückhielt, indem ich mir sagte: ,Soll er auch selbst besser aufpassen!' Das war der Anfang zum Bösen, und nun bin ich hier."
Der junge Mann bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und setzte sich, von seinen Gefühlen überwältigt, nieder. Seine Mutter, die sich zu ihm gedrängt hatte, schluchzte laut, während sie ihren Arm um seine Schultern legte:
"Mein armer, armer Sohn!"
Wenige Augen in dem Gerichtssaal waren trocken geblieben. In der nun eingetretenen Stille wandte sich Herr Schwalbe zu seiner Rechtfertigung mit lauter Stimme an den Richter: "Sollen die Aussagen eines Verbrechers meine Ehre vernichten können?"
"Ihr feierlicher Schwur, dass diese Beschuldigungen unwahr sind, kann sie wiederherstellen", erwiderte der Richter. "Der Angeklagte hatte das Recht, zu seiner Verteidigung zu sprechen."
Richard Lange erhob sich rasch, und mit feierlichem Ernst rief er seinem Ankläger zu: "Schwören Sie, wenn Sie es wagen!"
Herr Schwalbe sprach mit seinem Rechtsanwalt. Darauf zog er sich zurück.
Nach einer kurzen Beratung des Gerichts verkündete der Richter das Urteil und setzte dann gütig hinzu: "In Anbetracht Ihrer Jugend und der ungünstigen Beeinflussungen, denen Sie in früheren Jahren ausgesetzt waren, hat der Gerichtshof mildernde Umstände anerkannt und Ihre Strafe auf ein Jahr Gefängnis festgesetzt. Aber lassen Sie sich dies eine Warnung sein, auf dem verbotenen Weg weiterzugehen. Für ein Verbrechen gibt's keine Entschuldigung. Es ist Unrecht vor Gott und den Menschen. Wenn Sie nach Verbüßung Ihrer verhältnismäßig milden Strafe wieder die Freiheit erlangen, möge es mit dem Entschlusse sein, lieber zu sterben, als ein Unrecht zu begehen."
Der junge Mann wurde zur Verbüßung seiner Strafe abgeführt. Ein letztes Mal blickte er wehmütig zu seiner Mutter. Er sah sie nie wieder. -
Zehn Jahre später las in einer entfernten Stadt ein stattlicher Mann in der freundlichen Wohnung an seinem kleinen, aber gut gehenden Ladengeschäft die neuesten Zeitungen. Trotz der lebhaften Augen sah man ihm an, dass er Kummer und Leid kennen gelernt hatte.
"Schließlich doch der Gerechtigkeit verfallen", sagte er zu sich, während ihm das Blut ins Gesicht stieg. "Des betrügerischen Bankerotts überführt und zu mehrjähriger Gefängnisstrafe verurteilt. Das ist das Ende des Mannes, der mir in früher Jugend die erste Lektion in der Unehrlichkeit erteilte, des Kaufmanns Schwalbe.
Aber Gott sei Dank, die andere Lehre, die mir jene traurige Erfahrung brachte, habe ich auch behalten. ,Wenn Sie wieder freikommen', hatte der Richter gesagt, ,möge es mit dem Entschlusse sein, lieber zu sterben, als ein Unrecht zu begehen.' Mit Gottes Hilfe will ich danach handeln, solange ich lebe."
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